Zora del Buono – Lesung und Gespräch mit Manfred Papst

Simone von der Geest und Regula Weber im Gespräch zur Lesung

Simone von der Geest
Gestern im Gespräch mit Regula Rytz hat Zora del Buono gesagt, dass sie Menschen möge. Ich finde, dass diese positive Einstellung und diese Neugier, andere Menschen zu verstehen, «Die Marschallin» durchdringt. Zora del Buono, die Hauptfigur in «Die Marschallin» ist nicht nur positiv gezeichnet, sie wird auch als unzufriedene Mutter, als eifersüchtige Geliebte dargestellt, und dennoch geht man als Leser*in eine besondere – vor allem auch verstehende – Beziehung mit ihr ein. Empfindest du das auch so? 

Regula Weber
Ja. Ich verstehe es genau so, wobei die Liebe und die positive Einstellung sich ganz besonders auch in der Art und Weise manifestiert, wie sie ihre Figuren zeichnet – gerade, wenn es darum geht, Schwächen oder Schwierigkeiten darzustellen, also das ganze Spektrum menschlichen Daseins auszuleuchten.

Simone von der Geest
Ich finde auch, dass das nicht nur auf die Hauptfiguren zutrifft, sondern auch auf jene vielen kleinen Nebenrollen, wie beispielsweise Cinzia la capricciosa auf San Domino. Zahnlos, rauchend, heruntergekommen – und dennoch begegnet man der Figur wohlwollend und nimmt sie als Persönlichkeit wahr. Vielleicht hat dies auch viel damit zu tun, wie Zora del Buonos Geschichten entstehen. Sie vergleicht das Buchschreiben mit einem Architekturprojekt – ist das für dich nachvollziehbar?

Regula Weber
Das scheint ein ganz wichtiger Punkt in ihrem Schreiben zu sein. Sie hat den Prozess verglichen mit einem Hausbau: Erst entsteht die Stahlbaukonstruktion, die dann nach und nach gefüllt wird. Ich finde das Bild sehr stimmig. Zora del Buono weist ja auch darauf hin, dass ihr räumliches Denken sie beim Schreiben unterstützt.

Simonen von der Geest
Deswegen verirrt man sich als Lesende wohl auch nicht in ihren Geschichten, was angesichts der vielen Schauplätze in ihrem Roman durchaus gegeben wäre. Tatsächlich scheint sie sich viel Zeit für die Entstehung eines Romans zu nehmen. Sie forscht in Archiven, besucht die Orte und spricht mit Menschen und blickt kritisch in ihre eigene Lebensgeschichte zurück. Ihre Aussage, dass Geschichten eine Inkubationszeit brauchen, finde ich in diesem Zusammenhang sehr interessant, gerade auch angesichts vieler sehr junger Autorinnen. Was meinst du dazu? 

Regula Weber
Das ist ein Aspekt, den man durchaus im Zusammenhang mit Silvio Huonders Frage «Kann jemand schreiben, bevor er gelebt hat?» sehen kann. Aber da spielt wohl nicht in erster Linie das Lebensalter eine Rolle, sondern die Frage, wie es gelingt, einen Stoff zu entwickeln. Ganz spannend finde ich in diesem Zusammenhang auch Zora del Buonos Selbsteinschätzung, wenn sie sich als Fabuliererin bezeichnet, die zwar auch journalistisch tätig ist, sich aber wohler im literarischen Schreiben fühlt. 

Simone von der Geest
Ja, zumal sie beide Formen des Schreibens kennt und nach wie vor auch journalistische Beiträge verfasst. Dabei wird wiederum deutlich, wie Ideen zu Romanen aus journalistischem Interesse an einem Thema heraus entstehen. Manfred Papst hat zum Ende der Lesung bemerkt, dass man das Buch auf zweierlei Weise lesen kann: naiv oder reflektiert. Wie hast du das Buch gelesen, naiv oder reflektiert?

Regula Weber
Ganz bestimmt auf beide Arten! Das Leben ihrer Grossmutter, das exemplarisch beinahe das ganze 20. Jahrhundert beleuchtet, hat mich vor allem in Bezug auf den historischen Kontext fasziniert ebenso wie die Souveränität, mit der Zora del Buono die unzähligen Episoden erzählerisch verknüpft. Aber ganz besonders hat mich das Erzählen selbst in diesem Text nicht mehr losgelassen. Es ist geprägt von einer hohen Präzision, die sich mit einem tiefgründigen Humor verbindet, der niemanden blossstellt, sondern die Leben der Menschen in allen Facetten überzeugend darzustellen vermag.

Man sollte nie aufgeben, weder literarisch noch politisch.

Ein Gespräch zwischen Zora del Buono und Regula Rytz

Kunst trifft Politik – was kann man als Zuhörer*in von einem spontanen Gespräch zwischen Regula Rytz und Zora del Buono erwarten? Wie sich herausstellt, eine ganze Menge. Es entsteht ein lebensnaher, lebendiger und spannender Austausch zwischen zwei starken sprachlich versierten Frauen, die mit grosser Leichtigkeit über Leben, Literatur und Politik parlieren.

