Schlaflieder übers Dadasein

Endo Anaconda besingt das Dadasein in Schlafliedern, auch wenn er dadurch unter Pathosverdacht gestellt wird.

Die «seelischen Zimperlein und Neurosen der Gegenwart», so Pablo Haller in seiner Einführung, entlarve Endo Anaconda, «einer der begnadetsten Performer der Schweizer Gegenwart», wortgewaltig.

Endo Anaconda wirbelt durch unsere Sprache: Er betreibt eine poetische Etymologie, nimmt Metaphern wörtlich und kalauert. Er phantasiert zum «Bazenheidi», sinniert über «Mohnblumenträume», übers Altern und die Liebe, über die Bewahrung der Schweizer Identität – tsch tsch – oder sch sch? –, über das Corona-Jahr und über den Identitätsdiskurs.

Das musikalische Bühnenbild gestaltet der Gitarrist Boris Klečić, der auch in der Band «Stiller Haas» mit dem Sänger arbeitet. Seine Musik setzt deutliche Ironiesignale, sie ermöglicht ab und an ein Durchatmen und an manchen Stellen erhöht sie die Dringlichkeit der Worte.

Die Schalflieder sind so dicht bebildert und das Tempo so hoch, dass mir trotz der musikalischen Unterstützung fast schwindelt: Ich bin im freien Fall mit Endo Anaconda, der die Kleinen belächelt, die zwar vom Grossen träumen, aber nur das Kleine bewahren wollen. «Ich habe kein Laudanum, sollte dringend dichten!», heisst es im zweiten Lied – ein bisschen Beruhigung hätte ich vertragen können.

Und doch: Eine bissige Gesellschaftskritik liefert der Poet nicht ab – dafür müsste ihm, so wie dem alten Mann im zweiten Lied, wohl auch zuerst eine Schwester die Zähne holen. Seine Performance berührt indes dort, wo sie im Poetischen ist, wo der Stoff nicht «zerdichtet», aber der Blues hörbar wird. 

Atomsemiotik und Kung Fu

Ein Kloster zum Gedächtnis der Atomendlagerung? Auch Annette Hug traute ihren Ohren nicht so recht, als ihr diese Idee ausgerechnet auf einem Ausflug ins Felslabor Mont Terri, das die Lagerung radioaktiver Abfälle in Opalinuston erforscht, unterbreitet worden sei. Deutlich wird: Das Kernproblem ist und bleibt nicht die Technik, sondern die Tatsache, dass Atommüll auch noch in einer Million Jahren gefährlich strahlt. Wie sagen wir das unseren Nachfahren? Da scheint ein Klosterorden als stabilste Institutionsform zur Wissensübermittlung nicht mehr so abwegig. Ein Gedankenspiel, das Annette Hug für die nächsten sechs Jahre nicht mehr loslässt und darin mündet, dass sie zumindest auf literarisch-hypothetischem Boden einen solchen Orden ins Leben ruft. 

Soweit die Prämisse ihres neuen Romans Tiefenlager, den sie im Gespräch mit Lukas Gloor vorstellt. Hugs erste Neuveröffentlichung nach Wilhelm Tell in Manila, für die sie 2017 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet worden ist. Tiefenlager ist ein vielschichtiger Text, sprachlich präzise ausgearbeitet. Die drei vorgetragenen Textausschnitte zeigen denn auch die drei Ebenen, die der Roman bespielt: die Gründung und Organisation des Ordens, die Lebensgeschichten der Hauptfiguren und die Zukunftsszenarien, die sich die Ordensmitglieder gegenseitig erzählen. Und über alledem steht die Frage, wie man gewissermassen ein Warnsystem ohne «Halbwertszeit» entwickeln kann. 

Es ist wohl ungehört, dass in einem Gespräch zugleich von Atomsemiotik und Kung-Fu-Filmen der 70er, von Wissenstradierung in Klöstern und Schweizer Atomendlagerung die Rede ist. Schade nur, dass die Unterhaltung nicht so richtig ins Rollen kommt. Dass die sinnbildlichen «grossen Kisten» aufgemacht werden, nur um sie auch gleich wieder zu schliessen. Es ist jedoch definitiv ein Roman mit Tiefgang, darauf machte Lukas Gloor eingangs schon aufmerksam. Im Gespräch hätte man tiefer bohren können – trotz der äusserst knapp bemessenen vierzig Minuten. 

Hunger verbindet

Mit dem Satz «Du bist eine Sammlerin» verabschiedet Moderatorin Laura de Weck Dorothee Elmiger und spielt damit auf die Arbeitsweise der Schriftstellerin an. Elmigers Werke können keinem Genre klar zugeordnet werden, denn sie sind Roman, Journal, Recherchearbeit, Essay. Trotz ihrer Hybridität oder vielleicht genau deswegen wurden ihre drei Bücher allesamt für den Schweizer Buchpreis nominiert. So auch ihr neustes Werk Aus der Zuckerfabrik, aus dem die Autorin an den Solothurner Literaturtagen vorliest.

Zuerst spricht Elmiger aber darüber, wie sie vorgeht, wenn sie ein Buch schreibt. Immer wieder nimmt sie sich vor, «jetzt schreibe ich einen richtigen Roman», doch am Ende verletzt sie jegliches Erzählprinzip. Der Ausgangspunkt für ihre Bücher bildet das Material. Ausgehend von diesem überlegt sich die Autorin, was das Material verlangt – Fragen und Lücken sind für sie das Wichtigste und dies gelingt nur, wenn man sich eben nicht an die klassischen Erzählregeln hält.

