Atomsemiotik und Kung Fu

Ein Kloster zum Gedächtnis der Atomendlagerung? Auch Annette Hug traute ihren Ohren nicht so recht, als ihr diese Idee ausgerechnet auf einem Ausflug ins Felslabor Mont Terri, das die Lagerung radioaktiver Abfälle in Opalinuston erforscht, unterbreitet worden sei. Deutlich wird: Das Kernproblem ist und bleibt nicht die Technik, sondern die Tatsache, dass Atommüll auch noch in einer Million Jahren gefährlich strahlt. Wie sagen wir das unseren Nachfahren? Da scheint ein Klosterorden als stabilste Institutionsform zur Wissensübermittlung nicht mehr so abwegig. Ein Gedankenspiel, das Annette Hug für die nächsten sechs Jahre nicht mehr loslässt und darin mündet, dass sie zumindest auf literarisch-hypothetischem Boden einen solchen Orden ins Leben ruft. 

Soweit die Prämisse ihres neuen Romans Tiefenlager, den sie im Gespräch mit Lukas Gloor vorstellt. Hugs erste Neuveröffentlichung nach Wilhelm Tell in Manila, für die sie 2017 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet worden ist. Tiefenlager ist ein vielschichtiger Text, sprachlich präzise ausgearbeitet. Die drei vorgetragenen Textausschnitte zeigen denn auch die drei Ebenen, die der Roman bespielt: die Gründung und Organisation des Ordens, die Lebensgeschichten der Hauptfiguren und die Zukunftsszenarien, die sich die Ordensmitglieder gegenseitig erzählen. Und über alledem steht die Frage, wie man gewissermassen ein Warnsystem ohne «Halbwertszeit» entwickeln kann. 

Es ist wohl ungehört, dass in einem Gespräch zugleich von Atomsemiotik und Kung-Fu-Filmen der 70er, von Wissenstradierung in Klöstern und Schweizer Atomendlagerung die Rede ist. Schade nur, dass die Unterhaltung nicht so richtig ins Rollen kommt. Dass die sinnbildlichen «grossen Kisten» aufgemacht werden, nur um sie auch gleich wieder zu schliessen. Es ist jedoch definitiv ein Roman mit Tiefgang, darauf machte Lukas Gloor eingangs schon aufmerksam. Im Gespräch hätte man tiefer bohren können – trotz der äusserst knapp bemessenen vierzig Minuten. 

Hunger verbindet

Mit dem Satz «Du bist eine Sammlerin» verabschiedet Moderatorin Laura de Weck Dorothee Elmiger und spielt damit auf die Arbeitsweise der Schriftstellerin an. Elmigers Werke können keinem Genre klar zugeordnet werden, denn sie sind Roman, Journal, Recherchearbeit, Essay. Trotz ihrer Hybridität oder vielleicht genau deswegen wurden ihre drei Bücher allesamt für den Schweizer Buchpreis nominiert. So auch ihr neustes Werk Aus der Zuckerfabrik, aus dem die Autorin an den Solothurner Literaturtagen vorliest.

Zuerst spricht Elmiger aber darüber, wie sie vorgeht, wenn sie ein Buch schreibt. Immer wieder nimmt sie sich vor, «jetzt schreibe ich einen richtigen Roman», doch am Ende verletzt sie jegliches Erzählprinzip. Der Ausgangspunkt für ihre Bücher bildet das Material. Ausgehend von diesem überlegt sich die Autorin, was das Material verlangt – Fragen und Lücken sind für sie das Wichtigste und dies gelingt nur, wenn man sich eben nicht an die klassischen Erzählregeln hält.

Aus der Zuckerfabrik vereint eine Sammlung an Texten wie ein Tagebuch. Verbunden werden diese nur durch die Assoziation mit dem Thema Hunger. Die Figuren teilen den Hunger, jedoch verlangen sie nach unterschiedliche Dingen. Während die einen nach Genuss, Essen oder Ekstase hungern, äussert sich dieser bei anderen Figuren im Sinne von politischer Betätigung oder dem Mitwirken in einem Kollektiv. Der Hunger nach mehr verbindet die einzelnen Figuren und Geschichten. Ein weiteres Themenfeld bildet die Geschichte des Zuckerbaus, wie der Titel des Buches bereits vermuten lässt. Eng verbunden mit der Zuckergeschichte ist der Kolonialismus, oder besser gesagt: der Postkolonialismus. Elmiger schafft es, diesen Diskurs zu öffnen, ohne zu moralisieren, wie dies de Weck im Gespräch betont.

