Die Lust am weissen Blatt Papier

Laura Barberio im Gespräch mit Lukas Linder

Im Rahmen der Solothurner Literaturtage 2021 spricht Lukas Linder über seinen neuen Roman Der Unvollendete und trifft sich in einem unmoderierten Gespräch mit Pedro Lenz, um sich über ihre Bücher und ihr Schaffen zu unterhalten. Und bei Skriptor Prosa diskutieren Autor*innen mit Lukas Linder über einen seiner unveröffentlichten Texte.

Anatol ist der Anti-Held in ihrem neuen Roman Der Unvollendete. Nichts will ihm gelingen und trotzdem rettet er sich mit unverbesserlichem Optimismus immer gleich in die nächste Niederlage. Eine Figur, wie wir sie in Ihren Grundzügen schon aus Ihrem ersten Roman Der letzte meiner Art kennen. Was ist für Sie das Reizvolle an diesen Anti-Helden, die immer wieder scheitern und zugleich unverbesserlich optimistisch, ja schon fast naiv, zu sein scheinen?

Es ist tatsächlich so, dass Anatol sehr viele Ähnlichkeiten mit der Figur von Alfred von Ärmel aus Der letzte meiner Art hat. Auch in meinen Theaterstücken kommt sehr häufig eine ähnliche Figur vor. Ich denke, das ist eine Art Kunstfigur, die ich über die Zeit entwickelt habe. Der liebevolle Tollpatsch, der durch slapstickartige Szenen torkelt. Bei Comedians gibt es das sehr oft. Sie entdecken eine Kunstfigur für sich und verwenden sie dann immer wieder. Dieses Prinzip, das im Film sehr verbreitet ist, verwende ich auch in der Literatur. Ich kenne diese Figur mittlerweile sehr gut und sie dient mir als Mittel, um über die Welt nachzudenken.

Worin unterscheidet sich das Scheitern dieser zwei Protagonisten – Alfred von Ärmel und Anatol Fern?

Der grösste und offensichtlichste Unterschied ist sicher das Alter. Bei Alfred weiss man nicht genau, wie alt er ist, als er die Geschichte erzählt. Er erzählt über seine Kindheit und Jugend zu einem Zeitpunkt, in dem er schon etwas älter ist. Dadurch hat er bereits eine gewisse ironische Distanz zu sich selbst und seinem Scheitern erlangt. Bei Anatol hat man das Gefühl, dass er noch mittendrin ist. Er ist älter, aber dadurch auch schon etwas bitterer. Es ist nicht mehr alles möglich, wie bei Alfred. Bis man 20 ist, steht einem die Zukunft offen, egal was passiert ist. Aber mit 35 wie bei Anatol sind gewisse Lebenswege bereits verbaut. Deshalb ist Anatol vielleicht auch die etwas traurigere Figur.

Sie schreiben vom Scheitern eines Germanistikstudenten. Anatol hat sich als Autor versucht, aber versagt sowohl in der Karriere als auch in allen anderen Lebensbereichen. Was muss man als Germanistikstudent*in und Geisteswissenschaftler*in tun, um nicht so zu enden?

Wahrscheinlich Nanowissenschaften studieren (lacht). Das war sowieso der erste Fehler, wenn man das nicht gemacht hat. Aber ich kenne auch viele heitere Germanistik- und Philosophiestudierende. Es gibt bei dem Studium aber schon die Gefahr, weil es geisteswissenschaftlich ist und einem sehr viel Zeit für sich selbst lässt, dass man sich zu sehr in sich selbst hinein verkriecht. Während den Semesterarbeiten und den Semesterferien kann es passieren, dass man sich in diesen Labyrinthen des Geistes irgendwann verliert und nicht mehr herausfindet. Das ist die Gefahr dieses Studiums. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man durch Geselligkeit, Freunde und Alkohol auch einen Ausgleich zum Studium hat.

Wollten Sie schon immer Schriftsteller werden?

Ich wollte ursprünglich eigentlich Schauspieler werden und habe mich nebenbei noch für Philosophie und Germanistik eingeschrieben. Ich habe dann aber schnell gemerkt, dass mir für die Schauspielerei dann doch der Mut und wahrscheinlich auch das Talent fehlt. Ich hatte einfach wahnsinnige Lust, mit anderen Leuten über Literatur zu diskutieren, was schliesslich den Ausschlag gegeben hat.