Aus der Zuckerfabrik vereint eine Sammlung an Texten wie ein Tagebuch. Verbunden werden diese nur durch die Assoziation mit dem Thema Hunger. Die Figuren teilen den Hunger, jedoch verlangen sie nach unterschiedliche Dingen. Während die einen nach Genuss, Essen oder Ekstase hungern, äussert sich dieser bei anderen Figuren im Sinne von politischer Betätigung oder dem Mitwirken in einem Kollektiv. Der Hunger nach mehr verbindet die einzelnen Figuren und Geschichten. Ein weiteres Themenfeld bildet die Geschichte des Zuckerbaus, wie der Titel des Buches bereits vermuten lässt. Eng verbunden mit der Zuckergeschichte ist der Kolonialismus, oder besser gesagt: der Postkolonialismus. Elmiger schafft es, diesen Diskurs zu öffnen, ohne zu moralisieren, wie dies de Weck im Gespräch betont.

Zum Schluss sprechen die beiden Frauen über den Liebhaber der Ich-Erzählerin, Namens C. Denn er ist die einzige Figur im ganzen Buch, die keinen Hunger hat, auch wenn die Ich-Erzählerin immer wieder Essensangebote macht, greift C. nie zu. War das die Intention der Autorin? Nicht bewusst, aber es habe dann einfach gepasst, berichtet Elmiger. «Einfach passend» gilt auch für das fertige Buch und um mit den Worten der Moderatorin zu schliessen, möchte ich Aus der Zuckerfabrik allen ans Herz legen – auch wenn man sich zuerst an die unkonventionelle Struktur des Textes gewöhnen muss. Dranbleiben lohnt sich!

Krise und Literatur und Krise

von Linus Oberholzer und Katja Lindenmann

«Literatur und Krise» hiess das Podium offiziell. Treffender wäre aber «Corona und drei Schweizer Literaturschaffende» gewesen. Martina Clavadetscher, Gertrud Leutenegger und Alberto Nessi unterhielten sich mit Lukas Gloor über dieses omnipräsente Thema. Zugehört haben Linus Oberholzer und Katja Lindenmann. In einem Chat channelten sie dabei ihre millennial-energy und schrieben mit ihren Alter Egos Kristian_Chracht und BingeborgAchmann_1998 live über die Veranstaltung. Den Chat gibt es hier – mit einem Augenzwinkern − zu lesen.

[16:02] @BingeborgAchmann_1998
#nocoronapunintended hoffe ich doch

Krisen über Krisen...take it away Lukas Gloor
[16:03] @Kristian_Chracht
Lukas Gloor fragt gleich vorneweg: "Ob die Literatur angewiesen ist auf Krise?"
Da bin ich mal gespannt!
[16:04] @BingeborgAchmann_1998
Ich auch!

Juhu. Clavadetscher ist dabei. Ich freue mich auf ihren Input à la "Erfindung des Ungehorsams". Gehts dann wohl um Coronaskeptiker*innen?

und jetzt auch noch "Panischer Frühling" von Leutenegger, ist das ein Witz oder ein echter Corona-Roman? ...aber nein, es geht ja nur um einen Vulkanausbruch. 

Und auch kein Cyborg-Coronaskeptiker*innen-merge von Clavadetscher...
[16:06] @Kristian_Chracht
Ha! Ich bin also nicht alleine.
Auch Clavadetschers Schreiben wurde durch Corona gehemmt.
[16:09] @BingeborgAchmann_1998
Ja, wem sagst du das. Aber das find ich ja jetzt schon spannend. Corona als kreativer Shutdown oder produktiver Lock-in? Ich hab ja auch ganz viele Hobbies dazugewonnen in der Zeit. Aber ich hab ja auch keine Kinder so wie Clavadetscher...
[16:09] @Kristian_Chracht
Ja, auf jeden Fall beruhigend zu hören, dass es auch den Profis so geht.
[16:10] @BingeborgAchmann_1998
Ok, shit. Leutenegger kommt gleich zur Sache. Bäm kommt sie rein mit Coronatoten und Menschen am Existenzminimum...#tearinupoverhere ...und jetzt noch so poetisch "Wie fehlt uns die Musik vor Allem" ...ich seh sofort einen Roman vor mir. Aber ob ich den lesen wollen würde?

hui und jetzt Italienisch von Nessi. Hast du die Simultanübersetzung gecatcht?
[16:12] @Kristian_Chracht
Den ersten Satz hab ich verpasst. Aber jetzt läufts haha
[16:12] @BingeborgAchmann_1998
Haha.
Jetzt kann ich sogar noch bisschen Italienisch üben heute..unverhofft.
[16:12] @Kristian_Chracht
Nessi machte ja gleich weiter mit schockierenden Bildern. Tote, die im Lastwagen abtransportiert werden... Er schaffte es aber, in den Nächten zu schreiben. Chapeau!
[16:13] @Kristian_Chracht
ja, heftig. das find ich jetzt auch ein krasses und irgendwie inspirierendes Bild. Das der sich so in die Nacht zurückgezogen hat. Als hätte das Schreiben während Corona was Verbotenes. Weil es vielleicht grad Wichtigeres zu tun gäbe sonst? Oder ist Kunst mitunter besonders wichtig zu dieser Zeit? Darum sollte es doch jetzt gehen und nicht um das Griechische Wort crisis, das Gloor einwirft und laaange ausführt. da hab ich grad schon etwas abgeschaltet...
[16:14] @Kristian_Chracht
Da fällt mir ein Satz eines Dozenten ein: "Wer kein Griechisch kann, kann gar nichts" haha
[16:14] @BingeborgAchmann_1998
hahaha. #truethat wenn es nach Gloor geht.

JAWOHL Nessi, ein positiver Krisenbegriff bitte. Den brauchen wir jetzt.
[16:14] @Kristian_Chracht
Mal schauen, wie er das meint. 
[16:16] @BingeborgAchmann_1998
Nessi ist ja super. Die Krise als Inspiration oder als Impetus würde Gloor vielleicht hören wollen...
[16:16] @Kristian_Chracht
Die Krise also nicht als Ursprung des Schreibens. Sie soll lediglich dabei helfen, das, was man zu sagen hat, auch ausdrücken zu können.
Wie verstehst du das?
[16:18] @BingeborgAchmann_1998
Hmm...ich habs jetzt so verstanden, dass die Krise halt bewegt und Bewegung bringt neue Perspektiven. Dann kann man vielleicht was sagen, was man sonst nicht auszudrücken vermocht hätte.
#imapoettoo
[16:21] @Kristian_Chracht
Jetzt ein interessanter Input von Clavadetscher: Die Corona-Krise ist uns zu nahe, um gleich darüber schreiben zu können. Wir brauchen Zeit, um die nötige Distanz dazu zu gewinnen.

