Adelheid Duvanel – grosse Autorin kleiner Formen

Ein Gespräch über Adelheid Duvanel mit den beiden Autorinnen Patricia Büttiker und Friederike Kretzen und dem Literaturkritiker Samuel Moser

Vor 25 Jahren ist Adelheid Duvanel gestorben. In dieser Woche ist eine schöne Ausgabe ihres Werkes im Limmatverlag erschienen. Eine Anthologie zu Duvanels Schreiben wird im Herbst 2021 erscheinen.

Die Kurzprosa von Adelheid Duvanel ist durch ihren Ton meist schnell zu erkennen, er irritiert, fordert heraus, saugt ein, befremdet. Ihre Figuren kämpfen, schleichen durch eine wilde Welt, stürzen ab in Träume und Missverständnisse. Bei aller Tragik und Hoffnungslosigkeit behalten die Figuren etwas Widerständiges, und immer scheint der Humor durch.

In einem Brief von 1979 schreibt Duvanel über ihr Schreiben: «Jedes Wort, das ich schreibe, ist ein Zeichen, das ich mühsam in mir suche und aus mir heraushole. … Nur wenn ich mich ihnen zum Frass vorwerfe, wächst meine Welt.»

Duvanel war nie ganz vergessen. Zeichen dafür sind die immer erneut erschienen kleinen Bücher mit ihren Erzählungen, dazu auch ihre vielen Zeichnungen, die im Schweizerischen Literaturarchiv liegen. Übersetzt wurde sie ebenfalls in verschiedene europäische Sprachen.

Die Autorinnen und der Kritiker haben je einen Text ausgesucht, der vorgelesen und kurz besprochen wurde.

Patrizia Büttiker: «Ein Fremder»

P.B.: Diesen Texte muss ich mehrmals lesen, um sie zu verstehen, es bleiben jedoch immer wieder Fragen offen. Was passiert da überhaupt: die Laubflecken auf dem Gesicht, sperrige Wörter, über die man beim Lesen stolpert. Der ganze Text ist ein Augenblick, der da beschrieben wird, der sich über die Ränder hinaus ausbreitet.

S.M.: Ich finde, es ist eine fast klassische Erzählung mit Einleitung, Rückblende, Vorwegnahme, mit einem Exkurs, offener Schluss. Dies jedoch nur auf den ersten Blick. Schwierig an dieser Geschichte ist, dass man nicht weiss, WARUM dies alles passiert: Warum wird der Fremde erwähnt, darauf geht die Autorin nicht weiter ein. Es wird nicht erklärt, das habe ich in anderen Erzählungen auch festgestellt.

F.K.: Es gibt bemerkenswerte Details in diesem Text, z.B. wie eine Figur schneidet, wie ein Vogel, die Erwähnung der kleinen Hand. Man kann vieles nicht entziffern. So auch Wendungen wie «die Menge der Haare ist wie ein stürzender Berg». Das offene Ende ist zwar vorbereitet, jedoch lässt es die Lesenden allein. Diese sind drinnen und gleichzeitig draussen – ein Merkmal, das bei Duvanel häufig vorkommt.

P.B.: Ebenso ist Fremdheit ein Thema, oder Minderheiten und wie sich die Personen nehmen gegenseitig wahrnehmen.

S.M.: Die Personen bleiben allein, die Katze ist am wenigsten fremd in der Geschichte.

Samuel Moser: «Verfolgung»

S.M.: Der Text zeigt, wie Duvanels Texte sich bewegen, immer nach vorne, wir kommen als LeserInnen eigentlich immer ein bisschen zu spät. Selbst die Autorin beherrscht die Situation nicht: Die Figuren machen, was sie wollen. Auch wenn der Titel «Verfolgung» heisst, kommt man nicht vorwärts, sondern kommt immer wieder auf etwas zurück. Als Leserin möchte man deuten, aber es gelingt nicht. Verschiedene Zeichen gehören zum Thema Verfolgen, aber wir können es nicht entschlüsseln. Wir wissen nicht: Ist Nonato ihr Verfolger, ihr Jäger oder gar der Verfolgte?

Duvanel braucht immer bedeutungsvolle Namen, hier Nonato: dies ist eher ein Familienname, ein vielschichtiger Name, den man nicht einordnen kann in eine Bedeutung.

Wenn man den Text nicht entschlüsseln kann, so kann man versuchen zu untersuchen, wie der Text aufgebaut ist: Tempi, Übergänge, Farben, Gerüche, eine Duftlinie gibt es in diesem Text. Man kann Fragen entwickeln, aber man sollte den Text nicht erpressen.

F.K.: Duvanel jagt eigentlich ihrem eigenen Raum hinterher: Es geht immer weiter, verfolgend, verfolgt werden, alles sehr schnell, unglaubliche Präsenzen werden dadurch geschaffen. Es passt keine Deutung rein, alles geht vorwärts. Zwischen diesen Schritten liegt ein Nichts, ein Abgrund, der nicht gefüllt werden kann.

Dieser Text trägt die Dynamik: Wer verfolgt wen? Und ist das nicht auch der Zustand der Leserin oder des Lesers? Sie müssen sich selbst immer wieder fragen: wer verfolgt wen?