Zum Schluss sprechen die beiden Frauen über den Liebhaber der Ich-Erzählerin, Namens C. Denn er ist die einzige Figur im ganzen Buch, die keinen Hunger hat, auch wenn die Ich-Erzählerin immer wieder Essensangebote macht, greift C. nie zu. War das die Intention der Autorin? Nicht bewusst, aber es habe dann einfach gepasst, berichtet Elmiger. «Einfach passend» gilt auch für das fertige Buch und um mit den Worten der Moderatorin zu schliessen, möchte ich Aus der Zuckerfabrik allen ans Herz legen – auch wenn man sich zuerst an die unkonventionelle Struktur des Textes gewöhnen muss. Dranbleiben lohnt sich!

Das ist mein Riff

Am Sonntag, 16. Mai 2021, um 13 Uhr ist Thilo Krause Gast bei Manfred Papst. Krause ist bekannt geworden mit seinen Dichtungen, die durch Musikalität und Gedankentiefe bestechen. Mit Elbwärts legt er seinen ersten Roman vor.
Er habe aber bereits vor diesem Roman seine Schubladen mit Prosa gefüllt. Und in Bezug auf die Initialzündung zu seinem Roman meint er: «Es hat mich gefunden, ich habe zu schreiben begonnen – und dann war der Ton da.» Diesem Ton – lyrisch, behutsam, dicht und doch unprätentiös – hört man gerne zu.

Die drei vorgetragenen Passagen geben denn auch einen guten Einblick in seinen Roman. Der Ich-Erzähler kehrt zurück in seine alte Heimat in der Sächsischen Schweiz. Er zieht mit Christina und der kleinen Tochter in ein Haus, treibt sich aber die meiste Zeit im Wald und auf Felsen herum und schaut «von seinem Riff» aus auf sein neues Zuhause und auf das von Vito, seinem damaligen Schulfreund. Mit Vito ist er schon damals immer im Wald herumgestromert. Auch nach dem verhängnisvollen Kletterunfall, bei dem Vito ein Bein verloren hat, sind die beiden auf den Felsen anzutreffen. Der erwachsene Ich-Erzähler will an diese Freundschaft anknüpfen, wird aber durch Schuldgefühle daran gehindert. Erst mit der Zeit gelingt die Kontaktaufnahme – und Christina glaubt nach wie vor, sie seien nur «wegen der Apfelbäume» in diese Gegend gezogen.

Es geht also um Schuldverstrickung, aber wohl auch um Neid. Denn Vito ist dort geblieben, er ist quasi dort kleben geblieben – er kann sich ja auch nicht mehr recht fortbewegen wegen seines amputierten Beins. Er beneidet den Ich-Erzähler, der sich getraut hat wegzugehen, dem in der Fremde aber klar wird, dass ihn etwas in die alte Heimat zurückzieht. Da kommt der Neid auf den Daheimgebliebenen.

Bevor Thilo Kraus zum Abschluss einen längeren Abschnitt liest und uns erzählt, wie der Ich-Erzähler zusammen mit dem handicapierten Vito mit einem Moped und einer Sackkarre in den Wald fährt, spricht Manfred Papst die unglaubliche Zärtlichkeit des Ich-Erzählers gebenüber seiner Tochter an. Dies führt zur Frage: «Du bist selbst Vater. Hat dieser Umstand dein Leben, dein Schreiben verändert?» Thilo Krause pflichtet ihm bei. Es sei in der Tat so, dass er erst richtig zu einem Autor geworden sei, seit er Kinder habe. Er habe dadurch einen anderen Blick auf die Welt bekommen. Es reiche nicht mehr, Nihilist zu sein, man könne nicht mehr ausweichen, man werde mit vielen Sachen konfrontiert, werde quasi im positiven Sinn aus der Komfortzone geschoben.

Aber auch dass er von Haus aus eigentlich Elektroingenieur sei, beeinflusse sein Schreiben. Thilo Krause war lange Jahre in der Forschung tätig, unter anderem an der ETH Zürich, er hat eine wissenschaftliche Karriere verfolgt und sich dabei «einen Reim auf die Welt gemacht». Während es in der Wissenschaft wichtig sei, dass das Schlussresultat quasi objektiv ohne seine Erfinder*innen dastehen könne, sei es in der Literatur doch so, dass man immer noch die Person hören wolle, die oder der diesen Text erschaffen habe. Aber im Grunde genommen berührten sich Geistes- und Naturwissenschaft doch sehr stark – so das Schlussvotum von Thilo Krause.

Wenn ich mir da nochmals die unglaublich schönen atmosphärischen und doch sehr präzisen Schilderungen der Natur – des Walds, der Felsen, der Elbe – in Elbwärts vergegenwärtige, dann kann ich ihm da nur zustimmen.