Und Nessi schliesst gleich an. Es braucht das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zur Krise.
[16:23] @BingeborgAchmann_1998
Ja, finde ich auch spannend. Sowieso der Zeitaspekt. Die Gleichzeitigkeit, die Unmittelbarkeit zur Krise lähmt, wie es Clavadetscher sagt, und dann Nessi, dass alles durch die Coronasituation angehalten wurde. Aber viele sagen doch auch, dass sie jetzt so viel Zeit hätten? #sauerteigbrot

Kraut-Funding. haha. good one @Gloor
[16:24] @Kristian_Chracht
Haha!

Leutenegger ist schockiert!
Für sie hat Literatur nichts mit Aktualität zu tun.
[16:24] @BingeborgAchmann_1998
Ja, blick ich nicht. Literatur an die Aktualität rantragen findet sie komisch.

Ohaaa, jetzt aber. Journalismus vs. Literatur also. Das geht ja in das rein, was Clavadetscher auch gesagt hat. Je näher am Geschehen, desto eher geht es ins Dokumenatarische.
[16:25] @Kristian_Chracht
Ich hoffe, das führt sie noch aus!
[16:26] @BingeborgAchmann_1998
Clavadetscher übernimmt und führt aus: Wenn Literatur auf Aktualität trifft, kann Sprache deformieren usw. Das macht jetzt wieder mehr Sinn für mich. Deformation finde ich da ein schönes Wort.

Wie verstehst du das?
[16:26] @Kristian_Chracht
Sie findet, dass Literatur durchaus auf Aktualität reagieren kann. Dann aber eher als Spiegel.
[16:27] @BingeborgAchmann_1998
Hm, yesyes. Und jetzt noch eine Anekdote von Leutenegger...ich brauche kürzere Antworten #girlpls
[16:27] @Kristian_Chracht
Leutenegger spricht wohl gerne in Bildern haha
[16:29] @BingeborgAchmann_1998
jap.

Die Literatur muss nicht das Schlachtengetrümmer der Aktualität zeigen, sagt sie.. hmmm. Ich weiss ja nicht.

Sie hat ja schon vorher gesagt, dass sie die unmittelbare Abhängigkeit von Literatur zur Krise als obszön empfinden würde. Also wenn man sagt, dass die Literatur die Krise braucht. Da wolle sie nicht Teil davon sein.
[16:29] @Kristian_Chracht
Da sind mir Nessis Aussagen jetzt viel näher!
[16:30] @BingeborgAchmann_1998
same here!
Ich verstehe schon, was sie meint. Aber irgendwie bin ich auch eher Team Nessi/Clavadetscher. Obwohl die ja eh alle nicht so riichtig ins Gespräch kommen...

Nessi sagt es jetzt ja auch schön: klar, es braucht kein Abbild der Realität. Aber einen Blick darauf.
[16:31] @Kristian_Chracht
Genau. Leutenegger findet ja, Literatur könne die Gegenwart nicht beeinflussen. Das ginge lediglich mit Flugblättern usw. Aber das sei dann natürlich keine Literatur. Spezielle Ansicht, finde ich.
[16:32] @BingeborgAchmann_1998
Ich auch. 

jöh, jetzt hat sie auch noch Italienisch gesprochen. Ihr sei ein Missverständnis passiert. und Nessi nur so: "si, grazie" #grosseskino
[16:34] @BingeborgAchmann_1998
Sie hat also gemeint, sein lyrisches Buch, das sie als Bestiarium beschrieben hat, sei der einzige Beitrag zur Coronakrise gewesen...und dann war sie enttäuscht über sein Corona-Tagebuch, das auch noch rauskam. Ich will beides gerne lesen.
[16:34] @Kristian_Chracht
Leutenegger übernimmt mit ihren komplett neuen Inputs ab und an die Rolle des Moderators. Findest du nicht auch?
[16:35] @BingeborgAchmann_1998
voll! Ich wünschte, dass mehr ein Gespräch entstehen könnte. So sehr ich Nessi auch in Italienisch und Französisch gerne zuhöre...da hilft die Übersetzungshürde halt auch nicht.
[16:37] @Kristian_Chracht
Total!
Und jetzt kommt noch die Resilienz ins Spiel. Trifft ja voll den Zeitgeist.
[16:38] @BingeborgAchmann_1998
Mhm. Und dann noch mit Sigmund Freud...

Nessi ist totaler Optimist. Das ist ganz erfrischend. Der schöpft aus der Krise...er spricht ja vom Bewusstsein der eigenen Fragilität, die Corona schafft und die anrege. Uh, da wird Leutenegger auch wieder getriggert.
[16:39] @Kristian_Chracht
Mal eine ganz neue Sichtweise. Tut echt gut!
[16:40] @BingeborgAchmann_1998
Immer wieder also die Krise als Katalysator.

Mhm. sorry to break it to you, aber Gloor will jetzt über Geflüchtete sprechen.
Sicher ein wichtiges Thema! Jetzt wirds spannend...?
[16:40] @Kristian_Chracht
Ganz im Stil eines Journalisten. Negativität verkauft sich halt besser haha
[16:43] @BingeborgAchmann_1998
ha! Wobei, ich hatte mir ja gewünscht, dass es nicht nur um Corona in unserer Luxusbubble geht. here we go also: Soziale Fragilität.

Jetzt spricht Nessi das direkt selber an...wir seien durch die Krise auf das Essenzielle des Lebens zurückgeworfen und müssen unseren Stolz wegwerfen usw.

