Krise und Literatur und Krise

von Linus Oberholzer und Katja Lindenmann

«Literatur und Krise» hiess das Podium offiziell. Treffender wäre aber «Corona und drei Schweizer Literaturschaffende» gewesen. Martina Clavadetscher, Gertrud Leutenegger und Alberto Nessi unterhielten sich mit Lukas Gloor über dieses omnipräsente Thema. Zugehört haben Linus Oberholzer und Katja Lindenmann. In einem Chat channelten sie dabei ihre millennial-energy und schrieben mit ihren Alter Egos Kristian_Chracht und BingeborgAchmann_1998 live über die Veranstaltung. Den Chat gibt es hier – mit einem Augenzwinkern − zu lesen.

[16:02] @BingeborgAchmann_1998
#nocoronapunintended hoffe ich doch

Krisen über Krisen...take it away Lukas Gloor
[16:03] @Kristian_Chracht
Lukas Gloor fragt gleich vorneweg: "Ob die Literatur angewiesen ist auf Krise?"
Da bin ich mal gespannt!
[16:04] @BingeborgAchmann_1998
Ich auch!

Juhu. Clavadetscher ist dabei. Ich freue mich auf ihren Input à la "Erfindung des Ungehorsams". Gehts dann wohl um Coronaskeptiker*innen?

und jetzt auch noch "Panischer Frühling" von Leutenegger, ist das ein Witz oder ein echter Corona-Roman? ...aber nein, es geht ja nur um einen Vulkanausbruch. 

Und auch kein Cyborg-Coronaskeptiker*innen-merge von Clavadetscher...
[16:06] @Kristian_Chracht
Ha! Ich bin also nicht alleine.
Auch Clavadetschers Schreiben wurde durch Corona gehemmt.
[16:09] @BingeborgAchmann_1998
Ja, wem sagst du das. Aber das find ich ja jetzt schon spannend. Corona als kreativer Shutdown oder produktiver Lock-in? Ich hab ja auch ganz viele Hobbies dazugewonnen in der Zeit. Aber ich hab ja auch keine Kinder so wie Clavadetscher...
[16:09] @Kristian_Chracht
Ja, auf jeden Fall beruhigend zu hören, dass es auch den Profis so geht.
[16:10] @BingeborgAchmann_1998
Ok, shit. Leutenegger kommt gleich zur Sache. Bäm kommt sie rein mit Coronatoten und Menschen am Existenzminimum...#tearinupoverhere ...und jetzt noch so poetisch "Wie fehlt uns die Musik vor Allem" ...ich seh sofort einen Roman vor mir. Aber ob ich den lesen wollen würde?

hui und jetzt Italienisch von Nessi. Hast du die Simultanübersetzung gecatcht?
[16:12] @Kristian_Chracht
Den ersten Satz hab ich verpasst. Aber jetzt läufts haha
[16:12] @BingeborgAchmann_1998
Haha.
Jetzt kann ich sogar noch bisschen Italienisch üben heute..unverhofft.
[16:12] @Kristian_Chracht
Nessi machte ja gleich weiter mit schockierenden Bildern. Tote, die im Lastwagen abtransportiert werden... Er schaffte es aber, in den Nächten zu schreiben. Chapeau!
[16:13] @Kristian_Chracht
ja, heftig. das find ich jetzt auch ein krasses und irgendwie inspirierendes Bild. Das der sich so in die Nacht zurückgezogen hat. Als hätte das Schreiben während Corona was Verbotenes. Weil es vielleicht grad Wichtigeres zu tun gäbe sonst? Oder ist Kunst mitunter besonders wichtig zu dieser Zeit? Darum sollte es doch jetzt gehen und nicht um das Griechische Wort crisis, das Gloor einwirft und laaange ausführt. da hab ich grad schon etwas abgeschaltet...
[16:14] @Kristian_Chracht
Da fällt mir ein Satz eines Dozenten ein: "Wer kein Griechisch kann, kann gar nichts" haha
[16:14] @BingeborgAchmann_1998
hahaha. #truethat wenn es nach Gloor geht.

JAWOHL Nessi, ein positiver Krisenbegriff bitte. Den brauchen wir jetzt.
[16:14] @Kristian_Chracht
Mal schauen, wie er das meint. 
[16:16] @BingeborgAchmann_1998
Nessi ist ja super. Die Krise als Inspiration oder als Impetus würde Gloor vielleicht hören wollen...
[16:16] @Kristian_Chracht
Die Krise also nicht als Ursprung des Schreibens. Sie soll lediglich dabei helfen, das, was man zu sagen hat, auch ausdrücken zu können.
Wie verstehst du das?
[16:18] @BingeborgAchmann_1998
Hmm...ich habs jetzt so verstanden, dass die Krise halt bewegt und Bewegung bringt neue Perspektiven. Dann kann man vielleicht was sagen, was man sonst nicht auszudrücken vermocht hätte.
#imapoettoo
[16:21] @Kristian_Chracht
Jetzt ein interessanter Input von Clavadetscher: Die Corona-Krise ist uns zu nahe, um gleich darüber schreiben zu können. Wir brauchen Zeit, um die nötige Distanz dazu zu gewinnen.

Und Nessi schliesst gleich an. Es braucht das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zur Krise.
[16:23] @BingeborgAchmann_1998
Ja, finde ich auch spannend. Sowieso der Zeitaspekt. Die Gleichzeitigkeit, die Unmittelbarkeit zur Krise lähmt, wie es Clavadetscher sagt, und dann Nessi, dass alles durch die Coronasituation angehalten wurde. Aber viele sagen doch auch, dass sie jetzt so viel Zeit hätten? #sauerteigbrot

Kraut-Funding. haha. good one @Gloor
[16:24] @Kristian_Chracht
Haha!