P.B.: Mir sind in diesem Text die wunderbare Schönheit der Sätze aufgefallen, die stechen hervor. Zugleich gibt es Passagen, die ich nicht verstanden habe. So konnte ich mir gewisse Bewegungsläufe nicht vorstellen. An anderen Stellen Präzision, die man nicht versteht.

S.M.: Mut zum Ungleichgewicht gehört zu den Texten von Duvanel. Ich frage mich auch jeweils, wo das Zentrum des Textes ist, ob es mehrere Zentren gibt, und frage mich häufig, wessen Geschichte man eigentlich gelesen hat.

Friedericke Kretzen: «Das Brillenmuseum»

F.K.: Ich musste eigentlich die ganze Zeit lachen, denn es gibt in diesem Text unglaublich komische Stellen, z.B. wenn man an das Elternhaus schreibt: Vorsicht. Olga schreibt über ihr Schreiben, schreibt aber gleichzeitig nicht über ihr Schreiben, sie schreibt nur, was sie schreiben möchte. Eigentlich reiht sie Geschichten aneinander, tiefgründig, dazu gut deutbar. Verwirrend ist das Sehen und Gesehen werden. Der Text macht sichtbar, dass wir sichtbar sind. Es ist der Blick von der anderen Seite. Olga schaut von den Patienten auf die Psychiater. Es ist ein unerbittlicher Blick auf Psychiater, von dem sie nicht abweichen will. Unerbittlicher Blick – hier ein Beispiel: dass Kirchen und Militär für sich werben dafür, dass man an sie glaubt. Das können aber weder Frauen, noch Kinder noch Patienten.

S.M.: Man kann den Text leicht als eine satirische Kritk auf die damalige Psychiatrie entziffern, im Hintergrund spielen die Jugendunruhen der 80iger Jahre. Dadurch ragt der Text aus dem Werk von Duvanel hervor.

F.K.: Hier kommt auch der Kampf gegen den Vater ins Spiel: Der Vater als Symbol des autoritären Systems, der Ordnung allgemein. Olga eröffnet ein Brillenmuseum, um dort eine Brille für den Vater zu machen, damit er einen anderen Blick bekommt – ein Wunsch von ihr. Aber am Ende schreibt sie ihm nur.

S.M.: Am Schluss wird viel vermischt. Wo steht Olga in der Zeit? Ihre Zugehörigkeit bleibt offen. Olga und die Autorin sind nicht gleichzusetzen. Verschachtelung der Räume, verschiedene Wirklichkeitsebenen sind in diesem Text sehr wichtig, sie verweisen auf die Klinik, die eigentlich überall ist. Auch fragt man sich jeweils: Wo ist eigentlich Olga?

P.B.: Es ist auffallend, dass in den Texten von Duvanel immer wieder Fenster und Brillen vorkommen. Es passiert etwas vor oder hinter dem Fenster. Räume verschwinden, haben andere Dimensionen. Subjekt und Objekt können vertauscht werden, Blick des Fremden …

Brüche, verschiedene Ebenen im Text, das verwirrt die Leserin immer wieder. Wo hört der Traum auf – hört er überhaupt auf? Der Leser verliert Olga im Laufe der Geschichte.

Schlussfrage: Was wünschen Sie der Literatur von Duvanel?

P.B.: Man soll sich auf die Texte von Duvanel einlassen, einer Welt der versehrten Figuren.

S.M.: Diese Texte sollen immer wieder erscheinen, auch als Einzeltext. Ich hoffe, dass die Auseinandersetzung mit dem Werk mit der Veröffentlichung der Gesamtausgabe erst richtig anfängt. Die Texte brauchen viel Zeit, man sollte sie einzeln lesen.

F.K.: Man könnte sie als Kassiber brauchen, die immer im Umlauf sein sollten. Sie sollten unbedingt zur Schullektüre gemacht werden.

Kreativität auf Knopfdruck

Drei Autor*innen, drei Stichwörter, eine Dreiviertelstunde Zeit und drei Vorträge, bei denen man das kreative Denken schon fast hören konnte.

Beim Instantdichten hatten Judith Keller, Josefine Berkholz und Lukas Maisel die Aufgabe, mit drei Wörtern eine Geschichte zu schreiben. Diese Wörter – bebrillt, Habitus und Fischmaul – konnte das Publikum vorher per Chat und vor Ort beisteuern. Als die Stunde der Wahrheit sich näherte und Maisel gefragt wurde, wie die Vorbereitungszeit war, bekannte er: «Ganz, ganz schlimm!» Kreatives Schreiben auf Knopfdruck funktioniert nicht immer. Nach dem Toilettengang hatte aber auch er eine Idee und trug seine Geschichte vor, die von einer überfürsorglichen Freundin handelt.

Die zweite Autorin, Judith Keller, las ihre «Sonntagmorgen-Geschichte» vor, wie sie sie nannte. In ihrem Text spaziert ein Habitus durch die Zürcher Strassen. Ganz anders bastelte Josefine Berkholz ihre Geschichte um die drei Wörter herum: Da sitzt einer einfach und bietet eine Bildfläche, auf die man Allerlei projizieren kann. Ihre Vortragskunst war beeindruckend.

