Adelheid Duvanel – grosse Autorin kleiner Formen

Ein Gespräch über Adelheid Duvanel mit den beiden Autorinnen Patricia Büttiker und Friederike Kretzen und dem Literaturkritiker Samuel Moser

Vor 25 Jahren ist Adelheid Duvanel gestorben. In dieser Woche ist eine schöne Ausgabe ihres Werkes im Limmatverlag erschienen. Eine Anthologie zu Duvanels Schreiben wird im Herbst 2021 erscheinen.

Die Kurzprosa von Adelheid Duvanel ist durch ihren Ton meist schnell zu erkennen, er irritiert, fordert heraus, saugt ein, befremdet. Ihre Figuren kämpfen, schleichen durch eine wilde Welt, stürzen ab in Träume und Missverständnisse. Bei aller Tragik und Hoffnungslosigkeit behalten die Figuren etwas Widerständiges, und immer scheint der Humor durch.

In einem Brief von 1979 schreibt Duvanel über ihr Schreiben: «Jedes Wort, das ich schreibe, ist ein Zeichen, das ich mühsam in mir suche und aus mir heraushole. … Nur wenn ich mich ihnen zum Frass vorwerfe, wächst meine Welt.»

Duvanel war nie ganz vergessen. Zeichen dafür sind die immer erneut erschienen kleinen Bücher mit ihren Erzählungen, dazu auch ihre vielen Zeichnungen, die im Schweizerischen Literaturarchiv liegen. Übersetzt wurde sie ebenfalls in verschiedene europäische Sprachen.

Die Autorinnen und der Kritiker haben je einen Text ausgesucht, der vorgelesen und kurz besprochen wurde.

Patrizia Büttiker: «Ein Fremder»

P.B.: Diesen Texte muss ich mehrmals lesen, um sie zu verstehen, es bleiben jedoch immer wieder Fragen offen. Was passiert da überhaupt: die Laubflecken auf dem Gesicht, sperrige Wörter, über die man beim Lesen stolpert. Der ganze Text ist ein Augenblick, der da beschrieben wird, der sich über die Ränder hinaus ausbreitet.

S.M.: Ich finde, es ist eine fast klassische Erzählung mit Einleitung, Rückblende, Vorwegnahme, mit einem Exkurs, offener Schluss. Dies jedoch nur auf den ersten Blick. Schwierig an dieser Geschichte ist, dass man nicht weiss, WARUM dies alles passiert: Warum wird der Fremde erwähnt, darauf geht die Autorin nicht weiter ein. Es wird nicht erklärt, das habe ich in anderen Erzählungen auch festgestellt.

F.K.: Es gibt bemerkenswerte Details in diesem Text, z.B. wie eine Figur schneidet, wie ein Vogel, die Erwähnung der kleinen Hand. Man kann vieles nicht entziffern. So auch Wendungen wie «die Menge der Haare ist wie ein stürzender Berg». Das offene Ende ist zwar vorbereitet, jedoch lässt es die Lesenden allein. Diese sind drinnen und gleichzeitig draussen – ein Merkmal, das bei Duvanel häufig vorkommt.

P.B.: Ebenso ist Fremdheit ein Thema, oder Minderheiten und wie sich die Personen nehmen gegenseitig wahrnehmen.

S.M.: Die Personen bleiben allein, die Katze ist am wenigsten fremd in der Geschichte.

Samuel Moser: «Verfolgung»

S.M.: Der Text zeigt, wie Duvanels Texte sich bewegen, immer nach vorne, wir kommen als LeserInnen eigentlich immer ein bisschen zu spät. Selbst die Autorin beherrscht die Situation nicht: Die Figuren machen, was sie wollen. Auch wenn der Titel «Verfolgung» heisst, kommt man nicht vorwärts, sondern kommt immer wieder auf etwas zurück. Als Leserin möchte man deuten, aber es gelingt nicht. Verschiedene Zeichen gehören zum Thema Verfolgen, aber wir können es nicht entschlüsseln. Wir wissen nicht: Ist Nonato ihr Verfolger, ihr Jäger oder gar der Verfolgte?

Duvanel braucht immer bedeutungsvolle Namen, hier Nonato: dies ist eher ein Familienname, ein vielschichtiger Name, den man nicht einordnen kann in eine Bedeutung.

Wenn man den Text nicht entschlüsseln kann, so kann man versuchen zu untersuchen, wie der Text aufgebaut ist: Tempi, Übergänge, Farben, Gerüche, eine Duftlinie gibt es in diesem Text. Man kann Fragen entwickeln, aber man sollte den Text nicht erpressen.

F.K.: Duvanel jagt eigentlich ihrem eigenen Raum hinterher: Es geht immer weiter, verfolgend, verfolgt werden, alles sehr schnell, unglaubliche Präsenzen werden dadurch geschaffen. Es passt keine Deutung rein, alles geht vorwärts. Zwischen diesen Schritten liegt ein Nichts, ein Abgrund, der nicht gefüllt werden kann.

Dieser Text trägt die Dynamik: Wer verfolgt wen? Und ist das nicht auch der Zustand der Leserin oder des Lesers? Sie müssen sich selbst immer wieder fragen: wer verfolgt wen?

P.B.: Mir sind in diesem Text die wunderbare Schönheit der Sätze aufgefallen, die stechen hervor. Zugleich gibt es Passagen, die ich nicht verstanden habe. So konnte ich mir gewisse Bewegungsläufe nicht vorstellen. An anderen Stellen Präzision, die man nicht versteht.