Aber nicht nur das Studium der Germanistik haben Sie mit Anatol gemeinsam. Sie bewegen sich wie Ihr Protagonist zwischen der Schweiz und dem polnischen Lodz. Wie viel Lukas Linder steckt in Anatol?

Es gibt sicher einige Dinge, die mir bei Anatol bekannt vorkommen. Aber weil er eine Kunstfigur ist, habe ich das Gefühl, dass er eigentlich gar nicht mehr so nahe ist, wie man vielleicht denken könnte. Er ist eine Kunstfigur, die ich sehr gut beherrsche, weil ich sie mittlerweile schon oft in unterschiedlichen Texten verwendet habe. So gibt es auch viele Stellen, an denen unsere Wege auseinandergehen. Ich würde sagen, Anatol ist zum Beispiel sehr viel bitterer als ich. Ich kann zwar nicht von mir behaupten, ein sehr ausgeglichener Mensch zu sein, aber gewisse Kämpfe, die er ausficht, kann ich einfach ruhen lassen. Ich schaue um einiges heiterer auf die Welt.

Besteht die Gefahr, dass man in immer gleiche Muster verfällt, wenn man eine Kunstfigur mehrfach verwendet?

Das ist sicher eine grosse Gefahr und war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich die Erzählperspektive im zweiten Roman geändert habe. Es ist jetzt ein auktorialer Erzähler und nicht mehr die Ich-Perspektive. Ich hatte grosse Lust, diesen Charakter nochmals aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Aber natürlich gibt es auch Dinge, welche sehr ähnlich sind und sich wiederholen. Durch die neue Erzählperspektive ändert sich allerdings auch der Tonfall und die Erzählart. Bei der Ich-Perspektive sind mehr Emotionen im Spiel, sowohl in Bezug auf die Hauptfigur aber auch in Bezug auf die Nebenfiguren. Durch die emotionale Aufgeladenheit gibt es aber auch die Gefahr der Geschwätzigkeit. Beim auktorialen Erzähler ist es etwas distanzierter und kühler, stellenweise auch etwas sadistischer, aber dafür genauer auf den Punkt.

Ihre beiden Romane zeichnen sich durch Sprachkomik und Wortwitz aus. Aber wie spricht Lukas Linder ausserhalb seiner Bücher?

Ich bin tatsächlich ein sehr ironischer Mensch, was mir auch hilft, Dinge auf Distanz zu halten. Aber ich rede natürlich nicht wie ein Buch, gerne aber viel und schnell. Manchmal geht mir das Bücherschreiben dadurch sogar etwas zu leicht von der Hand. Ich habe selten eine Schreibblockade und liebe es anzufangen. Ein weisses Blatt Papier ist für mich ein Neuanfang. Alles ist offen und man hat jetzt die Chance, den besten Text zu schreiben, den man je geschrieben hat. Auch wenn es nie gelingt, ist das das Reizvolle. Ich liebe es, anzufangen und etwas Neues auszuprobieren. Die Enttäuschung stellt sich dann häufig nach ungefähr 20-30 Seiten ein.

Am Schluss von Der Unvollendete scheint sich Anatol schliesslich im Schatten seiner selbst, in diesem Schattendasein, das er bisher geführt hat, komplett aufzulösen. Ist das das Ende oder ein Neuanfang? Kann er sich noch ändern und erfolgreich werden?

Ja, das ist meine Hoffnung. Durch dieses Verschwinden wird Anatol von seiner Geschichte und dieser Erzählperspektive, aber auch von mir erlöst. So kann er sich jetzt freier bewegen und sich vielleicht sogar neu erfinden. Er ist auch befreit von meinem klischierten Blick und kann etwas ganz anderes machen. Er muss nicht wie sein Autor sein und nochmals ein Buch schreiben. Er kann etwas machen, was ihm wirklich Spass macht.

Wird es jemals eine Fortsetzung von Der letzte meiner Art und Der Unvollendete geben oder würde das dem Konzept der Bücher zuwiderlaufen?

Diese Vorstellung ist auf jeden Fall reizvoll. Das wäre eine Fortsetzung in dem Sinne, dass sehr ähnliche Doppelgänger in einem anderen Text wieder vorkommen, aber vielleicht nicht unbedingt mit dem gleichen Namen. Vielleicht etwas älter oder in einem anderen Zusammenhang, das kann ich mir gut vorstellen.

Sie selbst sind sehr erfolgreich. Ihr neuer Roman ist ein Bestseller. Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre Werke?