Der Anlass und die drei völlig verschiedenartigen Texte führen einmal mehr vor, wie schöpferisch die Vorstellungskraft ist und auf wie viele Weisen man eine Erzählung generieren kann. Und auch, dass es verschiedene Autoren braucht, die ihre Versionen zu Papier bringen.

Ein Mosaik aus Erzählungen

Martina Clavadetscher spricht mit Manfred Papst über ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams

Der Auslöser für den Roman von Martina Clavadetscher war die Fotoserie von Aleksandar Plavevski. Er fotografierte die Arbeiter*innen in einer Sexpuppenfabrik in China. Clavadetscher war so fasziniert von den Bildern, die aufgehängte Puppen zeigten, dass sie den ersten Teil ihres Buches schrieb. Den Teil von Ling, der Sexpuppenfabrikantin. Schnell war Clavadetscher klar, dass sie Ling nicht alleine stehen lassen will, sie wollte die Geschichte verbinden.

Neben Ling erzählt Die Erfindung des Ungehorsams auch die Geschichten zweier anderer ungewöhnlicher Frauen. Iris lebt in einem Penthouse in Manhattan und verbringt ihre Zeit gerne bei Dinnerpartys. Immer wieder denkt sie sich neue Geschichten für ihre Gäste aus und erzählt eines Abends von ihrer Halbschwester Ling. Und schliesslich gibt es noch Ada, ein mathematisches Genie, die sich im England des 19. Jahrhunderts ihrer Mutter widersetzt und ihren Träumen nachgeht. Lange bevor der erste Computer entstand, hat sie deren Idee vorweggenommen, indem sie zusammen mit Charles Babbage eine Maschine entwickelte, die zu komplizierten Rechnungen fähig war.

Ada, Ada Lovelace, eine historische Figur, lässt Martina Clavadetscher nicht mehr los. Sie hat bereits 2019 ein Theaterstück namens Frau Ada denkt Unerhörtes geschrieben. Irgendwann war ihr klar, dass Ada auch im neuen Roman eine zentrale Rolle spielen soll. Ihren Protagonistinnen ist als Frauen vieles vergönnt und sie widersetzen sich der Männerwelt. Deshalb verwundert es wenig, dass Manfred Papst fragt: Haben sie einen feministischen Roman geschrieben? Auch Clavadetscher hat diese Frage erwartet und lacht. Trotzdem beantwortet sie die Frage nur zögerlich mit einem Ja. Es sollte doch eigentlich normal sein, dass ein Roman von drei starken Frauen handelt. Wieso muss dann gleich ein Etikett aufgeklebt werden? Wie Recht sie doch hat!

Die Erfindung des Ungehorsams wird als Roman katalogisiert, dies ist jedoch ein weiter und offener Begriff, wie Manfred Papst anmerkt. Und dies zeigt sich im Text, erinnert er doch teilweise an ein Drama oder an Lyrik. Martina Clavadetscher gibt zu, dass sie oft in eine hybride Form hineinfällt. Wahrscheinlich komme dies daher, dass sie ihre ersten Fassungen mit der Hand schreibe und dabei einen schnellen und engen Schreibstil habe. Wenn sie zu tippen beginne, geschehe etwas Lyrisches. Die Form nutze sie aber auch, um den Inhalt zu bearbeiten. Sie kann beispielsweise den Lesefluss der Leser*in beeinflussen oder Bilder verstärken.

Nicht nur die hybride Form fällt auf, sondern auch der Stellenwert des Erzählens. Im Roman wird mit jeder Erzählung eine weitere Tür aufgetreten, ein neuer Raum aufgestossen, eine neue Welt aufgeploppt. Alle Figuren wollen wissen, woher sie kommen. Nach Clavadetscher ist unsere Vergangenheit ein Mosaik aus Erzählungen. Kleine Dinge machen mein Ich im Hier und Jetzt aus. Doch Erinnerungen können sich verändern, sie sind fluid und bleiben nicht stehen.

Um ganz frei mit den Worten von Manfred Papst zu enden: Wir hoffen, du erzählst uns weiter deine Geschichten.
Geschichten von starken Frauen, von Utopien, von Ada Lovelace.

Zora del Buono – Lesung und Gespräch mit Manfred Papst

Simone von der Geest und Regula Weber im Gespräch zur Lesung

Simone von der Geest
Gestern im Gespräch mit Regula Rytz hat Zora del Buono gesagt, dass sie Menschen möge. Ich finde, dass diese positive Einstellung und diese Neugier, andere Menschen zu verstehen, «Die Marschallin» durchdringt. Zora del Buono, die Hauptfigur in «Die Marschallin» ist nicht nur positiv gezeichnet, sie wird auch als unzufriedene Mutter, als eifersüchtige Geliebte dargestellt, und dennoch geht man als Leser*in eine besondere – vor allem auch verstehende – Beziehung mit ihr ein. Empfindest du das auch so? 

Regula Weber
Ja. Ich verstehe es genau so, wobei die Liebe und die positive Einstellung sich ganz besonders auch in der Art und Weise manifestiert, wie sie ihre Figuren zeichnet – gerade, wenn es darum geht, Schwächen oder Schwierigkeiten darzustellen, also das ganze Spektrum menschlichen Daseins auszuleuchten.