Tun wir - ich meine jetzt uns Menschchen, die uns hier virtuell fröhlich tummeln können - das aber? #privilegedtothemax
[16:45] @Kristian_Chracht
Ein spannender Ansatz. Aber bei der Essenz des Lebens sind wir auch jetzt noch nicht angelangt. Da geht es uns echt zu gut, wie Gloor behauptet.
[16:45] @BingeborgAchmann_1998
you go @Gloor! jetzt bringt er selber "Schweiz-Bashing" rein. und Leutenegger findet die Pandemie bei uns genauso dringlich wie sonst wo auf der Welt...? ok...ganz ehrlich wtf
[16:49] @Kristian_Chracht
haha Leutenegger einmal mehr schockiert.

Clavadetscher fasst den Gedanken klarer. Sie findet, die Schweiz darf auch als reiches Land Turbulenzen haben. Und wie ich finde hat sie recht, dass man nicht IMMER relativieren soll...
[16:49] @BingeborgAchmann_1998
Jaja, das finde ich schon auch. Es geht halt um ein Bewusstsein. Und das eigene Privileg checken und die eigene Krise dennoch nicht ausblenden - vor allem in Hinblick auf verschiedenste Bevölkerungsschichten - ist mega wichtig. Ich bin froh, hat sie sich hier eingeschaltet. Sie kommt etwas zu kurz, sagt aber immer super spannende Sachen.
[16:50] @Kristian_Chracht
Genau. Sie spricht nicht oft. Aber wenn sie spricht, dann immer sehr prägnant.
[16:50] @BingeborgAchmann_1998
Ja, total.

Gebe ihr da auch klar Recht: Die Schweiz glänzt nur an der Oberfläche.
[16:50] @Kristian_Chracht
Gloor leitet die Diskussion hier in eine gute Richtung.
[16:51] @BingeborgAchmann_1998
Ja, finde ich auch. 

huh. Und Nessi kommt echt noch einmal mit dem Griechischen... du solltest Recht behalten..oder eher dein Lehrer. Crisis jetzt im Sinne von "Entscheidung".
[16:51] @Kristian_Chracht
Ja, leider haha
Hier ist das Beispiel durchaus berechtigt.
[16:51] @BingeborgAchmann_1998
Da wären wir ja wieder bei der Bewegung, die Krise auslöst.
[16:52] @Kristian_Chracht
Leutenegger bashed jetzt Klischees.
Aber recht hat sie!
[16:53] @BingeborgAchmann_1998
Ja. das war jetzt nicht schlecht: Nicht die Schwez ist langweilig, sondern die Klischees sind es. langweilig finde ich eh nicht das richtige Wort... ich finde das spannender, was Nessi auch schon angesprochen hat: Literatur ist in der Schweiz auch ein Luxus. 

Und aus dieser Perspektive muss man sie auch lesen. Das ist ein Privileg und macht sie aber inhaltlich sicher nicht per se irrelevanter.
[16:54] @Kristian_Chracht
Genau, es ist immer eine Frage der Perspektive.
[16:55] @BingeborgAchmann_1998
mhm. und Nessi noch einmal wunderbar: Dass es um das Gewöhnliche geht, das in der Literatur schön gemacht wird. Und dann auch politisch: Wir müssen mit gewöhnlicher Sprache beginnen, für alle und für andere sprechen, sagt er so ungefähr. Finde isch spannend.
[16:57] @Kristian_Chracht
Literatur kann vieldeutig sein. Wie Clavadetscher sagt, hat die Literatur ganz andere Spielregeln als die Realität. Und das ist gut so!
[16:58] @BingeborgAchmann_1998
Finde ich auch. Und jetzt zum Abschluss, die Frage, ob die Autor*innen einen Corona-Roman schreiben werden.

Klares nein von Leutenegger. Aber hast du ihre genaue Antwort verstanden? Was war das mit der Mitte der Welt?
[16:59] @Kristian_Chracht
Ja, etwas gar kryptisch. 
Nessi bleibt nichts anderes übrig, als ihr einfach mal zuzustimmen haha
[17:00] @BingeborgAchmann_1998
Ja, und dann damit zu ergänzen, was er schon ein paar mal angedeutet hat: er schreibt persönlich. Und in diesem intimen Schreiben ist die Pandemie drin, ohne, dass sie konkret angesprochen wird oder werden muss.
[17:01] @BingeborgAchmann_1998
So und das wars. Ich bin raus. #cherriioo #feierabendbierichkomme tüdelüü Kristian...lass es chrachen^^
[16:51] @Kristian_Chracht
haha. Ach Mann. tüdelüü.

Literatur und Krise

Ob die Überschrift Literatur und aktueller Zustand besser geeignet wäre? Jein, wir befinden uns zwar Mitten in der Krise, aber diese wird es immer geben. So wie sie kommen, werden sie auch wieder vorbeigehen. Der Zustand der Krise hat viele Bedeutungen. Manche betreffen unser Privatleben, andere die gesamte Weltbevölkerung. Doch wie geht die Literatur damit um? Das Podium wird eröffnet von Lukas Gloor und Martina Clavadetscher, Gertrud Leutenegger und Alberto Nessi steigen in die Diskussion ein.

Man könnte denken, in krisenreichen Jahren hätten Autor*innen mehr denn je Zeit um zu schreiben. Doch Getrud Leutenegger sowie Martina Clavadetscher waren zu Beginn der Corona-Krise in ihrem Schreibprozess erst einmal gelähmt und gehemmt. Das kennen wir wohl alle – eine neue Situation stellt einen vor neuen Herausforderungen. Alberto Nessi erzählt, sein Schreibprozess sei sonst sehr langsam. Doch im Krisenzustand konnte er nicht schlafen und begann nachts spontan zu schreiben – so entstand in drei bis vier Monaten sein Tagebuch mit Reflexionen über Existenz und Erinnerungen. Er schreibt nicht über die Pandemie, vielmehr war diese der Vorwand, um zu schreiben. Dabei setzte er sich mit seinem Inneren und seinen Erfahrungen auseinander. 