S.M.: Mut zum Ungleichgewicht gehört zu den Texten von Duvanel. Ich frage mich auch jeweils, wo das Zentrum des Textes ist, ob es mehrere Zentren gibt, und frage mich häufig, wessen Geschichte man eigentlich gelesen hat.

Friedericke Kretzen: «Das Brillenmuseum»

F.K.: Ich musste eigentlich die ganze Zeit lachen, denn es gibt in diesem Text unglaublich komische Stellen, z.B. wenn man an das Elternhaus schreibt: Vorsicht. Olga schreibt über ihr Schreiben, schreibt aber gleichzeitig nicht über ihr Schreiben, sie schreibt nur, was sie schreiben möchte. Eigentlich reiht sie Geschichten aneinander, tiefgründig, dazu gut deutbar. Verwirrend ist das Sehen und Gesehen werden. Der Text macht sichtbar, dass wir sichtbar sind. Es ist der Blick von der anderen Seite. Olga schaut von den Patienten auf die Psychiater. Es ist ein unerbittlicher Blick auf Psychiater, von dem sie nicht abweichen will. Unerbittlicher Blick – hier ein Beispiel: dass Kirchen und Militär für sich werben dafür, dass man an sie glaubt. Das können aber weder Frauen, noch Kinder noch Patienten.

S.M.: Man kann den Text leicht als eine satirische Kritk auf die damalige Psychiatrie entziffern, im Hintergrund spielen die Jugendunruhen der 80iger Jahre. Dadurch ragt der Text aus dem Werk von Duvanel hervor.

F.K.: Hier kommt auch der Kampf gegen den Vater ins Spiel: Der Vater als Symbol des autoritären Systems, der Ordnung allgemein. Olga eröffnet ein Brillenmuseum, um dort eine Brille für den Vater zu machen, damit er einen anderen Blick bekommt – ein Wunsch von ihr. Aber am Ende schreibt sie ihm nur.

S.M.: Am Schluss wird viel vermischt. Wo steht Olga in der Zeit? Ihre Zugehörigkeit bleibt offen. Olga und die Autorin sind nicht gleichzusetzen. Verschachtelung der Räume, verschiedene Wirklichkeitsebenen sind in diesem Text sehr wichtig, sie verweisen auf die Klinik, die eigentlich überall ist. Auch fragt man sich jeweils: Wo ist eigentlich Olga?

P.B.: Es ist auffallend, dass in den Texten von Duvanel immer wieder Fenster und Brillen vorkommen. Es passiert etwas vor oder hinter dem Fenster. Räume verschwinden, haben andere Dimensionen. Subjekt und Objekt können vertauscht werden, Blick des Fremden …

Brüche, verschiedene Ebenen im Text, das verwirrt die Leserin immer wieder. Wo hört der Traum auf – hört er überhaupt auf? Der Leser verliert Olga im Laufe der Geschichte.

Schlussfrage: Was wünschen Sie der Literatur von Duvanel?

P.B.: Man soll sich auf die Texte von Duvanel einlassen, einer Welt der versehrten Figuren.

S.M.: Diese Texte sollen immer wieder erscheinen, auch als Einzeltext. Ich hoffe, dass die Auseinandersetzung mit dem Werk mit der Veröffentlichung der Gesamtausgabe erst richtig anfängt. Die Texte brauchen viel Zeit, man sollte sie einzeln lesen.

F.K.: Man könnte sie als Kassiber brauchen, die immer im Umlauf sein sollten. Sie sollten unbedingt zur Schullektüre gemacht werden.

Unkonventionell lieben

Werner Rohner spricht mit Regula Walser über seinen Roman Was möglich ist.

Altersunterschiede, Fremdgehen und gleichgeschlechtliche Liebe: In Werner Rohners Roman Was möglich ist stehen diejenigen Liebesbeziehungen im Fokus, die in der Literatur ansonsten weniger beachtet werden. Das Spezielle daran: Ein männlicher Autor schreibt aus der Perspektive dreier Frauen.

Prompt stellt Regula Walser die Frage, die Werner Rohner wohl häufiger zu hören bekommt: «Wie kommen Sie darauf, als Mann über weibliche Hauptfiguren zu schreiben?» Lange überlegen muss Rohner nicht. Für ihn habe es sich stets natürlich angefühlt. Beim Schreiben fühle er sich nicht als geschlechtliches Wesen, sondern vielmehr bloss als Mensch. So brauche es auch keine Rechtfertigung dafür. Wie recht er doch hat!

Der Roman handelt von drei Geschichten. Von der Kellnerin Edith, die sich kurz vor ihrer Pensionierung in den viel jüngeren Chris verliebt. Von der schwangeren Vera, die der frisch geschiedenen Nathalie verfällt. Und von der Mutter Lena, die ihren Mann betrügt. Es sind drei ganz unterschiedliche Liebesgeschichten. Trotzdem weisen sie Gemeinsamkeiten auf: Sie überschreiten bestehende Konventionen und markieren einen Ausbruch aus dem früheren Leben.

Genau diesen Parallelen ist es geschuldet, dass die Perspektive ständig zwischen den drei Geschichten hin und her wechselt. Werner betont dabei, dass diese Perspektivenwechsel keineswegs Distanz schaffen sollten. Vielmehr würden dadurch die einzelnen Beziehungen noch näher erfahrbar gemacht. Ob das auch funktioniert, kann in der individuellen Lektüre geprüft werden.