Simone von der Geest
Ich finde auch, dass das nicht nur auf die Hauptfiguren zutrifft, sondern auch auf jene vielen kleinen Nebenrollen, wie beispielsweise Cinzia la capricciosa auf San Domino. Zahnlos, rauchend, heruntergekommen – und dennoch begegnet man der Figur wohlwollend und nimmt sie als Persönlichkeit wahr. Vielleicht hat dies auch viel damit zu tun, wie Zora del Buonos Geschichten entstehen. Sie vergleicht das Buchschreiben mit einem Architekturprojekt – ist das für dich nachvollziehbar?

Regula Weber
Das scheint ein ganz wichtiger Punkt in ihrem Schreiben zu sein. Sie hat den Prozess verglichen mit einem Hausbau: Erst entsteht die Stahlbaukonstruktion, die dann nach und nach gefüllt wird. Ich finde das Bild sehr stimmig. Zora del Buono weist ja auch darauf hin, dass ihr räumliches Denken sie beim Schreiben unterstützt.

Simonen von der Geest
Deswegen verirrt man sich als Lesende wohl auch nicht in ihren Geschichten, was angesichts der vielen Schauplätze in ihrem Roman durchaus gegeben wäre. Tatsächlich scheint sie sich viel Zeit für die Entstehung eines Romans zu nehmen. Sie forscht in Archiven, besucht die Orte und spricht mit Menschen und blickt kritisch in ihre eigene Lebensgeschichte zurück. Ihre Aussage, dass Geschichten eine Inkubationszeit brauchen, finde ich in diesem Zusammenhang sehr interessant, gerade auch angesichts vieler sehr junger Autorinnen. Was meinst du dazu? 

Regula Weber
Das ist ein Aspekt, den man durchaus im Zusammenhang mit Silvio Huonders Frage «Kann jemand schreiben, bevor er gelebt hat?» sehen kann. Aber da spielt wohl nicht in erster Linie das Lebensalter eine Rolle, sondern die Frage, wie es gelingt, einen Stoff zu entwickeln. Ganz spannend finde ich in diesem Zusammenhang auch Zora del Buonos Selbsteinschätzung, wenn sie sich als Fabuliererin bezeichnet, die zwar auch journalistisch tätig ist, sich aber wohler im literarischen Schreiben fühlt. 

Simone von der Geest
Ja, zumal sie beide Formen des Schreibens kennt und nach wie vor auch journalistische Beiträge verfasst. Dabei wird wiederum deutlich, wie Ideen zu Romanen aus journalistischem Interesse an einem Thema heraus entstehen. Manfred Papst hat zum Ende der Lesung bemerkt, dass man das Buch auf zweierlei Weise lesen kann: naiv oder reflektiert. Wie hast du das Buch gelesen, naiv oder reflektiert?

Regula Weber
Ganz bestimmt auf beide Arten! Das Leben ihrer Grossmutter, das exemplarisch beinahe das ganze 20. Jahrhundert beleuchtet, hat mich vor allem in Bezug auf den historischen Kontext fasziniert ebenso wie die Souveränität, mit der Zora del Buono die unzähligen Episoden erzählerisch verknüpft. Aber ganz besonders hat mich das Erzählen selbst in diesem Text nicht mehr losgelassen. Es ist geprägt von einer hohen Präzision, die sich mit einem tiefgründigen Humor verbindet, der niemanden blossstellt, sondern die Leben der Menschen in allen Facetten überzeugend darzustellen vermag.

Von Männlichkeit und Klischees

Während die Teilnehmer*innen eintrudeln, erklärt Moderator Donat Blum die Spielregeln, wer sich in der Zoomsitzung wie und wann melden soll, um die eigenen Gedanken einzubringen. Nebenbei begrüsst er das Publikum. Ich bin bei der Textwerkstatt Skriptor Prosa, wo ein unveröffentlichter Text von Lukas Linder im Kreise anderer Autor*innen besprochen wird. Dazu gehören Annina Haab, Lukas Maisel, Ilia Vasella und Katja Brunner. Aufgeregt liest der Autor Lukas Linder seinen Text vor. Dieser ist voller Schwung. Ein Mann kehrt nach 25 Jahren zurück in seine Heimat, was er dort genau will, bleibt jedoch offen. Klar wird, dass dieser Mann 35 Jahre alt ist und in einer WG mit drei 20-jährigen Kerlen wohnt. Es folgen Ereignisse und Probleme, die sie gemeinsam in ihrer Wohnung erleben.

Die Leseeindrücke der anderen Autor*innen steuern schnell in eine gemeinsame Richtung: Männlichkeit und Klischees. Nach Ilia Vasella weist der Text einige Klischees auf. Diese bestünden in den Beobachtungen und Bildern, jedoch seien diese auch nötig, damit das Senkbeil der Tragödie – was den Mann in seine Heimat zurückbringt – gerechtfertigt sei. Katja Brunner nimmt daraufhin den Text in Schutz und die Kritik wird immer konkreter. Das Lieblingsbuch des Mannes ist von Hegel, obwohl er nichts vom Text versteht, oder er trinkt lieber Fencheltee und Milch statt Alkohol. Die Figur wird mit Klischees ausgestattet und sogar als plakativ bezeichnet. Dies in Bezug auf die Männlichkeit, welche den zweiten grossen Diskussionspunkt bietet.