Nun stellt sich die Frage: Braucht die Kunst die Krise? Eine Krise kann Ideen geben und etwas auslösen. Sie macht der Menschheit die Vergänglichkeit bewusst. Sie zeigt, wie zerbrechlich wir sind. Krisen sind vielfältig. Im Wörterbuch gibt es zum Stichwort «Krise» über 100 Varianten. Jede*r hat sein eigenes kleines Päckchen zutragen. Es gibt individuelle Krisen und solche, die unsere ganze Gesellschaft betreffen. 

Subjektive oder persönliche Krisen können als Katalysator genutzt werden und Martina Clavadetscher beschreibt diesen Prozess als Heilung. Krisen veränderten die Umstände, welche dann wieder mit neuer Poesie gefüllt werden könnten. 

Gertrud Leutenegger schrieb nicht über die Corona-Krise, obwohl diese Teil unseres Lebens geworden ist. Sie widmet sich der Flüchtlingskrise und schildert diese in ihrem Buch so, dass sie ein Teil unserer Gedankenwelt wird. Sie möchte, dass sich diese Thematik mit unserer Gedankenwelt, mit unseren Fluchterlebnissen und seelischen Nöten vermischt.

Kann man als Autor*in in der Schweiz überhaupt über Krisen schreiben? Die Schweiz ist ein friedvolles Land. Mit Blick auf andere Länder ist die Schweiz vielleicht sogar ein Land, welches kaum Krisen durchleben musste. Ein schlechter Lehrboden? Gibt es zu wenig Krisen, zu wenig Dringlichkeit? 

Sie sind sich alle einig: Die Schweiz kann wunderbare Schriftsteller*innen hervorbringen. Martina Clavadetscher führt ausserdem an, dass nicht alles, was glänze, immer auch Gold sei. Auch darunter kann Dreck liegen. Man könne es auch in der Schweiz noch besser haben, als es jetzt sei, denn jede Gesellschaft habe ihre Probleme, welche noch gelöst werden könnten. 

Gertrud Leutenegger führt an, dass ein chinesischer Grundsatz besage: Der wesentliche Punkt ist, das Grosse klein zu machen und das Kleine gross. Dazu brauche es beim Schreiben die Distanz. Man muss nah genug am Geschehen sein und trotzdem auch distanziert genug, um sich der Thematik anzunehmen.
Die Kunst lebt von innen!

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung… reloaded!

Der Unvollendete ist der zweite Roman des 37-jährigen Lukas Linder. Ähnlich wie der vor drei Jahren erschienene erste Roman Der Letzte meiner Art steht in seinem Zentrum ein Anti-Held. Diesmal trägt er den Namen Anatol Fern, ist erfolgloser Schriftsteller, verdient sein Geld als «Allrounder» in einem Altersheim und scheitert in der Liebe.

Nun könnte man denken, die Lektüre dieses Romans sei ein bedrückendes Erlebnis. Doch das Gegenteil ist der Fall! Die Lektüre macht echt Spass, und das Buch ist eines der wenigen Beispiele aus der Schweizer Gegenwartsliteratur, wo der Humor zu seinem angestammten Recht kommt.

Darauf lag denn auch der Hauptakzent des Gesprächs, das Thomas Strässle mit dem Autor führte. Wie kommt dieser Humor zustande? Welche Funktion hat er?

Zum einen bietet der Roman eine witzige Wissenschaftssatire: Geschildert wird ein (vermeintlich?) triumphaler Auftritt des Protagonisten an einem Mykologenkongress in Lodz, dem allerdings ein fundamentales Missverständnis zugrunde liegt. Zum anderen enthält er eine saftige, teilweise geradezu slapstickartige Parodie auf den Literaturbetrieb. Aber Hauptgegenstand des humoristischen Geschehens ist der Protagonist selber. Für Lukas Linder geht es in diesem Buch, wie er im Gespräch sagte, um die Darstellung von Ferns «Sehnsucht nach dem richtigen Leben». Diese Sehnsucht sei allerdings so stark, dass Fern die Fähigkeit zu einer realistischen Selbsteinschätzung verliere. In dieser Diskrepanz zwischen realem und imaginiertem Selbst liege die Ursache für manche der witzigen Situationen, in die er gerät. Sie ist zugleich – als «Charakterschwäche» – Grund für die Sympathie, die der Erzähler, aber auch die Lesenden der Figur Anatol Fern entgegenbringen, denn diese Diskrepanz kennen wir alle.

So erklärt sich auch der Titel: «unvollendet» wird hier nicht als defizitärer Begriff verstanden; sondern es ist gerade das Unvollkommene, die Macke, der Klacks, eine manchmal bis ins Groteske reichende Verschrobenheit des Selbstverständnisses, die den Protagonisten menschlich erscheinen lassen. «Ein vollkommenes Leben wäre ein unmenschliches Leben», darin waren sich die beiden Gesprächspartner einig.

Mir sind nach der Lektüre der beiden Romane von Lukas Linder und dem Gespräch zwischen ihm und Thomas Strässle zwei literarische Reminiszenzen in den Sinn gekommen. Zum einen: Sind die beiden Texte nicht eine treffende Illustration von Ringelnatz› Diktum, wonach Humor der Knopf ist, der verhindert, dass einem der Kragen platzt? Und zum anderen scheinen mir Alfred von Aermel und Anatol Fern – die Protagonisten der beiden Romane – einen Bruder im Geiste zu haben, der vor genau 100 Jahren aus einer ähnlichen Erzählhaltung heraus beschrieben worden ist, und zwar in Italo Svevos grossartigem Roman Zeno Cosini.

