Das ist mein Riff

Am Sonntag, 16. Mai 2021, um 13 Uhr ist Thilo Krause Gast bei Manfred Papst. Krause ist bekannt geworden mit seinen Dichtungen, die durch Musikalität und Gedankentiefe bestechen. Mit Elbwärts legt er seinen ersten Roman vor.
Er habe aber bereits vor diesem Roman seine Schubladen mit Prosa gefüllt. Und in Bezug auf die Initialzündung zu seinem Roman meint er: «Es hat mich gefunden, ich habe zu schreiben begonnen – und dann war der Ton da.» Diesem Ton – lyrisch, behutsam, dicht und doch unprätentiös – hört man gerne zu.

Die drei vorgetragenen Passagen geben denn auch einen guten Einblick in seinen Roman. Der Ich-Erzähler kehrt zurück in seine alte Heimat in der Sächsischen Schweiz. Er zieht mit Christina und der kleinen Tochter in ein Haus, treibt sich aber die meiste Zeit im Wald und auf Felsen herum und schaut «von seinem Riff» aus auf sein neues Zuhause und auf das von Vito, seinem damaligen Schulfreund. Mit Vito ist er schon damals immer im Wald herumgestromert. Auch nach dem verhängnisvollen Kletterunfall, bei dem Vito ein Bein verloren hat, sind die beiden auf den Felsen anzutreffen. Der erwachsene Ich-Erzähler will an diese Freundschaft anknüpfen, wird aber durch Schuldgefühle daran gehindert. Erst mit der Zeit gelingt die Kontaktaufnahme – und Christina glaubt nach wie vor, sie seien nur «wegen der Apfelbäume» in diese Gegend gezogen.

Es geht also um Schuldverstrickung, aber wohl auch um Neid. Denn Vito ist dort geblieben, er ist quasi dort kleben geblieben – er kann sich ja auch nicht mehr recht fortbewegen wegen seines amputierten Beins. Er beneidet den Ich-Erzähler, der sich getraut hat wegzugehen, dem in der Fremde aber klar wird, dass ihn etwas in die alte Heimat zurückzieht. Da kommt der Neid auf den Daheimgebliebenen.

Bevor Thilo Kraus zum Abschluss einen längeren Abschnitt liest und uns erzählt, wie der Ich-Erzähler zusammen mit dem handicapierten Vito mit einem Moped und einer Sackkarre in den Wald fährt, spricht Manfred Papst die unglaubliche Zärtlichkeit des Ich-Erzählers gebenüber seiner Tochter an. Dies führt zur Frage: «Du bist selbst Vater. Hat dieser Umstand dein Leben, dein Schreiben verändert?» Thilo Krause pflichtet ihm bei. Es sei in der Tat so, dass er erst richtig zu einem Autor geworden sei, seit er Kinder habe. Er habe dadurch einen anderen Blick auf die Welt bekommen. Es reiche nicht mehr, Nihilist zu sein, man könne nicht mehr ausweichen, man werde mit vielen Sachen konfrontiert, werde quasi im positiven Sinn aus der Komfortzone geschoben.

Aber auch dass er von Haus aus eigentlich Elektroingenieur sei, beeinflusse sein Schreiben. Thilo Krause war lange Jahre in der Forschung tätig, unter anderem an der ETH Zürich, er hat eine wissenschaftliche Karriere verfolgt und sich dabei «einen Reim auf die Welt gemacht». Während es in der Wissenschaft wichtig sei, dass das Schlussresultat quasi objektiv ohne seine Erfinder*innen dastehen könne, sei es in der Literatur doch so, dass man immer noch die Person hören wolle, die oder der diesen Text erschaffen habe. Aber im Grunde genommen berührten sich Geistes- und Naturwissenschaft doch sehr stark – so das Schlussvotum von Thilo Krause.

Wenn ich mir da nochmals die unglaublich schönen atmosphärischen und doch sehr präzisen Schilderungen der Natur – des Walds, der Felsen, der Elbe – in Elbwärts vergegenwärtige, dann kann ich ihm da nur zustimmen.