Die anderen Autor*innen beschreiben diese als Persiflage oder als Überführung von Männlichkeit. Oder aber als Vergleich zwischen dem Protagonisten und seinen jüngeren Mitbewohnern. Dieser Vergleich basiert vornehmlich auf dem unterschiedlichen Sexualleben der beiden Generationen. Es folgt die Frage, was oder wer mit «der herkömmliche Mann» genau gemeint sei und schliesslich wird sogar die Glaubwürdigkeit der Figur angezweifelt. Diese Distanz zur Figur scheint aber genau dem Format der Textwerkstatt zu entsprechen, denn der Autor Lukas Linder befindet sich noch mitten im Schreibprozess. Wir sind gespannt auf das vollendete Werk!

«Un italiano con più angoli, meno rotondo»

Ruth Gantert im Gespräch mit Vincenzo Todisco

Ruth Gantert benennt, was unausgesprochen im (virtuellen) Raum steht: Zwar leite sie eine Veranstaltung, die sich «Übersetzer im Porträt» nennt, doch sei «Übersetzer» nicht das Erste, was ihr zu Vincenzo Todisco einfällt. Sie denke da vielmehr an den Autor, der schon seit über zwanzig Jahren Erzählungen und Romane auf Italienisch publiziere. Oder den Professor an der PH Graubünden. Elegant spielt sie somit ihrem Gesprächspartner Vincenzo Todisco den Ball zu und möchte nun selbstverständlich mehr über seine Übersetzungsarbeit wissen.

Das Eidechsenkind ist Todiscos erster Roman auf Deutsch. Mit Il bambino lucertola legt er auch gleich die italienische Übersetzung vor. Diesen Transfer des eigenen Textes in die andere Sprache verstehe Todisco aber weniger als Übersetzungsarbeit sondern vielmehr als «lavoro di riscrittura», also einer Art Umschreiben. Er habe dieselbe Geschichte mit einem anderen «Instrument» erzählt. 

Diese Geschichte ist beklemmend, fast schon kafkaesk: Das titelgebende Eidechsenkind muss sich verstecken, soll kein Geräusch machen, darf eigentlich nicht sein. Ein klandestines Schicksal, erzählt durch die alles beobachtenden Augen des Saisonnierkindes. Aus unmenschlichen Bedingungen heraus entwickelt es «animalische» Begabungen, den Wohnblock mit seinen verschachtelten Verstecken und dem vierstöckigen Treppenhaus macht es heimlich zu seinem «Revier».

Weshalb er sich ursprünglich dazu entschieden habe, diesen Roman auf Deutsch zu schreiben? Todisco wechselt für seine Antwort kurzerhand die aktuelle Konversationssprache von Italienisch auf Deutsch. Von da an findet das Gespräch im fliegenden Wechsel zwischen Deutsch und Italienisch statt. Das hat mitunter auch den lehrreichen Nebeneffekt, dass die unterschiedlichen Charakteristika der Sprachen gleich ungezwungen mitvorgeführt werden. Das Italienische sei für Todisco eine «Bauchsprache», das Deutsche «Kopfsprache» – ein Bild, das er häufig verwendet. Da habe er in erster Linie einfach das Bedürfnis gehabt, Deutsch auch zu einer «Bauchsprache», einer intuitiveren Sprache, zu machen. Deutsch sei für «Das Eidechsenkind» aber schlicht auch das geeignetere «Instrument» gewesen. Es bedurfte ihm der «lingua molto più asciutta», dem «knapperen, dichteren» Deutsch anstelle des «barocken, emphatischen» Italienisch. 

«Quando voltano l’angolo, gli altri bambini fanno una curva, il bambino lucertola invece disegna un angolo retto, in modo da poter contare ogni singolo passo.»

Eine der Herausforderungen beim Übersetzen war denn auch, durch den «Filter» der deutschen Sprache das Italienische zu entschlacken. Für dieses knappere Italienisch findet Gantert gleich ein schönes Sprachbild im vorgetragenen Textbeispiel: Das Eidechsenkind nimmt die Kurve im rechten Winkel – also «eckig» anstelle von «rund». Könne man das so ähnlich nicht auch von der «eidechsenartigen, eckigen» Sprache des Romans behaupten? Todisco ist ganz begeistert von dieser Parallele. «Un italiano con più angoli, meno rotondo», so habe er das noch nie erklärt. 

Aber auch ein Italienisch «mit mehr Ecken» reicht zuweilen nicht hin, um die flüchtige Konzeption des Kindes entsprechend einzufangen. So habe er «das Kind» im deutschen Text verstecken können, es gibt seine Identität nicht Preis. «Il bambino» jedoch zeichnet ein viel konkreteres Bild, man wisse aufgrund des Genus sofort, dass es sich um einen Jungen handelt. 

Zum Schluss die obligate Frage, wie es weitergehe, auf Deutsch oder Italienisch? Zu viel möchte Todisco von seinem neuen Romanprojekt nicht preisgeben. Doch wird es ein deutscher Text mit italienischem Schauplatz sein. Aber in einem «elaborierteren» Deutsch als im Eidechsenkind, weniger knapp. Das sei das Schöne an der «neuen Bauchsprache», er könne sie je nach Herausforderung anders einsetzen. 