Ein technoider Text mit Herz

Li Mollet setzte in der Textwerkstatt Skriptor fünf Kolleg*innen unveröffentlichte Lyrik zur Diskussion vor. Nicht alle waren sich in der Wertung der Texte einig. Teilweise flogen sogar richtig die Fetzen.

Donat Blum moderierte den Anlass als eine Runde von «Kolleg*innen» und eben nicht «Kritiker*innen» an. Vielleicht begründet das, warum bei der Auseinandersetzung mit Li Mollets unveröffentlichter Lyrik nicht immer ein sachlicher Ton gewählt wurde. Als Expert*innen äusserten sich fünf Lyrik-Schaffende kritisch zu 15 Siebenzeilern aus einem geplanten Werk, die Mollet zunächst einmal vorlas. Dass die Veranstaltung per Zoom stattfand, war dabei ein Vorteil. Die Gesichter der Zuhörenden waren gut sichtbar und als Teilnehmerin reizte es, die Reaktionen zu deuten. Ob ein Lächeln hie und da späteres Lob am Text schon verraten würde? Oder ob es auch Stirnrunzeln, einen desinteressierten Blick in die Kamera geben würde?

Das Lächeln täuschte bei den meisten nicht. So teilte nach der Lesung Ruth Loosli als erste ihren durchwegs positiven Eindruck mit den anderen. Die Seeländerin verstand Mollets Entwurf als anregender Lückentext. Sie sprach von Wurzeln, die die Texte für sie schlagen würden und der sich dadurch aufsprengenden Oberfläche. Für sie gehe es in den Texten um Existenzfragen und den menschlichen Spieltrieb. Wer sich über den seinerseits lyrisch ausformulierten Texteindruck freute, wurde von Thilo Krause aus der wohlwollenden Atmosphäre jäh herausgerissen.

Der hatte nicht gelächelt beim Zuhören. Er machte von Anfang an klar, dass ihm die Texte nicht gefallen. Mollets Lyrik misslinge der Versuch, über das Anekdotische hinauszukommen. Das lyrische Du, das in allen Texten vorkommt, breche mit Allgemeinplätzen in die Szenen hinein und zerstöre jegliches Potenzial, sich in den Texten zu orientieren. Krause forderte: Mehr Ich, weniger Du. Das Du interessiere nicht.

Nicht nur den unbeteiligten Zuschauer*innen war dieser Stimmungswechsel wohl etwas zu heftig, auch die Moderation schaltete sich hier kurz ein und presste Krause dann doch noch ein gutes Votum heraus: Einige Sätze seien ganz schön. Und zwar diejenigen, die nichts wollen würden. Germanist und Lyriker Wolfram Malte Fues übernahm in der Diskussion – wohl eher unverhofft – die Rolle des Gegenspielers von Krause. In einer Detailanalyse nahm er einen Siebenzeiler Mollets auseinander und zeigte dabei die Vielschichtigkeit ihrer Sprache. Er machte deutlich: Sie will nicht nur, sie kann. Mit der Arbeit am Text ging es gefühlt endlich zur Sache.

Endlich wurde in dieser Textwerkstatt über knifflige Details gesprochen. Dass es dabei um einen Pilz und dessen Aussehen gehen würde, hätten sich die Zuschauenden wohl aber nicht gedacht. Ob Morchel oder Lorchel mit braunem oder beigem Hut bis zum Vorwurf – auch hier von Krause – dass Mollet den Pilz doch sicher verwechselt oder ahnungslos beschrieben habe, kurzum: die Diskussion wurde absurd. Mollet, die sich das Ganze ungefragt anhören musste, konnte nur darüber lachen.

Überhaupt fand wenig Dialog und Arbeit an den Texten statt. Die Veranstaltung drohte besonders zu Beginn eher in einen Austausch von persönlichen Leseeindrücken abzusinken. Die waren durchaus spannend, aber ganz ungelegen kamen die bissigen Kommentare von Krause deshalb doch nicht. Immerhin regte er an – und auf.

Er werde bewusst polemisch, gab er vorweg, als er auf die Wahl der Lyrikform in Siebenzeilern einging. Das diene doch höchstens der Coolness. Die Sätze seien absolut beliebig, ausserdem fokussiere Mollet viel zu stark auf das tell und ignoriere damit den Leitsatz show, don’t tell. Leonor Gnos liess sich davon nicht provozieren und lobte die Sprunghaftigkeit der Texte. Musikredaktor und Lyriker Claudio Landolt ging zwar zunächst mit Krause mit und gab zu, dass er sich nach der ersten Lektüre verloren gefühlt habe. Auf den zweiten Blick habe er sich aber verliebt. Es sei ein «technoider Text mit Herz», der von wunderschönen Nebensächlichkeiten mit zärtlicher Grausamkeit erzähle.