Ich liebe das Komische an Situationen. Fast jede Situation hat etwas Komisches und ich liebe es, diese komischen Details zu entdecken. Ich habe das Gefühl, das sind die Details, an denen das Menschliche erst richtig sichtbar wird. Also das Komische im Sinne vom Witzigen aber auch das Komische im Sinne vom Grotesken. Ich mag es, zu beobachten und über diese Details zu schreiben.

Ich habe Ihr Buch als eine Art Nachdenken über das Scheitern gelesen. Auf welche Gedanken soll man denn dabei kommen und was fürs eigene Leben mitnehmen?

Die Schönheit der Selbstironie und die Kunst, sich über sich selbst lustig zu machen. Es war ein wunderbarer Moment für mich, als ich entdeckt habe, dass es so etwas wie Selbstironie gibt. Die Selbstironie macht das Leben und die Beziehung zu einem selbst aber auch zu anderen Menschen einfach leichter. Als Kind habe ich von David Sedaris, einem US-amerikanischen Autor, eine Kurzgeschichte über nervöse Ticks gelesen. Ich hatte damals selbst solche Ticks und mich natürlich dafür geschämt. Aber so konnte ich entdecken, dass man darüber auch eine lustige Geschichte schreiben kann.

Sie haben Ihre Schriftstellerkarriere mit dem Schreiben von Theaterstücken begonnen. Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Schreiben von Theaterstücken und Romanen? Warum haben Sie mit dem Romanschreiben angefangen?

Beim Romanschreiben taucht man etwas mehr in eine Welt ein. Meine Theaterstücke sind sehr viel szenischer und kürzer, wodurch man nicht ganz so sehr in dieser Welt aufgeht. Ausserdem ist es im Theater viel mehr eine Teamarbeit. Man arbeitet mit sehr vielen kreativen Leuten zusammen, wodurch man auch viele Kompromisse eingehen muss. Beim Roman bin ich allein verantwortlich. Was mir gefällt, ist die Abwechslung, wenn ich beides machen kann. Leider ist es allerdings momentan sehr schwierig, Theaterstücke zu schreiben. Nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch allgemein Bühnen zu finden. Deshalb ist es für mich aktuell einfacher, Prosatexte zu schreiben. Jeder möchte einen Roman schreiben und auch ich habe das immer schon probiert. Ich habe dann den Umweg über das Theater genommen, weil es mir leichter gefallen ist für lange Zeit, Geschichten durch Dialoge zu erzählen. Beim Roman hat mir lange der Fokus und die Überzeugung gefehlt, eine Geschichte über so viele Seiten zu erzählen.

Können Sie sich vorstellen, dass wir die Figuren Ihrer Romane auf der Bühne wiedersehen werden?

Diese Kunstfigur, dieser Typus von Anatol und Alfred, aber auch der Mutter gibt es auch in vielen Theaterstücken von mir. Da gibt es keine klare Trennung.

Dürfen wir auf ein nächstes Buch hoffen?

Ja, natürlich! Ich weiss noch nicht, wann es erscheinen wird, aber die Lust am weissen Blatt ist so gross, dass ich immer noch grosse Lust habe, weiter zu schreiben!

Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Termine mit Lukas Linder im Rahmen der Solothurner Literaturtage:

Sa. 15.5. 10:00-11:30 Uhr: Skriptor Prosa – Textwerkstatt zu einem Text von Lukas Linder

So. 16.5. 14:00-14:40 Uhr: Lukas Linder – Lesung und Gespräch

So. 16.5. 10:30-11:30 Uhr: Im Dialog – Pedro Lenz mit Lukas Linder

Unser Team in Solothurn:
Laura Barberio

Laura hat es bisher leider noch nicht geschafft, die Eröffnungsveranstaltung und Preisverleihung zu besuchen, was sich nun bei der dritten Teilnahme an den Solothurner Literaturtagen schleunigst ändern soll.

Darüber hinaus freut sie sich über das Branchengespräch zur Literaturkritik und einen aufschlussreichen Dialog zwischen Pedro Lenz und Lukas Linder. Von der Veranstaltung Dürrenmatt wiedergelesen erhofft sie sich einige interessante Inputs, die sie direkt in ihren Unterricht einbauen kann, denn die bevorstehende Klassenlektüre wird Der Richter und sein Henker sein. Friedrich Dürrenmatt wäre dieses Jahr 100 Jahre alt geworden, da stellt sich die Frage, wie sich Dürrenmatt heute weiterdenken lässt.