Eidechse + Kind = enfant + lézard?

Atelier de traduction avec Vincenzo Todisco et Benjamin Pécoud

Das Eidechsenkind. L’existence bipartite du protagoniste du roman de Vincenzo Todisco est déjà inscrite dans son titre. Ce protagoniste, c’est un enfant qui vit en cachette, car personne ne doit savoir que ses parents italiens l’ont amené de manière clandestine dans le pays où son père a trouvé du travail. L’enfant apprend donc à disparaître en moins de rien sous le buffet, à rester pendant plusieurs minutes comme pétrifié derrière un rideau dès qu’une personne extérieure entre dans l’appartement, son habitat. C’était précisément ce mode de vie du personnage principal, ressemblant tantôt au lézard, tantôt à l’être humain, qui constituait l’un des défis majeurs de la traduction de Das Eidechsenkind dans les langues romanes. Vincenzo Todisco et Benjamin Pécoud en ont parlé dans un atelier de traduction animé par Marie Fleury Wullschleger.

Né à Stans en tant qu’enfant d’immigrés italiens, Vincenzo Todisco a écrit plusieurs textes en italien avant de publier Das Eidechsenkind en 2018, son premier roman en allemand. L’année passée, le traducteur et auteur Benjamin Pécoud a transposé le texte en français sous le titre de L’Enfant lézard. Todisco lui-même l’a traduit en italien peu après et a donc pu participer à la discussion non seulement en tant qu’auteur, mais aussi en tant que traducteur du texte.

Le problème de la traduction vers les langues romanes que les deux intervenants discutent le plus abondamment se pose dès le tout début du roman. Dans l’original, il s’agit des lignes suivantes:

Das Kind macht zuerst das linke und dann das rechte Auge auf. Es hat den Kopf an zwei Orten. Einmal in Ripa, wo ihm nichts geschehen kann, und einmal in der Wohnung, wo es die Schritte zählen muss. 

La difficulté tient d’abord aux différents genres grammaticaux . «Das Kind» en allemand est neutre, tout autant que le «es» qui le reprend dans les phrases suivantes. En effet, le sexe de l’enfant ne sera dévoilé au lecteur germanophone qu’au milieu du livre. Parce que dans l’intrigue, l’enfant doit se cacher dans l’appartement, Todisco dit qu’il a aussi voulu le cacher dans la langue. Le genre neutre a l’avantage de créer une incertitude par rapport au statut de l’enfant, de le déshumaniser et de souligner ainsi l’indétermination de son être, entre animal et humain. Pour la traduction par contre, Benjamin Pécoud n’a pas le choix. Puisque le français ne connaît pas de genre neutre, il doit poser les jalons dès les premières lignes. Le pronom «il» fait pencher la lecture tout de suite vers un petit garçon bien humain:

L’enfant ouvre d’abord l’œil droit, puis le gauche. Il a la tête à deux endroits. Une fois à Ripa, où rien ne peut lui arriver, et une fois dans l’appartement, où il doit compter ses pas. 

Le cas est encore plus clair en italien où «il bambino» ne peut qu’être un enfant de sexe masculin, sinon on utiliserait la forme «la bambina». L’effet d’indétermination entre fille et garçon, entre humain et animal est donc également impossible en traduction italienne:

Il bambino apre prima l’occhio sinistro e poi quello destro. Ha la testa in due posti: a Ripa, dove non gli può succedere niente, e nell’appartamento, dove è costretto a contare i passi.

Pécoud et Todisco évoquent d’autres problèmes rencontrés lors de la traduction du roman. Comment rendre avec précision certains termes ? Comment traduire le Konjunktiv 1 qui n’existe pas dans les langues romanes ? Mais le défi de la personnalité fluctuante de l’enfant reste présent. Si le verbe «horchen» est rendu par «écouter», la traduction ne rend pas justice à la grande précision du mot allemand, qui veut dire «écouter très attentivement pour entendre quelque chose de précis». L’alternative serait «tendre l’oreille». Cette option-là serait plus précise, mais elle a le désavantage d’impliquer de nouveau que l’enfant est humain, tandis que la version allemande ne choisit pas entre un statut humain et un statut animal. Pécoud a fini par opter pour «tendre l’oreille». La discussion le montre: faire des compromis est monnaie courante pour un traducteur.

Où mène le discours sur l’identité?

Telle était la question du podium sous la direction de l’écrivain Martin R. Dean. À cette question, il propose immédiatement deux hypothèses :

  • Le discours sur l’identité mènera à une forme de dictature.
  • Le discours sur l’identité mènera à une meilleure représentativité des minorités (ou décolonisation identitaire).

Pour parler de ces problèmes, Dean s’est entouré de trois écrivaines :

Il y a d’abord Mithu M. Sanyal. L’auteure du récent Identitti est présentée comme une Allemande d’une mère polonaise et d’un père indien. Ensuite, il y a Léonora Miano, une Franco-camerounaise vivant actuellement au Togo et auteure de Afropea. En enfin Dorothee Elmiger, auteure du roman Aus der Zuckerfabrik.