Schon bald lenkt Regula Walser den Fokus weg von den Details der Liebesbeziehungen, um näher auf Werners Schreibstil einzugehen. Wie aus den vorgelesenen Textstellen ersichtlich wird, ist dieser geprägt durch eine detailgetreue Beschreibungen und einen einfühlsamen Klang. Dieser Klang entsteht nicht etwa von alleine. Harte Arbeit steckt dahinter, wenn Rohner sagt: «Ich arbeite an jedem Satz 1000 Mal.» Am Anfang stehe ein Grundton, den er weiterführe und verfeinere. «Ich wäre gerne Musiker geworden», sagt er. Und das sei er mit seiner Arbeit als Schriftsteller quasi auch geworden – einfach ohne Musikinstrument.

Auch wenn Regula Walser interessante Fragen stellt: So richtig schlau wird man aus Werners Antworten nicht. Das sei ihm verziehen. Sein Schreiben geschieht wohl zu intuitiv, um es in der mündlichen Sprache angemessen erklären zu können.

Titelbild: © Lenos Verlag

Moderation, du wirst vermisst! Kunst trifft Politik

Was geschieht, wenn man eine Historikerin und eine Autorin eines historischen Romans zusammenbringt? Sie reden über Geschichte. Dass die Veranstaltung dabei «Kunst trifft Politik» heisst, hat darauf keinen grossen Einfluss. Und genau so kam es, als die Moderatorin nach einer kurzen Sockenwerbung und Vorstellung der beiden Teilnehmerinnen Regula Rytz und Zora del Buono ankündigte, die beiden nun zu verlassen und erst in einer Stunde wieder zu kommen. «Warum geht sie weg? Hat sie noch einen Termin?»

Gemäss Zora del Buono kennen sie und Regula Rytz sich nicht, einen Plan gebe es auch nicht. Sicher haben sich die beiden aber vorbereitet. Denn das, was nun beginnt, ähnelt mehr einem gegenseitigen Interview als einem Gespräch. So wird die von der Moderatorin zurückgelassene Frage nach Optimismus in dieser Krisenzeit von del Buono aufgenommen und auf den Klimawandel gelenkt. Ob Rytz dabei noch optimistisch sei. Rytz aber hat del Buonos neues Buch Die Marschallin gelesen und möchte das nun zur Sprache bringen. So zieht sie aus dem Buch, dass man nicht alles sofort ändern könne, sondern Optimismus brauche und weitermachen müsse. Aber die Klimajugend gebe ihr Hoffnung, da diese mit ihrem Engagement auch sehr viel technisches Wissen verbindet. Ist es wirklich optimistisch, wenn eine der führenden grünen Politikerinnen ihre Hoffnung auf Schüler*innen statt auf die Politik setzen muss?

Doch diese Frage bleibt aus. Kritische Fragen bleiben generell aus. Denn schnell ist man sich einig, man versteht sich. Del Buono ist Wählerin von Rytz, Rytz ihrerseits begeistert von del Buonos neuem Buch. Und so stellen sie die Fragen, die sie persönlich interessieren. Wie ist es, eine öffentliche Person zu sein? Gibt es dabei einen Unterschied zu Deutschland? Welchen Einfluss haben die sozialen Medien bei Baerbock? Wie geht man mit Kritiken auf Amazon um? Welchen Einfluss hat die Sympathie zum Autor, zur Autorin auf die Lektüre? Ist die Grossmutter im Roman eine zwiespältige Person? Das mögen nicht alle Leser*innen. Wie können sie so lebendig schreiben?

Es ist angenehm, dass die beiden offenbar ein aufrichtiges Interesse an der Welt des anderen haben. Auch sind die Vergleiche des historischen und des literarischen Schreibens interessant, wie auch Anekdoten über Tests der genetischen Abstammung, die Frage, welchen Einfluss die Herkunft auf das Selbstbild hat oder der Umstand, dass die durchfahrenden Züge mit Kriegsgefangenen im zweiten Weltkrieg vor dem Bahnhof Zürich gehalten haben, damit die Anwohner*innen die Schreie der Gefangenen nicht hörten.

Die Themenvielfalt war sehr gross, die Tiefe entsprechend gering. Die Themen, die angesprochen wurden, sind durchaus vielversprechend. Ein Gespräch muss nicht strikt auf den Titel der Veranstaltung beschränkt werden. Auch kann man nicht erwarten, dass alle Fragen, die in der Inhaltsangabe gestellt werden, beantwortet werden. Aber dass sie zumindest besprochen werden, das darf erwartet werden.

Doch diese Themen bleiben im Hintergrund. Kurz fragt Rytz, ob nicht Autor*innen, wie einst Max Frisch, erneut ein Manifest schreiben müssten, wie die Welt sich ändern müsse. Doch del Buono erwidert darauf nur, dass dies eher die Aufgabe des Journalismus sei und Autor*innen heute nicht mehr einen solchen Einfluss haben und Moralisierung in der Literatur nicht mehr erwünscht sei. Flüchtig geht man noch auf die Sprache der Politik ein. Wie wird die politische Sprache zur Erhaltung des Status Quo instrumentalisiert? Wann kam die Polemik? Doch viel Zeit bleibt nicht mehr. Wäre der Fokus gezielt auf einzelne Themen gelenkt worden, wäre das vermutlich für die Zuhörenden interessanter gewesen, als dieses sich kennenlernen der beiden.

Nach 59 Minuten kommt die Moderatorin wieder: Ob es ein Schlussstatement gebe. Kurzes Schweigen der beiden Gesprächsteilnehmerinnen. Ein Schlussstatement kann es bei diesem Gespräch zu diesem Zeitpunkt nicht geben. Es ist Zora del Buono anzurechnen, dass sie doch eines findet, das, wenn auch nicht inhaltlich, so doch vielleicht die Stimmung des Gespräches einfängt: Begeisterung wirke ansteckend. Regula Rytz stimmt zu. Die Moderatorin wirkt zufrieden. Wäre sie doch geblieben.