Lukas Linder, Der Unvollendete, Zürich (Kein&Aber) 2020

Das ist mein Riff

Am Sonntag, 16. Mai 2021, um 13 Uhr ist Thilo Krause Gast bei Manfred Papst. Krause ist bekannt geworden mit seinen Dichtungen, die durch Musikalität und Gedankentiefe bestechen. Mit Elbwärts legt er seinen ersten Roman vor.
Er habe aber bereits vor diesem Roman seine Schubladen mit Prosa gefüllt. Und in Bezug auf die Initialzündung zu seinem Roman meint er: «Es hat mich gefunden, ich habe zu schreiben begonnen – und dann war der Ton da.» Diesem Ton – lyrisch, behutsam, dicht und doch unprätentiös – hört man gerne zu.

Die drei vorgetragenen Passagen geben denn auch einen guten Einblick in seinen Roman. Der Ich-Erzähler kehrt zurück in seine alte Heimat in der Sächsischen Schweiz. Er zieht mit Christina und der kleinen Tochter in ein Haus, treibt sich aber die meiste Zeit im Wald und auf Felsen herum und schaut «von seinem Riff» aus auf sein neues Zuhause und auf das von Vito, seinem damaligen Schulfreund. Mit Vito ist er schon damals immer im Wald herumgestromert. Auch nach dem verhängnisvollen Kletterunfall, bei dem Vito ein Bein verloren hat, sind die beiden auf den Felsen anzutreffen. Der erwachsene Ich-Erzähler will an diese Freundschaft anknüpfen, wird aber durch Schuldgefühle daran gehindert. Erst mit der Zeit gelingt die Kontaktaufnahme – und Christina glaubt nach wie vor, sie seien nur «wegen der Apfelbäume» in diese Gegend gezogen.

Es geht also um Schuldverstrickung, aber wohl auch um Neid. Denn Vito ist dort geblieben, er ist quasi dort kleben geblieben – er kann sich ja auch nicht mehr recht fortbewegen wegen seines amputierten Beins. Er beneidet den Ich-Erzähler, der sich getraut hat wegzugehen, dem in der Fremde aber klar wird, dass ihn etwas in die alte Heimat zurückzieht. Da kommt der Neid auf den Daheimgebliebenen.

Bevor Thilo Kraus zum Abschluss einen längeren Abschnitt liest und uns erzählt, wie der Ich-Erzähler zusammen mit dem handicapierten Vito mit einem Moped und einer Sackkarre in den Wald fährt, spricht Manfred Papst die unglaubliche Zärtlichkeit des Ich-Erzählers gebenüber seiner Tochter an. Dies führt zur Frage: «Du bist selbst Vater. Hat dieser Umstand dein Leben, dein Schreiben verändert?» Thilo Krause pflichtet ihm bei. Es sei in der Tat so, dass er erst richtig zu einem Autor geworden sei, seit er Kinder habe. Er habe dadurch einen anderen Blick auf die Welt bekommen. Es reiche nicht mehr, Nihilist zu sein, man könne nicht mehr ausweichen, man werde mit vielen Sachen konfrontiert, werde quasi im positiven Sinn aus der Komfortzone geschoben.

Aber auch dass er von Haus aus eigentlich Elektroingenieur sei, beeinflusse sein Schreiben. Thilo Krause war lange Jahre in der Forschung tätig, unter anderem an der ETH Zürich, er hat eine wissenschaftliche Karriere verfolgt und sich dabei «einen Reim auf die Welt gemacht». Während es in der Wissenschaft wichtig sei, dass das Schlussresultat quasi objektiv ohne seine Erfinder*innen dastehen könne, sei es in der Literatur doch so, dass man immer noch die Person hören wolle, die oder der diesen Text erschaffen habe. Aber im Grunde genommen berührten sich Geistes- und Naturwissenschaft doch sehr stark – so das Schlussvotum von Thilo Krause.

Wenn ich mir da nochmals die unglaublich schönen atmosphärischen und doch sehr präzisen Schilderungen der Natur – des Walds, der Felsen, der Elbe – in Elbwärts vergegenwärtige, dann kann ich ihm da nur zustimmen.

Ein technoider Text mit Herz

Li Mollet setzte in der Textwerkstatt Skriptor fünf Kolleg*innen unveröffentlichte Lyrik zur Diskussion vor. Nicht alle waren sich in der Wertung der Texte einig. Teilweise flogen sogar richtig die Fetzen.

Donat Blum moderierte den Anlass als eine Runde von «Kolleg*innen» und eben nicht «Kritiker*innen» an. Vielleicht begründet das, warum bei der Auseinandersetzung mit Li Mollets unveröffentlichter Lyrik nicht immer ein sachlicher Ton gewählt wurde. Als Expert*innen äusserten sich fünf Lyrik-Schaffende kritisch zu 15 Siebenzeilern aus einem geplanten Werk, die Mollet zunächst einmal vorlas. Dass die Veranstaltung per Zoom stattfand, war dabei ein Vorteil. Die Gesichter der Zuhörenden waren gut sichtbar und als Teilnehmerin reizte es, die Reaktionen zu deuten. Ob ein Lächeln hie und da späteres Lob am Text schon verraten würde? Oder ob es auch Stirnrunzeln, einen desinteressierten Blick in die Kamera geben würde?

Das Lächeln täuschte bei den meisten nicht. So teilte nach der Lesung Ruth Loosli als erste ihren durchwegs positiven Eindruck mit den anderen. Die Seeländerin verstand Mollets Entwurf als anregender Lückentext. Sie sprach von Wurzeln, die die Texte für sie schlagen würden und der sich dadurch aufsprengenden Oberfläche. Für sie gehe es in den Texten um Existenzfragen und den menschlichen Spieltrieb. Wer sich über den seinerseits lyrisch ausformulierten Texteindruck freute, wurde von Thilo Krause aus der wohlwollenden Atmosphäre jäh herausgerissen.

Der hatte nicht gelächelt beim Zuhören. Er machte von Anfang an klar, dass ihm die Texte nicht gefallen. Mollets Lyrik misslinge der Versuch, über das Anekdotische hinauszukommen. Das lyrische Du, das in allen Texten vorkommt, breche mit Allgemeinplätzen in die Szenen hinein und zerstöre jegliches Potenzial, sich in den Texten zu orientieren. Krause forderte: Mehr Ich, weniger Du. Das Du interessiere nicht.