À eux quatre, ils nous offrent une perspective hétéroclite de ce qu’est l’identité européenne aujourd’hui. Cette perspective complexe se construit notamment par ce que Miano nomme les Afropéens ; les noirs nés en Europe. Elle nous rappelle en quoi cela est particulier car contrairement aux Afro-américains pour l’histoire américaine, les Afropéens peuvent potentiellement être laissés sur la touche de l’histoire européenne.

Inexorablement, le podium glisse de la question du discours identitaire vers la problématique du racisme en Europe et le mouvement BLM. La solution au problème et l’évolution des mœurs ne passent-ils pas par la terminologie? Pour éclairer ce point, M. Sanyal lit un extrait de son livre dans lequel un chauffeur de taxi se félicite de la fin du racisme en Allemagne. Ou du moins du « vrai » racisme.

L’auteure de Aus der Zuckerfabrik amène sa pierre à l’édifice en montrant l’inconscience de certains actes d’appropriation culturelle. Pour l’illustrer, elle prend un passage allégorique mettant en scène le propriétaire de deux sculptures de bois haïtiennes figurant des femmes. Sans vraiment y avoir prêté attention plusieurs année durant, le personnage les avait chez lui comme objets de décoration.

En introduction, Martin R. Dean avertissait l’auditoire de la lourde tâche que représentait toute tentative de réponse à la question titre du podium. « Où mène le discours sur l’identité ? » Nous ne savons toujours pas quoi y répondre. Difficile également de clore ce compte-rendu. Je me contenterai de reprendre les dires de Miano s’adressant à Martin R. Dean : « Ne coupez pas la parole aux dames. »

Welten, die aufploppen

Sanftes Klavierspiel überbrückt die Pause. Punkt 20 Uhr stellt Manfred Papst «eine der interessantesten Gegenwartsautorinnen» vor: Martina Clavadetscher, die Innerschwyzerin, die bereits etliche Theaterproduktionen realisiert hat, und deren letzter Roman «Knochenlieder» für den Schweizer Buchpreis nominiert war.
Nun liest sie aus ihrem neusten Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» vor – mit ruhiger Stimme und in einem angenehmen Tempo. Fast hat man den Eindruck, das Klavierspiel dauere noch an. Es sind keine harten Staccatosätze wie aus den «Knochenliedern», sondern die Erzählung hat eine sanfte, beinahe dahinplätschernde Satzmelodie.

Das passt auch zur ersten vorgelesenen Szene, die spielt nämlich an einer Dinnerparty in New York. Hier wohnt Iris, eine der drei Frauen, um die es in diesem Buch geht. Das sanfte Dahinplätschern passt aber nicht wirklich zu dem, was erzählt wird. Und darin liegt für mich als Zuhörerin der besondere Reiz. Es wird nämlich erzählt von einem bestimmten Waldfrosch, der sich über den Winter einfrieren lässt. Blut erstarrt, keine Atmung – fast wie tot, aber nur fast. Das Interssante sei, dass der Frosch keinen Schaden nehme, weil er sich mit Glukose vollpumpe. Vom Scheintod zum Leben und immer wieder hin und her. Eine faszinierende Geschichte. Auch für Iris: «Und wie aktiviert der Frosch sein Herz im Frühling?»

Um dieses Aktivieren geht es auch im zweiten Textausschnitt. Dieses Mal schauen wir Ling über die Schultern. Sie ist eine Angestellte in einer Sexpuppenfabrik in China. Ihr Job ist die Überprüfung der Leiber auf kleine Unebenheiten, Fehler, auf überschüssiges Silikon. Sie tastet den ganzen Körper genau ab – nur den Kopf nicht, der ist tabu. Da wird ganz zum Schluss die Programmierung angebracht, denn die Sexpuppen sollen zum Denken, Reden, Reagieren gebracht werden. Wie schon bei der Froschszene beschreibt Martina Clavadetscher sehr detailliert die verschiedenen Fabrikationsstufen, die Arbeiten, die es braucht, bis so eine Sexpuppe «makellos» hergestellt ist.

Von Manfred Papst gefragt, wie fest sie von Sagen und Erzählungen beeinflusst sei, wo doch ihr Vater ein bekannter Sammler von Sagen und Legenden aus der Region sei, meint Martina Clavadetscher: «Ja, jede Form von Erzählung ist wichtig, Sagen, Urban Legends … Jede Erzählung im Roman öffnet ein Türchen zu einer neuen Erzählung. Es geht um Welten, die aufploppen.»

Manfred Papsts Fazit zum Buch: Es ist kein düsteres Buch, obwohl es krass ist. Denn die Figuren erzählen um ihr Leben. Erzählen ist die rettende Kraft in dieser Welt.

Und nach einer aufgrund der fortgeschrittenen Zeit fast hastigen Verabschiedung geht es in der Pause weiter mit Gitarrenklängen … Das Geklimper erinnert mich an die aufploppenden Welten, die ich gern demnächst lesend erkunden möchte.