Fues blieb nicht so ruhig. Er feuerte kräftig zurück und meinte nur: «Wenn wir schon polemisch sein wollen, dann richtig.» Die Idee des show, don’t tell sei doch völlig veraltet. Literatur ziele auf einen Diskurs ab, sie solle die «Verhältnisse zum tanzen bringen» und nicht Dinge unmissverständlich beschreiben. Dazu habe man schliesslich die Wissenschaft.

Am Ende der Veranstaltung brachte sich dann auch noch das Publikum ein und Mollet erhielt das letzte Wort. Ihre Zurückhaltung während der gesamten Diskussion war teilweise fast nicht auszuhalten. Mehr Redezeit von ihr wäre wünschenswert gewesen. Fast schon bereute es die Zuschauerin, dass sie Krause nicht in gleichem Ton begegnet war. Ihre selbstbewusste Zurückhaltung aber passte zu den vorgelegten Texten: Die brauchen Zeit, schaffen intime Denkräume und lassen bei aller Ernsthaftigkeit und politischer Sprungkraft immer auch ein Lächeln zu.

Was Mollet nun konkret von dieser Diskussion mitnehmen soll, das blieb für die Zuschauenden zusammenfassend unklar. Eins lässt sich jedoch sagen: Über diese Lyrik lässt sich streiten.

Quand les souvenirs se font littérature

Quelques enveloppes oubliées. Des capsules temporelles. A l’intérieur: des timbres. Quatre par enveloppe. Ceux que le grand-oncle Jim lui avait envoyé jusqu’à ses 25 ans pour nourrir sa collection philatélique. Avec le temps, les enveloppes étaient restées scellées. Elle n’avait jamais osé lui dire qu’elle avait arrêté. Pour garder le lien. Lorsque Muriel Pic retrouva les enveloppes et les ouvrit, les timbres de Jim la projetèrent dans le passé. A l’aube du passage au millénaire. Les dernières années de vie de Jim.

Muriel Pic avait ainsi trouvé l’archive de départ de son récit. L’auteure, qui affectionne le travail avec des archives inédites, établit systématiquement tout ce qu’il y a à savoir sur le document en lui-même et sur le contexte dans lequel il s’inscrit, afin de permettre l’expression de sa singularité dans un cadre (auto)fictionnel. Ainsi, dans Affranchissements, Pic structure son histoire autour de son grand-oncle Jim à partir des lettres et objets qui lui restent de lui. Les poèmes sur Jim forment la colonne vertébrale du livre autour de laquelle se déploient en éventail différents épisodes en prose.

Au centre du récit, une liberté qui se construit et se cherche. A travers le personnage de Jim, horticulteur solitaire dans les jardins de l’Université de Londres, le lecteur entreprend une quête de libération, en tension entre détachement et lien. Incorporant des extraits de livres de botanique au texte, Pic crée un parallèle entre l’affranchissement des plantes et celui des individus. Selon l’auteure, la botanique nous parle aussi de nous, de nos inclinaisons, de notre manière de pousser, de notre attente de récolte… Elle pense la liberté à travers les plantes qui, dans les prairies sèches, poussent chacune à son rythme, de manière non-hiérarchique. Et lorsqu’à la fin Jim se fait forêt, c’est la liberté qu’il goûte en ne faisant plus qu’un avec la nature.

Dans son nouveau livre, Muriel Pic se montre à la fois savante et poétesse. Mue par le désir de réveiller la curiosité et de susciter la joie de la découverte, elle propose à son lectorat un mélange de réflexions savantes et de divagations créatives. Magie et science vont main dans la main pour ouvrir de nouveaux horizons de pensée. Un affranchissement en soi.

Ein Mosaik aus Erzählungen

Martina Clavadetscher spricht mit Manfred Papst über ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams

Der Auslöser für den Roman von Martina Clavadetscher war die Fotoserie von Aleksandar Plavevski. Er fotografierte die Arbeiter*innen in einer Sexpuppenfabrik in China. Clavadetscher war so fasziniert von den Bildern, die aufgehängte Puppen zeigten, dass sie den ersten Teil ihres Buches schrieb. Den Teil von Ling, der Sexpuppenfabrikantin. Schnell war Clavadetscher klar, dass sie Ling nicht alleine stehen lassen will, sie wollte die Geschichte verbinden.