Nicht nur den unbeteiligten Zuschauer*innen war dieser Stimmungswechsel wohl etwas zu heftig, auch die Moderation schaltete sich hier kurz ein und presste Krause dann doch noch ein gutes Votum heraus: Einige Sätze seien ganz schön. Und zwar diejenigen, die nichts wollen würden. Germanist und Lyriker Wolfram Malte Fues übernahm in der Diskussion – wohl eher unverhofft – die Rolle des Gegenspielers von Krause. In einer Detailanalyse nahm er einen Siebenzeiler Mollets auseinander und zeigte dabei die Vielschichtigkeit ihrer Sprache. Er machte deutlich: Sie will nicht nur, sie kann. Mit der Arbeit am Text ging es gefühlt endlich zur Sache.

Endlich wurde in dieser Textwerkstatt über knifflige Details gesprochen. Dass es dabei um einen Pilz und dessen Aussehen gehen würde, hätten sich die Zuschauenden wohl aber nicht gedacht. Ob Morchel oder Lorchel mit braunem oder beigem Hut bis zum Vorwurf – auch hier von Krause – dass Mollet den Pilz doch sicher verwechselt oder ahnungslos beschrieben habe, kurzum: die Diskussion wurde absurd. Mollet, die sich das Ganze ungefragt anhören musste, konnte nur darüber lachen.

Überhaupt fand wenig Dialog und Arbeit an den Texten statt. Die Veranstaltung drohte besonders zu Beginn eher in einen Austausch von persönlichen Leseeindrücken abzusinken. Die waren durchaus spannend, aber ganz ungelegen kamen die bissigen Kommentare von Krause deshalb doch nicht. Immerhin regte er an – und auf.

Er werde bewusst polemisch, gab er vorweg, als er auf die Wahl der Lyrikform in Siebenzeilern einging. Das diene doch höchstens der Coolness. Die Sätze seien absolut beliebig, ausserdem fokussiere Mollet viel zu stark auf das tell und ignoriere damit den Leitsatz show, don’t tell. Leonor Gnos liess sich davon nicht provozieren und lobte die Sprunghaftigkeit der Texte. Musikredaktor und Lyriker Claudio Landolt ging zwar zunächst mit Krause mit und gab zu, dass er sich nach der ersten Lektüre verloren gefühlt habe. Auf den zweiten Blick habe er sich aber verliebt. Es sei ein «technoider Text mit Herz», der von wunderschönen Nebensächlichkeiten mit zärtlicher Grausamkeit erzähle.

Fues blieb nicht so ruhig. Er feuerte kräftig zurück und meinte nur: «Wenn wir schon polemisch sein wollen, dann richtig.» Die Idee des show, don’t tell sei doch völlig veraltet. Literatur ziele auf einen Diskurs ab, sie solle die «Verhältnisse zum tanzen bringen» und nicht Dinge unmissverständlich beschreiben. Dazu habe man schliesslich die Wissenschaft.

Am Ende der Veranstaltung brachte sich dann auch noch das Publikum ein und Mollet erhielt das letzte Wort. Ihre Zurückhaltung während der gesamten Diskussion war teilweise fast nicht auszuhalten. Mehr Redezeit von ihr wäre wünschenswert gewesen. Fast schon bereute es die Zuschauerin, dass sie Krause nicht in gleichem Ton begegnet war. Ihre selbstbewusste Zurückhaltung aber passte zu den vorgelegten Texten: Die brauchen Zeit, schaffen intime Denkräume und lassen bei aller Ernsthaftigkeit und politischer Sprungkraft immer auch ein Lächeln zu.

Was Mollet nun konkret von dieser Diskussion mitnehmen soll, das blieb für die Zuschauenden zusammenfassend unklar. Eins lässt sich jedoch sagen: Über diese Lyrik lässt sich streiten.

Frères Loups

La famille, n’est-elle pas fascinante ? Nous ne pouvons pas choisir notre famille, alors même qu’il n’y a aucune communauté qui a autant d’influence sur notre vie. Même dans le 21e siècle si globalisé, l’importance du réseau social local est indispensable. Particulièrement dans les périodes de la pandémie, quand on écoute la discussion au moyen d’un écran , l’importance des relations familiales est inestimable. On ne s’étonnera donc pas que le thème de la revue suisse d’échanges littéraires Viceversa soit « Histoires de familles ».

Un groupe de loups; peut-être qu’il s’agit de frères?

Lors du vernissage du quinzième numéro de la revue, un cercle quadrilingue de contributeurs lisaient et discutaient leurs contributions respectives: le Tessinois Fabio Andina, le Suisse romand Benjamin Pécoud, la Suisse alémanique Zora del Buono et une représentante de la littérature romanche, Gianna Olinda Cadonau.

Le premier texte discuté était le conte « Vaterlos » de Zora del Buono. Il s’agit d’une anecdote racontée par une semi-orpheline lors d’un séjour familial au Tessin. Un élément central est la Ferrari du père défunt de la narratrice. Mais la « Ferrari » est-elle vraiment ce qu’on pense ? La discussion met également en valeur la traduction comme expression artistique. Benjamin Pécoud, qui a traduit le conte, explique son choix de titre: « Sans père » au lieu de « Orpheline ». La grande difficulté quand on traduit une langue agglutinante comme l’allemand consiste dans le fait de devoir tenir compte que deux mots identiques peuvent avoir des connotations variées dans des langues différentes.

« Vie dans les bois » de Fabio Andina (lu en italien), explore la relation entre deux frères. Ils se disputent, se réconcilient et étudient leur relation familiale. Jusque là, tout est clair et habituel, mais juste avant la fin du conte, le narrateur révèle qu’il ne s’agit pas de deux frères ordinaires: les deux « hommes » poilus ne sont pas du tout des hommes, mais des loups. Ce choix est certainement pertinent: d’une part, on sait que les loups sont des animaux sociaux, de l’autre, le loup est un thème très controversé en Suisse. En fait, la révélation finale ajoute un deuxième rebondissement au conte: le collier qui est mentionné est en fait un traceur GPS. Donc, même dans la fiction, l’influence humaine est inéluctable.