Diptychon mit zwei Aussenseitern

Flavio Steimann im Gespräch mit Manfred Papst

Von Tobias Bauer und Ines Lilian Siegfried

Tobias: Im Gespräch mit Flavio Steimann zeigt uns Manfred Papst, wie dessen eben erschienener Roman «Krumholz» sich an einen realen Mordfall aus dem Jahr 1915 anlehnt. In der Welt des Luzerner Seelands verknüpft er die Schicksale zweier randständiger Menschen. Die taubstumme Waise Agatha wächst in einer «Armen- & Idioten-Anstalt» auf, wird mit Tuberkulose infiziert und geht täglich mit ihrem Stickzeug in den Wald. Dort trifft sie eines Tages auf ihren Mörder. Das ist der von der Gesellschaft verstossene Zenz, der verwahrlost im Wald lebt. 

Ines: Und es ist genau in der Mitte des Romans, auf einer Lichtung im Krumholz, wo diese beiden Menschen zusammenstossen. Beides Aussenseiter der Gesellschaft, für die diese Begegnung den jeweiligen Tod zur Folge hat. Bis zu diesem Moment haben wir Agathas Geschichte von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod erfahren. Nach diesem Wendepunkt konzentriert sich der Text auf Zenz und sein Schicksal. Der Mord ist das Scharnier zwischen den Teilen. Steimann nennt dies Diptychon. 

Tobias: Spannend empfinde ich die Überlegung Steimanns, dem Täter Zenz das Opfer Agatha als gleichgewichtige Figur gegenüberzustellen. Er sagt dazu, dass ihn nicht der Mord an sich interessiert, sondern der Weg, den ein Mensch geht, bis er zu einer solchen Tat fähig ist.

Ines: Ja, die Bluttat scheint gar nicht wesentlich. Aber das, was die Umwelt aus den Figuren gemacht hat. Agatha kann wohl besser etwas aus ihrem Leben machen, als sie aus dem Waisenhaus kommt als Zenz. 

Tobias: Papst spricht aber an, dass beide Hauptfiguren immer wieder kleine Glücksmomente erleben. Das finde ich in der Tat eine Qualität.

Ines: Ja, das gefällt mir auch sehr. Beide haben diese Gabe. Beide können dadurch überleben. Doch bei beiden gibt es einen Schlag, der ihnen das Genick bricht. Bei Agatha ist es die Tuberkulose, bei Zenz das Scheitern in Paris. Das Diptychon geht bis ins Detail.

Tobias: Mich hat beeindruckt, wie die Art der Erzählung im ersten und zweiten Teil von den Wahrnehmungsmöglichkeiten der beiden Personen geprägt wird. Im ersten Teil ist es Agathas Welt, die wir intensiv durch ihre Augen, aber völlig ohne Töne und Geräusche erleben. Im zweiten Teil haben wir die Welt von Zenz im Gefängnis. Diese erschliesst sich ihm einzig über die Geräusche, welche in die Zelle dringen – und lebt durch seine ausgeprägte Phantasie. Das entwickelt für mich beim Lesen einen ganz eigenen Sog. 

Ines: Ich gebe dir recht, das ist eine grosse Qualität des Textes. Doch verhindert vor allem im ersten Teil die Syntax, ganz in die Romanwelt einzutauchen. Die vielen Einschübe, die immer noch eine Information nachtragen und dazwischenschieben, machen den Text sperrig, immer wieder stolpert man beim Lesen über die Sätze. Man könnte das direkter erzählen.

Tobias: Ich empfinde die Erzählweise nicht wirklich als umständlich, sondern einfach sehr in die Details recherchiert. Anschaulichkeit, Präzision und Dichte des Textes, sagt hier Manfred Papst dazu. 

Ines: Ja, Papst spricht die leuchtende detaillierte Sprache an wie auch die gekonnte Verwendung vieler alter Fachbegriffe. Ich empfinde dieses Zeitkolorit als zu manieristisch.

Tobias: Ich habe immer das Gefühl, dass Steimann lange mit dem Text ringt. Auch im Gespräch mit Papst sagt er, er sei ein Zweifler und hinterfrage einen Text immer wieder von Neuem. Mir fällt auch auf, wie spröde der Text trotz des Detailreichtums letztlich wirkt, wortkarg und wortmächtig zugleich.

Ines: Wortkarg sind die Figuren. Beide sprechen wenig, Agatha ist ja stumm und Zenz sitzt isoliert im Gefängnis. Doch der Text ist nicht karg. Der Erzähler ist nicht schweigsam, er beschreibt genau und versucht, die Situation präzise einzufangen. Zu präzise, finde ich: Das Zelt ist fleckig, der Frack ist zerlumpt, der Teppich löchrig, der Dunst ist säuerlich, das Gras zertreten…

Tobias: Du hast recht, es gibt wohl kaum ein Substantiv ohne Adjektiv. Doch hat diese Anhäufung auch System. Auch Agatha ist eine Sammlerin, das, was sie findet, rettet ihr wohl das Überleben. Zenz sammelt Geräusche, Träume, Erinnerungen. Das alles steckt in diesem Text. Oder wie es Manfred Papst sagt: Was für ein Text, lieber Flavio Steimann! 

In Solothurn bei der Lesung nur zu hören: Flavio Steimann mit Krumholz. Wer ihn lesen hören und sehen will, wird beim Literaturhaus Zürich fündig (https://www.youtube.com/watch?v=ByXZgeIl4Xc).