Neben Ling erzählt Die Erfindung des Ungehorsams auch die Geschichten zweier anderer ungewöhnlicher Frauen. Iris lebt in einem Penthouse in Manhattan und verbringt ihre Zeit gerne bei Dinnerpartys. Immer wieder denkt sie sich neue Geschichten für ihre Gäste aus und erzählt eines Abends von ihrer Halbschwester Ling. Und schliesslich gibt es noch Ada, ein mathematisches Genie, die sich im England des 19. Jahrhunderts ihrer Mutter widersetzt und ihren Träumen nachgeht. Lange bevor der erste Computer entstand, hat sie deren Idee vorweggenommen, indem sie zusammen mit Charles Babbage eine Maschine entwickelte, die zu komplizierten Rechnungen fähig war.

Ada, Ada Lovelace, eine historische Figur, lässt Martina Clavadetscher nicht mehr los. Sie hat bereits 2019 ein Theaterstück namens Frau Ada denkt Unerhörtes geschrieben. Irgendwann war ihr klar, dass Ada auch im neuen Roman eine zentrale Rolle spielen soll. Ihren Protagonistinnen ist als Frauen vieles vergönnt und sie widersetzen sich der Männerwelt. Deshalb verwundert es wenig, dass Manfred Papst fragt: Haben sie einen feministischen Roman geschrieben? Auch Clavadetscher hat diese Frage erwartet und lacht. Trotzdem beantwortet sie die Frage nur zögerlich mit einem Ja. Es sollte doch eigentlich normal sein, dass ein Roman von drei starken Frauen handelt. Wieso muss dann gleich ein Etikett aufgeklebt werden? Wie Recht sie doch hat!

Die Erfindung des Ungehorsams wird als Roman katalogisiert, dies ist jedoch ein weiter und offener Begriff, wie Manfred Papst anmerkt. Und dies zeigt sich im Text, erinnert er doch teilweise an ein Drama oder an Lyrik. Martina Clavadetscher gibt zu, dass sie oft in eine hybride Form hineinfällt. Wahrscheinlich komme dies daher, dass sie ihre ersten Fassungen mit der Hand schreibe und dabei einen schnellen und engen Schreibstil habe. Wenn sie zu tippen beginne, geschehe etwas Lyrisches. Die Form nutze sie aber auch, um den Inhalt zu bearbeiten. Sie kann beispielsweise den Lesefluss der Leser*in beeinflussen oder Bilder verstärken.

Nicht nur die hybride Form fällt auf, sondern auch der Stellenwert des Erzählens. Im Roman wird mit jeder Erzählung eine weitere Tür aufgetreten, ein neuer Raum aufgestossen, eine neue Welt aufgeploppt. Alle Figuren wollen wissen, woher sie kommen. Nach Clavadetscher ist unsere Vergangenheit ein Mosaik aus Erzählungen. Kleine Dinge machen mein Ich im Hier und Jetzt aus. Doch Erinnerungen können sich verändern, sie sind fluid und bleiben nicht stehen.

Um ganz frei mit den Worten von Manfred Papst zu enden: Wir hoffen, du erzählst uns weiter deine Geschichten.
Geschichten von starken Frauen, von Utopien, von Ada Lovelace.

Donatella Di Pietrantonio: Borgo Sud

La presentatrice Carlotta Bernardoni-Jaquinta parla con l’autrice Donatella di Pietrantonio del suo ultimo romanzo, Borgo Sud. È la storia di due sorelle. Due sorelle molto diverse che portano con sé lo stesso dolore. Nella vita adulta vanno in direzione diverse affrontando la vita in maniera distinta. Adriana si getta senza regole. Ha fame di vivere e non calcola i rischi. Si presenta all’improvviso dalla sorella una notte, senza preannuncio. Sa, che l’altra c’è. Quello delle due sorelle è un legame incondizionato. Hanno la certezza che qualsiasi cosa fanno, l’altra c’è – sempre.   

La moderatrice passa con sensibilità a un altro elemento centrale del libro, quello della famiglia.  È il luogo di origine e quindi impossibile separarsi. Il rapporto con la famiglia, soprattutto con la madre è difficile. Nonostante la madre sia sempre stata riluttante, entrambe le figlie hanno bisogno di questo legame per potersi sentire figlie.  Tuttavia, aggiunge Donatella Di Pietrantonio, si tratta di un legame ambivalente. Hanno un disperato bisogno di liberarsi dalla origine pesante. Però hanno anche bisogno di ritornare, di ricongiungersi, per vedere se il vuoto si è colmato, in un qualche modo. Per vedere se la madre sia diversa da quella che era prima, impegnata e scostante. Il vero danno, spiega Donatella Di Pietrantonio è che il gesto di attenzione non arriva. E quindi le figlie vivono in uno stato di indegnità, cioè di credere di non aver meritato l’amore della madre.   