Marc Fritschi hat sich das Gespräch angehört.

Sehnsucht nach dem Unbekannten

Lukas Maisel sinniert in seinem Debütroman Buch der geträumten Inseln über die Faszination des Entdeckens.

Entdecker sein, wenn es nichts mehr zu entdecken gibt: Ein schwieriges Unterfangen. Doch genau davon handelt Lukas Maisels Debütroman Buch der geträumten Inseln. Robert Akeret – so heisst die Hauptfigur des Romans – macht sich auf, um ein Lebewesen zu entdecken, das nicht ganz Mensch und nicht ganz Tier ist. Ein Zentaur also? Diese Frage bleibt leider unbeantwortet. Im Gespräch mit Lukas Gloor sinniert der Jungautor Lukaus Maisel aber über anderes. Wie etwa über den schmalen Grat zwischen Wahnsinn und Genialität.

Meine Internetverbindung streikt erst. Deshalb verpasse ich die ersten fünf Minuten des Gesprächs – und damit wohl die Vorstellung und Kurzbiographie von Lukas Maisel. Nicht weiter schlimm, da ich mich zuvor bereits über den Jungautor informiert habe. Er studierte am Literaturinstitut in Biel und erhielt für seinen Roman Fördergelder der Kantone Aargau und Solothurn.

Als auch ich mich in das virtuelle Gespräch einklinken kann, liest Maisel bereits seine erste Textstelle vor. Darin befindet sich die Hauptfigur Robert Akeret mit drei Gefährten auf einem Boot in Papua-Neuguinea, genauer auf dem Fluss namens Fly. Auf dieser Reise will Akeret das besagte Fabelwesen aufspüren. Dieses will er in der Wissenschaft schliesslich unter dem Namen «Homo Akereti» bekannt machen.

Was zu Akerets Vorhaben führte, ein Fabelwesen zu entdecken, wird in der zweiten Textstelle klar, die Maisel vorliest. In einem Rückblick in seine Kindheit erfährt man, dass er auch schon Gold herstellen wollte, indem er seinen Urin einkochte. Ein Indiz dafür, dass Akerets Geist wohl doch näher beim Wahnsinn als bei der Genialität zu verorten ist.

So, wie sich das Fabelwesen zwischen Mensch und Tier bewegt, ist auch Robert Akeret selber alles andere als ein normaler Mensch. Durch seine autistische Veranlagung sind ihm klare Ordnungen und Systematiken besonders wichtig. Nicht nur für ihn, sondern – wie Maisel kritisch anfügt – auch für die Wissenschaft an und für sich. Denn die Wissenschaft sei zahlenfixiert. Lediglich Phänomene, die sich quantifizieren lassen, seien auch greifbar. Andere Themenbereiche, die sich nicht so einfach fassen lassen, würden weniger beachtet – so etwa die Geisteswissenschaften.

Maisel sprudelt nicht gerade vor Erzählwut. Auf die Fragen von Lukas Gloor antwortet er stets knapp und mit wenig Begeisterung. Das ist schade, denn die Geschichte strotzt gerade von einer Vielfalt an Themen und Motiven. Trotzdem schimmert im Gespräch durch, dass der Roman das ungemütliche Gefühl aufzeigt, dass die Zeit der grossen Entdeckungen zwar endgültig vorbei ist, der Drang danach aber in uns allen weiterlebt.

Titelbild: © Rowohlt Verlag

Flucht oder Angriff?

Mit dem Versprechen «next year in presence» verabschiedet sich der libanesische Autor Mazen Maarouf von seiner Lesung. Die Zusicherung seines Besuches in der Schweiz ergab sich aus der Frage nach seiner Heimat. Der Schriftsteller lebt und arbeitet heute in Island, wuchs jedoch als Sohn palästinensischer Flüchtlinge im Libanon auf. Dorthin würde er auch gerne irgendwann wieder zurückkehren. An den Ort seiner Kindheit, wo die Kurzgeschichten seines Buches Ein Witz für ein Leben spielen.

Das Buch erschien im Original auf Arabisch und deshalb wird im Hörbeitrag der Literaturtage auch in Maaroufs Muttersprache vorgelesen. Der Autor präsentiert zwei bis drei Absätze auf Arabisch und Sabine Haupt fährt in der Textstelle auf Deutsch fort. Auch ohne Arabisch zu verstehen, fühlt man sich während der Lesung in Originalsprache in die Heimat des Schriftstellers versetzt.

Patriarchale Strukturen, Macht und Krieg prägen die Kurzgeschichten, doch man sieht alles mit dem Blick eines unschuldigen Kindes. Dieses Kind verletzt sich selbst, damit es in der Schule angeben kann, wie heftig es vom eigenen Vater verprügelt wird. Je brutaler die Strafen eines Vaters gegenüber der Kinder sind, desto angsteinflössender wirkt dieser in der Gesellschaft und entspricht damit dem männlichen Ideal. Kein Mann möchte als «Grashüpfer» bezeichnet werden, denn dies bedeutet, dass man lieber die Flucht ergreift, anstatt anzugreifen. Auch wenn die Geschichten von heldenhaften Männern geprägt sind, berichtet der Schriftsteller auch von starken Frauen. Eine von ihnen sei die eigene Mutter, so berichtet er im Gespräch. Sie zog ihn und seine Geschwister auf und sorgte dafür, dass sie eine Ausbildung erhielten, doch die Anerkennung erhielten immer nur die Männer.