Anfangs erwähnt Zora del Buono, dass sich die beiden erst seit zehn Minuten kennen, und ohne vorgefassten Plan oder Fragenkatalog in das Gespräch gehen. Zora del Buono beweist, dass sie eine versierte Erzählarchitektin ist und in Regula Rytz ein Gegenüber auf gleicher Augenhöhe gefunden hat.

Angeregt durch die Frage der Moderatorin, wieviel Optimismus es heute brauche, gibt Zora del Buono zu bedenken, dass wir uns in einer Krisensituation befinden, die schwierig zu steuern sei. Regula Rytz greift das Thema sofort auf und überträgt es auf das Buch «Die Marschallin»: Auch hier gibt es eine Zeit voller Umbrüche und Unsicherheiten, aber die Figuren schaffen es, ihren Optimismus zu bewahren. Ein Leben voller rabenschwarzer Zuversicht, in dem Veränderung möglich ist.

Diese eng verwobene Verbindung von Literatur, Politik und eigenen Erfahrungen wird zum roten Faden, der sich durch das gesamte Gespräch zieht. Für beide ist die heutige junge Generation der Hoffnungsträger, der Veränderung bringt. Am Beispiel von Annalena Baerbock diskutieren sie die Rolle einer jungen Politikerin, die sich als Frau – intensiver als ein Mann – den Auswüchsen der Sozialen Medien zu stellen hat. Dabei betont Regula Rytz, dass man sich als öffentliche Person einerseits mit vielen kritischen Meinungen auseinandersetzen muss und zugleich davon abhängig  ist. Auch als Autorin erfährt man dies – ergänzt Zora del Buono – dabei ist es wichtig «bei sich zu bleiben».

Regula Rytz bemerkt, dass dies auch der Protagonistin in Die Marschallin gelinge und sie gerade dadurch eine faszinierende, aber auch dominante Persönlichkeit werde, die eigene Wege sucht – gerade wie die junge Generation heute. Eine zwiespältige Figur, gibt Zora del Buono zu bedenken. In diesem Kontext möchte Regula Rytz wissen, wie es ihr gelungen sei, die Figuren so lebendig zu gestalten. Die Autorin führt aus, dass sie ein Herz für jede Figur und den Roman als Möglichkeit begriffen habe, um das Haus ihrer Grossmutter, das verloren gegangen war, wieder auferstehen zu lassen. Auch schätze sie die Arbeit der Historiker*innen sehr, die die komplizierte europäische Geschichte rekonstruiert haben.

Für  Regula Rytz ist nicht nur Europa voller lebenspraller Geschichten, auch  in der Schweiz laufen solche Geschichten zusammen. Zora del Buono ergänzt, dass die Schweiz eben nicht nur das schöne kleine Alpenland mit der niedlichen Sprache sei, sondern ein supermodernes, globalisiertes Land, in dem Integration besser funktioniere als in Deutschland. Indes mache gerade die Coronakrise die Probleme und Abhängigkeiten der Globalisierung deutlich und man könne sich fragen, inwieweit diese Krise literarische Stoffe hervorbringen könne oder müsse. Die Bedeutung von literarischem und politischem Schreiben rücke damit ins Zentrum.

Die grundsätzliche Frage, so Zora del Buono, sei doch aber folgende: Wann beginnen Menschen sich zu verändern oder wann verändern sie ihre Haltung? Im Gegensatz zu Regula Rytz glaubt Zora del Buono nicht, dass Schriftsteller*innen Manifeste verfassen sollten, dies sei eher die Aufgabe von Journalist*innen. Die Aufgabe einer Autorin bestehe darin, Geschichte(n) zu beleben und sich in Menschen hineinzufühlen. In diesem Moment verschmelze Historisches mit Literarischem.

So wie die Literatur bewusst mit Sprachbildern arbeitet, so geschieht dies auch in der Politik. Regula Rytz und Zora del Buono sprechen über die «neue Sprache der Politik», die der deutsche Grünpolitiker Robert Habeck thematisiert. Er versucht, die politisch instrumentalisierte, auf Konfrontation ausgerichtete Sprache in einen konstruktiven Diskurs zurückzuführen und damit auch die politische Kultur wieder zu verändern.

Abschliessend bemerkt Regula Rytz, dass in der politischen Sprache mit Bildern gearbeitet werde, die die alte Ordnung zementierten. Ihrer Ansicht nach ist der konstruktiv sprachliche Diskurs Kern der Demokratie. Gemeinschaft besteht Zora del Buono nach im offenen Gespräch – sei es in der Politik, in der Geschichte oder in der Literatur: «Viele wollen zusammen, was richtig ist.»

Simone von der Geest und Regula Weber waren aufmerksame Zuhörerinnen dieses inspirierenden Gespräches.