Carlotta Bernardoni-Jaquinta passa a un altro punto interessante del libro: Un grande peso nel ruolo di figlia è l’idea di portare in sé l’idea di madre. Un giorno sarà proprio lei, adesso figlia, a prendersi cura della madre quando un giorno sarà anziana. Avrà luogo un’inversione dei ruoli. La scrittrice racconta che in Italia l’idea che le figlie si devono prendere cure delle madri è molto radicata. Infatti, avviene uno scambio di ruoli, come si diceva prima. Non è facile, anzi, è molto più difficile che prendersi cura del corpo anziano che dei figli perché subentra una forma di pudore e timore soprattutto nell’accudimento delle zone intime dei genitori.  

Inoltre, l’idea dei luoghi è importante in questo romanzo. Per esempio, Borgo Sud è un quartiere esistente di Pescara. Un quartiere che sembra un villaggio, abitato da una comunità solidale, coesa, unita nel bene e nel male. Adriana con le sue caratteristiche è adatta a questo luogo. Anche quando la sorella le offre di trasferirsi in un posto più comodo, lei rifiuta. Dice che lei non può capire. Esiste uno scambio reciproco di identità. Anche il luogo ha bisogno di Adriana, come lei di lui.  

Si parla in seguito della dimensione temporale: Il presente è molto stretto, quasi inesistente. Infatti, è presente una singola notte di angoscia, quando la narratrice ritorna da Grenoble a Pescara. Il passato lo rivive con la memoria facendo delle libere associazioni senza seguire una linea diritta. Alle spalle di quella notte c’è tutto un passato che la narratrice ci racconta a pezzetti. Come se fosse un nodo che si scioglie man mano.    

In rapporto con il tempo – cioè questo presente molto denso – c’è la lingua asciutta, esatta. Un equilibrio che si rispecchia anche sulla narrazione. Come si arriva a questo equilibrio? Donatella Di Pietrantonio cita quella che per lei è stata grande fonte di ispiratrice: Agota Kristof. Da lei ha visto una focalizzazione estrema su un elemento della frase, che deve illuminare il resto. Infatti, prima la scrittrice italiana scriveva diversamente, con subordinate. A un certo punto però c’è stata la svolta.  

La superstizione è l’ultimo elemento che le due donne toccano in questa discussione sulla lettura di Borgo Sud. L’autrice proviene da un mondo rurale però evidentemente è molto legata alla parola scritta. La sua lingua madre è il dialetto. Un dialetto limitato che ha un numero ridotto di parole.  Eppure, continua Donatella Di Pietrantonio, si è legata attraverso le molte letture alla forma scritta. Avvolte le capita tuttora di dovere vedere la parola scritta per capire il senso della parola. Anche per poterla memorizzare. Tuttavia, l’oralità possiede una grande potenza antropologica dell’espressione. La maledizione che la madre getta sulla figlia Adriana è una formula antica e orale. Potente come si pensa che siano i riti, le superstizioni. Alla fine, la figlia laureata, l’io narrante, subisce anche lei la suggestione di questa superstizione: vorrebbe togliere quella maledizione, lanciata dalla madre contro la figlia.  

E con la potenza della parola, simbolo emblematico di quello che stiamo facendo in queste giornate di letteratura a soletta, si chiude la conversazione molto stimolante.  

Zora del Buono – Lesung und Gespräch mit Manfred Papst

Simone von der Geest und Regula Weber im Gespräch zur Lesung

Simone von der Geest
Gestern im Gespräch mit Regula Rytz hat Zora del Buono gesagt, dass sie Menschen möge. Ich finde, dass diese positive Einstellung und diese Neugier, andere Menschen zu verstehen, «Die Marschallin» durchdringt. Zora del Buono, die Hauptfigur in «Die Marschallin» ist nicht nur positiv gezeichnet, sie wird auch als unzufriedene Mutter, als eifersüchtige Geliebte dargestellt, und dennoch geht man als Leser*in eine besondere – vor allem auch verstehende – Beziehung mit ihr ein. Empfindest du das auch so? 

Regula Weber
Ja. Ich verstehe es genau so, wobei die Liebe und die positive Einstellung sich ganz besonders auch in der Art und Weise manifestiert, wie sie ihre Figuren zeichnet – gerade, wenn es darum geht, Schwächen oder Schwierigkeiten darzustellen, also das ganze Spektrum menschlichen Daseins auszuleuchten.

Simone von der Geest
Ich finde auch, dass das nicht nur auf die Hauptfiguren zutrifft, sondern auch auf jene vielen kleinen Nebenrollen, wie beispielsweise Cinzia la capricciosa auf San Domino. Zahnlos, rauchend, heruntergekommen – und dennoch begegnet man der Figur wohlwollend und nimmt sie als Persönlichkeit wahr. Vielleicht hat dies auch viel damit zu tun, wie Zora del Buonos Geschichten entstehen. Sie vergleicht das Buchschreiben mit einem Architekturprojekt – ist das für dich nachvollziehbar?