Maaroufs Kurzgeschichten sind voller realer Erlebnisse, handeln von traumatisierten Familien, die alle eine eigene Geschichte haben. So vermischen sich die allgemeinen Familiengeschichten mit seinen persönlichen Erlebnissen. Jedoch behalten die Geschichten immer die Perspektive des Kindes. Maaroufs Ziel ist eine Vermischung zwischen unterschiedlichen Kulturen, dass diese mehr miteinander geteilt werden. Dieses Ziel wird in der Lesung definitiv erreicht, indem auf Arabisch und Deutsch gelesen wird.

Noch ein Schluck Bier

Rauh, dreckig und nur mit Humor zu ertragen: Simone F. Baumanns erste Graphic Novel «Zwang» zeigt eine unangenehme Welt. Mit ihrem Alter-Ego, einer Grosstadt-Antiheldin, führt die Zürcher Comiczeichnerin in albtraumhafte Szenen. Ihr geht es nicht darum, die Welt zu ändern. Sie will am liebsten mit ihrer Katze auf dem Schoss zeichnen können und dazwischen ab und an in den Supermarkt huschen. So beschreibt sie sich im Gespräch mit Anette Gehrig. Darin geht es um langweilige Superhelden, «Grüsel-Werner» und Underground Comics.

«Noch ein Schluck Bier», so leitet Simone F. Baumann die Lesung aus ihrer im April erschienenen Graphic Novel «Zwang» ein. Den brauchen die Zuschauenden auch, als es in der ersten Kurzgeschichte aus dem Band ziemlich schnell zur Sache geht: Die Protagonistin wird von ihrem Therapeuten gefragt, ob sie denn ihr eigenes Gehirn auch krank fände. Sie bejaht vorsichtig und meint dann, dass sie ja aber nur dieses eine hätte.

«Wie es wohl wäre mit einem anderen Hirn?», fragt Baumann an dieser Stelle der Lesung dazwischen. Überhaupt liest sie frei von der Leber, sie beschreibt, was zu sehen ist. Dazwischen kommentiert sie die Bilder spontan. Die Idee für das krankhafte Hirn kam von Baumanns Eltern. Die hätten ihren Lebensstil als Künstlerin damit zu begründen versucht, dass sie damals im Brutkasten einen Hirnschaden erlitten haben soll. Und genau diesen absurden Vorwurf verarbeitete Baumann in der Geschichte. Vom Therapeuten fährt die erwachsene Protagonistin darin direkt ins Spital. Dort gehört sie hin, denkt sie sich. Neben die Frau mit der Schere im Auge und dem Mann, der es nicht mal mehr ins Gebäude reingeschafft hat. Sie geht hinein und wird von Krankenschwestern in einer Zwangsjacke in den XXL-Inkubator gesteckt. Danach geht es zurück in den Mutterleib. Kurzerhand stopfen sie die Schwestern in den Bauch einer Frau, die gerade erst geboren hat. Rasch hängt nur noch der Stiefel raus. So schnell kann es gehen bei Simone F. Baumann.

Ihr Zeichenstil wirkt oft so brutal wie das Dargestellte. Die Kontraste sind scharf, die Texte kurz und einfach, die Gesichter hässlich. Die Protagonistin ist in diesen Welten auf der Suche, sie will eine Lösung finden, einen Platz für sich in dieser Gesellschaft, in der sie sich als Fremdkörper fühlt. So erklärt Baumann die Grundstimmung der Bilder.

Ganz ernst nehmen kann man die Szenen in ihrer Absurdität nicht, sonst wären sie kaum zu ertragen. Ganz ernst nimmt sich auch Baumann selbst nicht. Ihre Augen leuchten im Gespräch. Sie lacht viel und ist genauso wie ihre Figuren auch in ihren Antworten salopp und kurz angebunden. Warum ihre Protagonistin keine Superheldin ist, das erklärt sie damit, dass die Looser doch die Interessanten seien und Superhelden «das Langweiligste, was es gibt». Die Geschichte über den «Grüsel»-Werner, der von ihrer ersten WG in Zürich zusammen mit einem 80-Jährigen Typen mit Pornokalendern am Kühlschrank erzählt, tut sie lachend ab. Sie habe es nur zwei Monate ausgehalten.

Angefangen hat Baumann als 18-Jährige mit komplett selbst hergestellten und vertriebenen Comicheften. Die Idee dahinter war, immer das Neuste zeigen zu können. Noch immer erscheint alle zwei Monate ein Heft in ihrer Reihe 2067. Abonnieren kann man es nur per Mail, eine Webseite hat Baumann nicht.

So gern man dieser jungen, unangepassten Künstlerin zuschaut, die ihren Kopf abstützt oder beim Sprechen auf der Gummierbse in ihrer Hand rumdrückt; die Chemie zwischen ihr und Gehrig stimmt nicht. Da hilft auch das Bier auf dem Tisch nicht. Die Lockerheit fehlt auf Seiten der Moderation. Die konzentriert sich einen Grossteil des Gesprächs auf die grossen Themen der Autofiktion und die künstlerischen Vorbilder Baumanns aus der Underground-Comicszene. Sie scheint die Antworten, die sie will, durchweg nicht zu bekommen – auch nicht, als gegen Ende des Gesprächs dann das Thema Zwang zur Sprache kommt, das titelgebend für die Graphic Novel ist. Angekündigt war im Programm eine Künstlerin, die ihre Erfahrungen mit Zwangsstörungen verarbeitet. Im Gespräch redet Gehrig um den heissen Brei herum, wenn sie nach Zwängen der Gesellschaft fragt. Baumann nimmt den Faden dennoch auf und spricht vom zwanghaften Verhalten der Protagonistin, das in einigen Geschichten verhandelt wird. Eine davon liest sie als Abschluss dann auch noch.