La vernissage se termine avec la lecture d’un choix de poésies bilingues (allemand/romanche) de Gianna Olinda Cadonau. Un premier poème est adressé à son père, un second à sa mère et un dernier à la maison paternelle. Ils s’agit trois fois du même texte en deux langues différentes, écrit de la même plume, et pourtant, on a l’impression d’entendre des poèmes différents. N’est-ce pas fascinant qu’on s’imagine une maison sur un pente au-dessus de Disentis lors de la lecture en romanche, mais une maison urbaine en pleine ville lors de la lecture en allemand ? Cadonau révèle également qu’elle n’a pas de langue préférée dans laquelle elle rédige ses textes, mais que cela est un processus spontané : certains textes naissent en romanche puis sont traduits en allemand, et vice-versa.

Après avoir lu un livre, on se demande souvent ce qui en reste. Ces contes et poèmes donnent indubitablement un sens accru de la connectivité : une connexion entre l’homme et la nature, des connexions familiales et enfin des connexions entre les régions linguistiques suisses.

Claudio Landolt: Nicht die Fülle nicht Idylle nicht der Berg

Die Töne flirren und girren und surren und gurgeln und rumpeln und dröhnen und dösen und pfeifen und keifen bei Claudio Landolt. Es ist die Performance zu seinem multimodalen Werk Nicht die Fülle nicht Idylle nicht der Berg. Um den im Titel negierten Berg handelt es sich dann trotzdem in diesem Buch. Der 37-jährige Glarner hatte sich nämlich zum Ziel gesetzt, den Vorderglärnisch – den «alten Chlotz» – zu dem er jeden Tag emporschaut, als Geräuschkulisse einzufangen. Wie klingt diese perfekte «Triangel von einem Berg»? Gar nicht, habe sein sechsjähriger Sohn zunächst behauptet, was für Landolt die Initialzündung zu einem Field-Recording-Projekt gab, aus dem letztlich auch ein Buch hervorging.

Zunächst waren da aber die Aufnahmen. Über hundert Stunden sind es, Aufnahmen elektromagnetischer Felder, aufgespürt auch mithilfe eines Seismografen. Der Berg schwingt in einer Eigenfrequenz, mit blossem Ohr nicht hörbar; aber schneller abgespielt, fängt der Glärnisch auch für den Menschen an zu klingen. Und nicht nur der Berg wurde aufgenommen, auch was auf ihm und an ihm ist, das Seil einer Heubahn als alternative E-Gitarre oder der Widerschall einer mit einem Alphorn beblasenen Wand – alles sammelte der Ohrenmensch Landolt, der später im Gespräch mit Nora Zukker sagen wird, dass er eine Leidenschaft für Störgeräusche habe.

An der Performance erlebt das Publikum die Symbiose zwischen einem dramaturgisch überzeugend aufbereiteten Klangstück und einem Ensemble von Texten, die auf dem Fundament der Tonaufnahmen entstanden sind. Die Texte sind dabei eine weitere Art, den Klang des Bergs zu verarbeiten. Denn Sprache sei auch Klang, einfach semantisch aufgeladen, meint der Musiker, der durch dieses Werk unverhofft auch zu einer Art Autor geworden ist.

Diese Performance von Nicht die Fülle nicht Idylle nicht der Berg funktioniert. Die auf dem Buchcover schemenhaft skizzierten Bergbänder leuchten übergross in Pink auf einer Leinwand, die Szenerie wirkt wie elektrisch aufgeladen, der «Gleiterbach» reisst tatsächlich durch Landolts Mund, das «seismische Rauschen» beginnt Geschichten zu erzählen. Die Inszenierung aus Klang, Sprache, Geräusch und Bild wirkt betörend, obsessiv, fesselnd. Man spürt dabei auch den Bühnenkünstler Claudio Landolt. Rhythmus, Übergänge, Dynamik, Stimmungen – diese Klaviatur beherrscht er. Aber ohne seine Präsenz möchte man sich weder das Klangstück noch das Buch vorstellen, denn für sich allein sind seine «Flausen», wie sie der Field-Recording-Artist selber bezeichnet, dann doch allzu abgespaced.

Dass Nicht die Fülle… entrückt, sperrig und technisch wirkt, hat auch mit Landolts Einstellung zu «Berg-Kitsch» zu tun. Im Gespräch mit Nora Zukker gibt er freimütig zu, dass sein Werk, eigentlich die Abschlussarbeit von seinem Studium an der ZHdK, vor allem auch eine Negation von ebendiesem Kitsch darstellt. Nur ja keine Idylle, nur ja kein Heidi, nur ja keine Toblerone. Hier schert Claudio Landolt etwas gar viel über einen (Berg-)Kamm. Das Antiprogramm haftet dem Projekt als hinderliches Kalkül an, was nur schon die Negationen im Titel verraten. Nicht einmal den Berg lässt dieser noch stehen.

Das Problem daran: Durch die Negationen nimmt das, was nicht sein soll, gerade Überhand. Das verhinderte Alphorn beschwört die Klangleitern erst recht herauf, und der Nicht-Alpsegen lässt ihn erst recht auferstehen.

Ironischerweise ist Landolts Performance gerade da am stärksten, wo menschliche Emotion spürbar wird. Die Sprachmemos, die eigentlich gar nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten, integrierte er aus einer Laune heraus in die Performance. Man hört hier den Klangkünstler, wie er über die Herbststimmung am Berg sinniert, über dessen mächtige Ruhe, die den Winter zu antizipieren scheint. Dazu Atmen und Gehen, die Begegnung von Mensch und Berg. Davon hätte Landolt mehr in sein Experiment einfliessen lassen können, denn: nicht jede menschliche Regung am Berg ist Kitsch.