Welten, die aufploppen

Sanftes Klavierspiel überbrückt die Pause. Punkt 20 Uhr stellt Manfred Papst «eine der interessantesten Gegenwartsautorinnen» vor: Martina Clavadetscher, die Innerschwyzerin, die bereits etliche Theaterproduktionen realisiert hat, und deren letzter Roman «Knochenlieder» für den Schweizer Buchpreis nominiert war.
Nun liest sie aus ihrem neusten Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» vor – mit ruhiger Stimme und in einem angenehmen Tempo. Fast hat man den Eindruck, das Klavierspiel dauere noch an. Es sind keine harten Staccatosätze wie aus den «Knochenliedern», sondern die Erzählung hat eine sanfte, beinahe dahinplätschernde Satzmelodie.

Das passt auch zur ersten vorgelesenen Szene, die spielt nämlich an einer Dinnerparty in New York. Hier wohnt Iris, eine der drei Frauen, um die es in diesem Buch geht. Das sanfte Dahinplätschern passt aber nicht wirklich zu dem, was erzählt wird. Und darin liegt für mich als Zuhörerin der besondere Reiz. Es wird nämlich erzählt von einem bestimmten Waldfrosch, der sich über den Winter einfrieren lässt. Blut erstarrt, keine Atmung – fast wie tot, aber nur fast. Das Interssante sei, dass der Frosch keinen Schaden nehme, weil er sich mit Glukose vollpumpe. Vom Scheintod zum Leben und immer wieder hin und her. Eine faszinierende Geschichte. Auch für Iris: «Und wie aktiviert der Frosch sein Herz im Frühling?»

Um dieses Aktivieren geht es auch im zweiten Textausschnitt. Dieses Mal schauen wir Ling über die Schultern. Sie ist eine Angestellte in einer Sexpuppenfabrik in China. Ihr Job ist die Überprüfung der Leiber auf kleine Unebenheiten, Fehler, auf überschüssiges Silikon. Sie tastet den ganzen Körper genau ab – nur den Kopf nicht, der ist tabu. Da wird ganz zum Schluss die Programmierung angebracht, denn die Sexpuppen sollen zum Denken, Reden, Reagieren gebracht werden. Wie schon bei der Froschszene beschreibt Martina Clavadetscher sehr detailliert die verschiedenen Fabrikationsstufen, die Arbeiten, die es braucht, bis so eine Sexpuppe «makellos» hergestellt ist.

Von Manfred Papst gefragt, wie fest sie von Sagen und Erzählungen beeinflusst sei, wo doch ihr Vater ein bekannter Sammler von Sagen und Legenden aus der Region sei, meint Martina Clavadetscher: «Ja, jede Form von Erzählung ist wichtig, Sagen, Urban Legends … Jede Erzählung im Roman öffnet ein Türchen zu einer neuen Erzählung. Es geht um Welten, die aufploppen.»

Manfred Papsts Fazit zum Buch: Es ist kein düsteres Buch, obwohl es krass ist. Denn die Figuren erzählen um ihr Leben. Erzählen ist die rettende Kraft in dieser Welt.

Und nach einer aufgrund der fortgeschrittenen Zeit fast hastigen Verabschiedung geht es in der Pause weiter mit Gitarrenklängen … Das Geklimper erinnert mich an die aufploppenden Welten, die ich gern demnächst lesend erkunden möchte.

Unser Team in Solothurn:
Corinne Auf der Maur

Ihr Herz schlägt für die Mediävistik. Iwein, Kreuzzugslieder oder Mirakelbücher – damit beschäftigte sich Corinne Auf der Maur während ihres Germanistikstudiums. Als ausgebildete Korrektorin arbeitet sie nun seit langem im Verlagswesen und liest seither und vor allem dank des CAS Schweizer Literatur auch viel «Neumodisches»!