Und damit zum Fazit des Abends: Am besten sprachen die Zeichnungen von Baumann für sich. Oder wie die Künstlerin selbst über sich sagte: Sie will nichts und macht einfach. Und was sie da macht, wirkt jung, echt und relevant.

Benedict Wells: Hard Land

Benedict Wells darf mit Fug und Recht als einer der Stars an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen bezeichnet werden. Ganz ohne Allüren, dafür umso offenherziger sprach er mit Anuschka Roshani über die Schutzlosigkeit der ersten Liebe und über Erklärungsversuche des Erfolgs.

Bereits 2016 hatte Wells mit seinem Roman Vom Ende der Einsamkeit einen Bestseller gelandet, und mit Hard Land doppelt er, der mit seinen 37 Jahren im Literaturbetrieb immer noch als Jungautor gilt, auf eindrucksvolle Weise nach. Gerade im April wurde der Coming-of-Age-Roman vom Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband zum Lieblingsbuch 2021 gekürt, und die «Weltwoche» weiss, dass es auch bei Influencern als hip gilt, mit Wells› Romanen zu posieren.

Hip, oder vielleicht eher retro-hip, geht es auch in Hard Land zu und her, es ist ein Stück US-amerikanische Popkultur, eine Hommage an die 80er-Jahre. Den Soundtrack dazu liefern Michael Jackson, Bruce Springsteen und Billy Idol. Und das Vorbild des 16-jährigen Protagonisten Sam ist Marty McFly, seines Zeichens Hauptfigur der kultigen Filmtrilogie Zurück in die Zukunft und Sternstunde von Michael J. Fox.

Sam bespielt in Hard Land jedoch alles andere als die grosse Starbühne, vielmehr lebt er in einem hinterwäldlerischen Kaff irgendwo in Missouri als unsicherer Teenie ohne Freunde, dafür mit Angststörung. Und er erlebt den Sommer seines Lebens mit bisher nicht gekannten Höhen und Tiefen, denn: «In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.»

Der erste Satz dieses Romans hat es bereits wenige Monate nach Veröffentlichung zu einer beachtlichen Bekanntheit gebracht. Oft wurde er zitiert, und auch die Moderatorin Anuschka Roshani sprach mit Wells über diesen Anfangssatz. Wells teilt die Faszination für erste Sätze mit der Romanfigur Kirstie, in die sich Sam verliebt. Erste Sätze müssten wie letzte Sätze einfach stimmen, so Wells. Es gefalle ihm, wenn er spüre, dass sich der Autor etwas Besonderes dabei habe einfallen lassen. Dieser erste Satz sei seinerseits bereits ein Remake aus Charles Simmons› Salzwasser, dieser wiederum eine Umwandlung von Turgenews erstem Satz aus Erste Liebe.

Um erste Sätze und erste Lieben gibt es also ein regelrechtes Motivgeflecht. Die erste Liebe ist für Benedict Wells von derart einschneidender Bedeutung, weil man ihr schutzlos ausgeliefert sei. Kein Vergleich sei vorhanden, nichts lasse sich relativieren, und man habe das Gefühl, dass einen der erlittene Schmerz nie wieder loslassen würde, egal wie andere einen vom Gegenteil zu überzeugen versuchen.

In dieser Überzeugung steckt eine gehörige Portion Naivität, die aus der Distanz vielleicht belächelt werden kann. Benedict Wells nimmt Sam in dieser Überzeugung aber ernst. Und dieses Ernstnehmen sei für ihn ganz essentiell gewesen, als er den Roman über die Jugendzeit in den 80er-Jahren der USA schrieb. Das Naive an den Popkultur-Träumen dieser Zeit, das Klischee, das Eskapistische, all das habe er in diesem Roman ohne Ironie bringen wollen, um das Gefühl herzustellen, das er eben suchte. Das Gefühl der Sehnsucht nach dieser Zeit, das Gefühl, mit etwas Distanz noch einmal in diese Jugend aufzubrechen, in der man sich so fühlen kann, wie Sam sich schon sein «ganzes Leben fühlen wollte: übermütig und wach und mittendrin und unsterblich». Dies ist ein weiterer Satz aus seinem Roman, der, wenn nicht gerade unsterblich, so doch charakteristisch ist – für das Lebensgefühl, das der Roman vermittelt.

Für dieses Gefühl hat Wells ein Wort gefunden, wie er überhaupt aus einer gewissen Distanz zur Jugendzeit besser die Worte dafür finde, was damals eigentlich los gewesen sei. «Euphancholie», eine Portmanteau-Wort aus Euphorie und Melancholie. Die Euphancholie trifft «die Tinte meiner Jugend», «die Tinte der Sehnsucht», mit der er den Roman geschrieben habe, im wahrsten Sinne aufs Wort. Selbst im Gespräch haben seine Metaphern etwas Triefendes, Überschwängliches. Aber man muss sie ihm einfach abnehmen, wenn man ihn so hört. Ironie fehl am Platz, die gehört sowieso in die 90er.

Von Figuren, die ihren Texten davonlaufen

Adelheid Duvanels Texte widersetzen sich ihrer Leserschaft. Die Meisterin der kleinen Form erzählt von Figuren, die ihren Geschichten scheinbar immer einen Schritt voraus sind und sie schreibt Texte, die sich einer abschliessenden Deutung entziehen. Kaum hat man ein Motiv entschlüsselt, wird es in einem anderen Kontext wieder eingeführt. Duvanels Kurzerzählungen verlangen aktive Leser*innen, die sich auf die Figuren und ihre Erlebnisse einlassen.