Regula Weber
Das scheint ein ganz wichtiger Punkt in ihrem Schreiben zu sein. Sie hat den Prozess verglichen mit einem Hausbau: Erst entsteht die Stahlbaukonstruktion, die dann nach und nach gefüllt wird. Ich finde das Bild sehr stimmig. Zora del Buono weist ja auch darauf hin, dass ihr räumliches Denken sie beim Schreiben unterstützt.

Simonen von der Geest
Deswegen verirrt man sich als Lesende wohl auch nicht in ihren Geschichten, was angesichts der vielen Schauplätze in ihrem Roman durchaus gegeben wäre. Tatsächlich scheint sie sich viel Zeit für die Entstehung eines Romans zu nehmen. Sie forscht in Archiven, besucht die Orte und spricht mit Menschen und blickt kritisch in ihre eigene Lebensgeschichte zurück. Ihre Aussage, dass Geschichten eine Inkubationszeit brauchen, finde ich in diesem Zusammenhang sehr interessant, gerade auch angesichts vieler sehr junger Autorinnen. Was meinst du dazu? 

Regula Weber
Das ist ein Aspekt, den man durchaus im Zusammenhang mit Silvio Huonders Frage «Kann jemand schreiben, bevor er gelebt hat?» sehen kann. Aber da spielt wohl nicht in erster Linie das Lebensalter eine Rolle, sondern die Frage, wie es gelingt, einen Stoff zu entwickeln. Ganz spannend finde ich in diesem Zusammenhang auch Zora del Buonos Selbsteinschätzung, wenn sie sich als Fabuliererin bezeichnet, die zwar auch journalistisch tätig ist, sich aber wohler im literarischen Schreiben fühlt. 

Simone von der Geest
Ja, zumal sie beide Formen des Schreibens kennt und nach wie vor auch journalistische Beiträge verfasst. Dabei wird wiederum deutlich, wie Ideen zu Romanen aus journalistischem Interesse an einem Thema heraus entstehen. Manfred Papst hat zum Ende der Lesung bemerkt, dass man das Buch auf zweierlei Weise lesen kann: naiv oder reflektiert. Wie hast du das Buch gelesen, naiv oder reflektiert?

Regula Weber
Ganz bestimmt auf beide Arten! Das Leben ihrer Grossmutter, das exemplarisch beinahe das ganze 20. Jahrhundert beleuchtet, hat mich vor allem in Bezug auf den historischen Kontext fasziniert ebenso wie die Souveränität, mit der Zora del Buono die unzähligen Episoden erzählerisch verknüpft. Aber ganz besonders hat mich das Erzählen selbst in diesem Text nicht mehr losgelassen. Es ist geprägt von einer hohen Präzision, die sich mit einem tiefgründigen Humor verbindet, der niemanden blossstellt, sondern die Leben der Menschen in allen Facetten überzeugend darzustellen vermag.

Hélène et le garçon

Pas le sien. Celui de sa sœur. Une fille-mère, comme on les appelle à cette époque, au début du XXème siècle. Le nom du père ? Il faut le cacher. C’est un secret. Un silence. Celui même qu’il s’agit d’entretenir pour l’écriture d’un tel roman. Trop foisonnant, trop complexe ; il faut laisser décanter, dit Marie-Hélène Lafon, son auteure.

Elle explique à Claire Jaquier, professeure émérite de l’université de Neuchâtel, qu’elle se considère à contre-courant. Alors que le monde se remplit de dialogues, de questions, de frénésie, son roman laisse place au toucher et à la profondeur. « Trop de paroles tuent le sens ». Ses propos sont illustrés par la lecture partielle du premier chapitre. Nous faisons connaissance avec l’attendrissant Armand, cinq ans, évoluant dans un environnement olfactif délicieux.

Professeure de langues classiques au degré supérieur, Marie-Hélène Lafon n’en est pas à son coup d’essai. Sa bibliographie se constitue d’une vingtaine d’œuvres et de plusieurs prix littéraires, notamment d’un prix Renaudot pour l’Histoire du fils dont il est question ici.

C’est une intrigue familiale. Il y a Paul, le père caché. Au moment des faits, il est de seize ans le cadet de Gabrielle, son amante. Elle les aime comme ça, un peu bad boys. Trouvé à l’institut elle lui enseigne tout. Mais voilà. Ce qui devait arriver, arriva. Neuf mois plus tard, c’est André qui voit le jour.