Wer sich mit Duvanels anspruchsvollen Erzählungen auseinandersetzt, wird belohnt. Die Autorin spielt mit Motiven, spinnt sie weiter, dreht sie um. Heraus kommen dabei Texte, die chaotisch und doch einheitlich, drastisch und doch humorvoll, widerspenstig und doch verführend sind. Die bildgewaltige Sprache weckt verschiedene Sinne. Wohlgeformte Sätze kann man sich regelrecht auf der Zunge zergehen lassen. Ebene um Ebene lässt sich abtragen, um immer neue Bedeutungen, Assoziationen und Irritationen freizulegen.

Die Form der Kurzgeschichten mag auf den ersten Blick zwar einfach erscheinen. Bei näherem Hinschauen entdeckt man aber, dass die Verknüpfungen fehlen: das Warum ist nicht geklärt. Es gibt auch kein Kernthema, sondern viele kleine Elemente, die sich zu einem kunstvoll arrangierten Mosaik zusammensetzen. Die einzelnen Mosaiksteine bestehen einerseits aus unterschiedlichten Themen, andererseits scheinen immer wieder ähnliche Muster auf. Beispiele dafür sind die Motive ‹Brille› oder ‹Fenster›. Auch das Personal der Kurzgeschichten hat eines gemeinsam: stets begegnet man in Duvanels Welten versehrten Figuren. Da wäre beispielsweise die beinahe blinde Selbstmörderin, der sich völlig verfremdende Eugen oder die junge Olga aus der psychiatrischen Klinik.

Dieses Jahr markiert das 25. Todesjahr von Adelheid Duvanel. Friederike Kretzen nimmt das mit einer Kollegin zum Anlass, die gesammelten Erzählungen der Baslerin in einer Neuaflage unter dem Titel Fern von hier zu veröffentlichen. Kretzen unterhält sich mit Samuel Moser und Schriftstellerin Patricia Büttiker über die Raffinesse der Texte. Sie sind sich einig: Duvanels Kurzerzählungen sind wie gut getarnte Sprengsätze. An jeder Stelle im Text könnte man eine Frage entwickeln – auf die man dann aber keine Antwort findet. Zu diesem Problem meint Samuel Moser: «Man soll den Text nicht erpressen.»

«En Afang, wiener müesst si.»

Wir sind live in 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1: Pünktlichst stürmen Marcel Gschwend aka Bit-Tuner und Manuel Stahlberger auf die Bühne des Stadttheaters Solothurn, tanzen wild zum immer lauter werdenden Beat, springen auf der beleuchteten Fläche hin und her. Stahlberger heizt die Masse auf, die sofort hastig mitklatscht.

Die Masse besteht aus möglicherweise zwanzig Personen. Ein Traum habe sich Stahlberger erfüllen wollen: «En Afang, wiener müesst si: Mir klatsched mitenand, i wür crowd surfe, mir würed eus abschlecke.» Doch dieses Konzert wurde – wie alles – vor allem gestreamt. Das anwesende Publikum hatte entweder Glück oder sich risikofreudig einer grossen Gefahr ausgesetzt, wofür sich Stahlberger am Schluss dann auch noch bedanken wird.

«i derä Show» heisst das Album, welches, begleitet von löblicher Kritik letzten Oktober 2020, inmitten der Pandemie und darum dann doch eher leise und verhältnismässig unbeachtet herauskam. Dem Tourplan entnimmt man, wie erwartet, Absagen und Verschiebedaten, so dass sich vermuten lässt, es könnte dies eines der ersten Konzerte seit der Plattentaufe sein.

Das Leben: eine Krisensammlung

Abseits der Einschränkungen geht es hier aber vor allem um das gesprochene Wort, die Sprache und die Geschichten – Stahlberger und Bit-Tuner wurden nicht etwa Opfer einer schlechten Programmation. Die Texte auf «i derä Show» überzeugen durch eine unangestrengte Tiefe. Sie erzählen von den grossen (auffallend oft auch weiblichen) Lebenskrisen im mittleren Alter und dies so, als ob es sich um blosse Alltagsbeobachtungen handeln würde. Das sind sie vermutlich auch, doch schaut und hört man genau hin, offenbaren sich die Abgründe schnell. Manuel Stahlberger beobachtet nicht nur scharf, er versteht es auch, die Sätze so einfach wie möglich zu belassen. Keine sprachliche Überhöhung, nur die präzise Beschreibung banaler Augenblicke und simpler Tages- und Lebensabläufe. Darin steckt die Tragik.

Bedächtig singt Stahlberger von der Scheinheiligkeit.

Und Bit-Tuner? Seine Klänge sind es, die ordentlich aufwühlendes Gewitter unter die beabsichtigt monoton erzählten Geschichten legen. Man spürt, was sich darunter zusammenbraut: Ein zäher Start in ein Leben voller austauschbarer Geschichten, die immer zugleich erschütternd und lächerlich einfach sind, ein Leben in Wiederholung und glanzloser Scheinheiligkeit. Plötzlich ertappt man sich beschämt, dass das Album trotz aller Tristesse vor allem dank des Beats erstaunlich viel Spass macht.

Spassig sein kann auch Manuel Stahlberger, das wissen wir. Und so hat es wenig erstaunt, dass das Konzert teilweise etwas an eine Comedy-Aufführung erinnerte. Nötig gewesen wäre das allerdings nicht: Die Songs überzeugen auch ganz für sich genommen.

Aufforderung zum Durchhalten

Das letzte Lied – «dureringe» – versprüht etwas (trügerische) Hoffnung und könnte durchaus als Aufforderung zum Durchhalten verstanden werden. Mit einem optimistischen Blick in die Zukunft möchte man sich vor allem darüber freuen, endlich wieder einmal an einem Konzert dabei gewesen zu sein. Insofern was es tatsächlich «en Afang, wiener müesst si» und eine Heimfahrt im Glück.

Wie man das so macht: Brav nach dem Konzert eine Platte kaufen und die Künstler unterstützen.

Man sollte nie aufgeben, weder literarisch noch politisch.

Ein Gespräch zwischen Zora del Buono und Regula Rytz

Kunst trifft Politik – was kann man als Zuhörer*in von einem spontanen Gespräch zwischen Regula Rytz und Zora del Buono erwarten? Wie sich herausstellt, eine ganze Menge. Es entsteht ein lebensnaher, lebendiger und spannender Austausch zwischen zwei starken sprachlich versierten Frauen, die mit grosser Leichtigkeit über Leben, Literatur und Politik parlieren.

Anfangs erwähnt Zora del Buono, dass sich die beiden erst seit zehn Minuten kennen, und ohne vorgefassten Plan oder Fragenkatalog in das Gespräch gehen. Zora del Buono beweist, dass sie eine versierte Erzählarchitektin ist und in Regula Rytz ein Gegenüber auf gleicher Augenhöhe gefunden hat.

Angeregt durch die Frage der Moderatorin, wieviel Optimismus es heute brauche, gibt Zora del Buono zu bedenken, dass wir uns in einer Krisensituation befinden, die schwierig zu steuern sei. Regula Rytz greift das Thema sofort auf und überträgt es auf das Buch «Die Marschallin»: Auch hier gibt es eine Zeit voller Umbrüche und Unsicherheiten, aber die Figuren schaffen es, ihren Optimismus zu bewahren. Ein Leben voller rabenschwarzer Zuversicht, in dem Veränderung möglich ist.

Diese eng verwobene Verbindung von Literatur, Politik und eigenen Erfahrungen wird zum roten Faden, der sich durch das gesamte Gespräch zieht. Für beide ist die heutige junge Generation der Hoffnungsträger, der Veränderung bringt. Am Beispiel von Annalena Baerbock diskutieren sie die Rolle einer jungen Politikerin, die sich als Frau – intensiver als ein Mann – den Auswüchsen der Sozialen Medien zu stellen hat. Dabei betont Regula Rytz, dass man sich als öffentliche Person einerseits mit vielen kritischen Meinungen auseinandersetzen muss und zugleich davon abhängig  ist. Auch als Autorin erfährt man dies – ergänzt Zora del Buono – dabei ist es wichtig «bei sich zu bleiben».

Regula Rytz bemerkt, dass dies auch der Protagonistin in Die Marschallin gelinge und sie gerade dadurch eine faszinierende, aber auch dominante Persönlichkeit werde, die eigene Wege sucht – gerade wie die junge Generation heute. Eine zwiespältige Figur, gibt Zora del Buono zu bedenken. In diesem Kontext möchte Regula Rytz wissen, wie es ihr gelungen sei, die Figuren so lebendig zu gestalten. Die Autorin führt aus, dass sie ein Herz für jede Figur und den Roman als Möglichkeit begriffen habe, um das Haus ihrer Grossmutter, das verloren gegangen war, wieder auferstehen zu lassen. Auch schätze sie die Arbeit der Historiker*innen sehr, die die komplizierte europäische Geschichte rekonstruiert haben.

Für  Regula Rytz ist nicht nur Europa voller lebenspraller Geschichten, auch  in der Schweiz laufen solche Geschichten zusammen. Zora del Buono ergänzt, dass die Schweiz eben nicht nur das schöne kleine Alpenland mit der niedlichen Sprache sei, sondern ein supermodernes, globalisiertes Land, in dem Integration besser funktioniere als in Deutschland. Indes mache gerade die Coronakrise die Probleme und Abhängigkeiten der Globalisierung deutlich und man könne sich fragen, inwieweit diese Krise literarische Stoffe hervorbringen könne oder müsse. Die Bedeutung von literarischem und politischem Schreiben rücke damit ins Zentrum.

Die grundsätzliche Frage, so Zora del Buono, sei doch aber folgende: Wann beginnen Menschen sich zu verändern oder wann verändern sie ihre Haltung? Im Gegensatz zu Regula Rytz glaubt Zora del Buono nicht, dass Schriftsteller*innen Manifeste verfassen sollten, dies sei eher die Aufgabe von Journalist*innen. Die Aufgabe einer Autorin bestehe darin, Geschichte(n) zu beleben und sich in Menschen hineinzufühlen. In diesem Moment verschmelze Historisches mit Literarischem.

So wie die Literatur bewusst mit Sprachbildern arbeitet, so geschieht dies auch in der Politik. Regula Rytz und Zora del Buono sprechen über die «neue Sprache der Politik», die der deutsche Grünpolitiker Robert Habeck thematisiert. Er versucht, die politisch instrumentalisierte, auf Konfrontation ausgerichtete Sprache in einen konstruktiven Diskurs zurückzuführen und damit auch die politische Kultur wieder zu verändern.

Abschliessend bemerkt Regula Rytz, dass in der politischen Sprache mit Bildern gearbeitet werde, die die alte Ordnung zementierten. Ihrer Ansicht nach ist der konstruktiv sprachliche Diskurs Kern der Demokratie. Gemeinschaft besteht Zora del Buono nach im offenen Gespräch – sei es in der Politik, in der Geschichte oder in der Literatur: «Viele wollen zusammen, was richtig ist.»

Simone von der Geest und Regula Weber waren aufmerksame Zuhörerinnen dieses inspirierenden Gespräches.