Mais Gabrielle est un esprit libre, voletant de ci de là (et surtout du Cantal à Paris, de la campagne à la ville). Pour préserver ce train de vie, elle confiera André à sa sœur Hélène et son mari Léon. Ravie, cette dernière l’ajoute à sa collection (trois filles qui deviendront les bras réconfortant d’André).

Les scènes s’enchâssent dans une chronologie bien particulière donnant le tournis au lecteur. L’auteure prévient, son ouvrage est exigeant : prévoyez un bloc-notes et de quoi établir un arbre généalogique. Après tout, on commence avant la naissance de l’enfant, en 1908 et on termine après sa mort, en 2008.

En fait, Histoire du fils, comme pour bon nombre de créations de Marie-Hélène Lafon, s’inspire grandement de la réalité. En 2012, elle apprend dans sa famille proche, l’histoire d’un enfant caché. Il est décédé, sa famille lui commandite un livre. Les huit ans séparant la réalité de la fiction sont autant d’années de réflexion pour surmonter les deux problèmes que pose cette histoire. Premièrement, elle est trop romanesque et mériterait douze tomes plutôt que douze chapitres (ou pourquoi pas une série ?). Deuxièmement, elle est trop heureuse. Et les histoires heureuses, nous dit Lafon, ça ne fait pas de bons romans…

Welten, die aufploppen

Sanftes Klavierspiel überbrückt die Pause. Punkt 20 Uhr stellt Manfred Papst «eine der interessantesten Gegenwartsautorinnen» vor: Martina Clavadetscher, die Innerschwyzerin, die bereits etliche Theaterproduktionen realisiert hat, und deren letzter Roman «Knochenlieder» für den Schweizer Buchpreis nominiert war.
Nun liest sie aus ihrem neusten Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» vor – mit ruhiger Stimme und in einem angenehmen Tempo. Fast hat man den Eindruck, das Klavierspiel dauere noch an. Es sind keine harten Staccatosätze wie aus den «Knochenliedern», sondern die Erzählung hat eine sanfte, beinahe dahinplätschernde Satzmelodie.

Das passt auch zur ersten vorgelesenen Szene, die spielt nämlich an einer Dinnerparty in New York. Hier wohnt Iris, eine der drei Frauen, um die es in diesem Buch geht. Das sanfte Dahinplätschern passt aber nicht wirklich zu dem, was erzählt wird. Und darin liegt für mich als Zuhörerin der besondere Reiz. Es wird nämlich erzählt von einem bestimmten Waldfrosch, der sich über den Winter einfrieren lässt. Blut erstarrt, keine Atmung – fast wie tot, aber nur fast. Das Interssante sei, dass der Frosch keinen Schaden nehme, weil er sich mit Glukose vollpumpe. Vom Scheintod zum Leben und immer wieder hin und her. Eine faszinierende Geschichte. Auch für Iris: «Und wie aktiviert der Frosch sein Herz im Frühling?»

Um dieses Aktivieren geht es auch im zweiten Textausschnitt. Dieses Mal schauen wir Ling über die Schultern. Sie ist eine Angestellte in einer Sexpuppenfabrik in China. Ihr Job ist die Überprüfung der Leiber auf kleine Unebenheiten, Fehler, auf überschüssiges Silikon. Sie tastet den ganzen Körper genau ab – nur den Kopf nicht, der ist tabu. Da wird ganz zum Schluss die Programmierung angebracht, denn die Sexpuppen sollen zum Denken, Reden, Reagieren gebracht werden. Wie schon bei der Froschszene beschreibt Martina Clavadetscher sehr detailliert die verschiedenen Fabrikationsstufen, die Arbeiten, die es braucht, bis so eine Sexpuppe «makellos» hergestellt ist.

Von Manfred Papst gefragt, wie fest sie von Sagen und Erzählungen beeinflusst sei, wo doch ihr Vater ein bekannter Sammler von Sagen und Legenden aus der Region sei, meint Martina Clavadetscher: «Ja, jede Form von Erzählung ist wichtig, Sagen, Urban Legends … Jede Erzählung im Roman öffnet ein Türchen zu einer neuen Erzählung. Es geht um Welten, die aufploppen.»

Manfred Papsts Fazit zum Buch: Es ist kein düsteres Buch, obwohl es krass ist. Denn die Figuren erzählen um ihr Leben. Erzählen ist die rettende Kraft in dieser Welt.

Und nach einer aufgrund der fortgeschrittenen Zeit fast hastigen Verabschiedung geht es in der Pause weiter mit Gitarrenklängen … Das Geklimper erinnert mich an die aufploppenden Welten, die ich gern demnächst lesend erkunden möchte.