Leutenegger ist schockiert!
Für sie hat Literatur nichts mit Aktualität zu tun.
[16:24] @BingeborgAchmann_1998
Ja, blick ich nicht. Literatur an die Aktualität rantragen findet sie komisch.

Ohaaa, jetzt aber. Journalismus vs. Literatur also. Das geht ja in das rein, was Clavadetscher auch gesagt hat. Je näher am Geschehen, desto eher geht es ins Dokumenatarische.
[16:25] @Kristian_Chracht
Ich hoffe, das führt sie noch aus!
[16:26] @BingeborgAchmann_1998
Clavadetscher übernimmt und führt aus: Wenn Literatur auf Aktualität trifft, kann Sprache deformieren usw. Das macht jetzt wieder mehr Sinn für mich. Deformation finde ich da ein schönes Wort.

Wie verstehst du das?
[16:26] @Kristian_Chracht
Sie findet, dass Literatur durchaus auf Aktualität reagieren kann. Dann aber eher als Spiegel.
[16:27] @BingeborgAchmann_1998
Hm, yesyes. Und jetzt noch eine Anekdote von Leutenegger...ich brauche kürzere Antworten #girlpls
[16:27] @Kristian_Chracht
Leutenegger spricht wohl gerne in Bildern haha
[16:29] @BingeborgAchmann_1998
jap.

Die Literatur muss nicht das Schlachtengetrümmer der Aktualität zeigen, sagt sie.. hmmm. Ich weiss ja nicht.

Sie hat ja schon vorher gesagt, dass sie die unmittelbare Abhängigkeit von Literatur zur Krise als obszön empfinden würde. Also wenn man sagt, dass die Literatur die Krise braucht. Da wolle sie nicht Teil davon sein.
[16:29] @Kristian_Chracht
Da sind mir Nessis Aussagen jetzt viel näher!
[16:30] @BingeborgAchmann_1998
same here!
Ich verstehe schon, was sie meint. Aber irgendwie bin ich auch eher Team Nessi/Clavadetscher. Obwohl die ja eh alle nicht so riichtig ins Gespräch kommen...

Nessi sagt es jetzt ja auch schön: klar, es braucht kein Abbild der Realität. Aber einen Blick darauf.
[16:31] @Kristian_Chracht
Genau. Leutenegger findet ja, Literatur könne die Gegenwart nicht beeinflussen. Das ginge lediglich mit Flugblättern usw. Aber das sei dann natürlich keine Literatur. Spezielle Ansicht, finde ich.
[16:32] @BingeborgAchmann_1998
Ich auch. 

jöh, jetzt hat sie auch noch Italienisch gesprochen. Ihr sei ein Missverständnis passiert. und Nessi nur so: "si, grazie" #grosseskino
[16:34] @BingeborgAchmann_1998
Sie hat also gemeint, sein lyrisches Buch, das sie als Bestiarium beschrieben hat, sei der einzige Beitrag zur Coronakrise gewesen...und dann war sie enttäuscht über sein Corona-Tagebuch, das auch noch rauskam. Ich will beides gerne lesen.
[16:34] @Kristian_Chracht
Leutenegger übernimmt mit ihren komplett neuen Inputs ab und an die Rolle des Moderators. Findest du nicht auch?
[16:35] @BingeborgAchmann_1998
voll! Ich wünschte, dass mehr ein Gespräch entstehen könnte. So sehr ich Nessi auch in Italienisch und Französisch gerne zuhöre...da hilft die Übersetzungshürde halt auch nicht.
[16:37] @Kristian_Chracht
Total!
Und jetzt kommt noch die Resilienz ins Spiel. Trifft ja voll den Zeitgeist.
[16:38] @BingeborgAchmann_1998
Mhm. Und dann noch mit Sigmund Freud...

Nessi ist totaler Optimist. Das ist ganz erfrischend. Der schöpft aus der Krise...er spricht ja vom Bewusstsein der eigenen Fragilität, die Corona schafft und die anrege. Uh, da wird Leutenegger auch wieder getriggert.
[16:39] @Kristian_Chracht
Mal eine ganz neue Sichtweise. Tut echt gut!
[16:40] @BingeborgAchmann_1998
Immer wieder also die Krise als Katalysator.

Mhm. sorry to break it to you, aber Gloor will jetzt über Geflüchtete sprechen.
Sicher ein wichtiges Thema! Jetzt wirds spannend...?
[16:40] @Kristian_Chracht
Ganz im Stil eines Journalisten. Negativität verkauft sich halt besser haha
[16:43] @BingeborgAchmann_1998
ha! Wobei, ich hatte mir ja gewünscht, dass es nicht nur um Corona in unserer Luxusbubble geht. here we go also: Soziale Fragilität.

Jetzt spricht Nessi das direkt selber an...wir seien durch die Krise auf das Essenzielle des Lebens zurückgeworfen und müssen unseren Stolz wegwerfen usw.

Tun wir - ich meine jetzt uns Menschchen, die uns hier virtuell fröhlich tummeln können - das aber? #privilegedtothemax
[16:45] @Kristian_Chracht
Ein spannender Ansatz. Aber bei der Essenz des Lebens sind wir auch jetzt noch nicht angelangt. Da geht es uns echt zu gut, wie Gloor behauptet.
[16:45] @BingeborgAchmann_1998
you go @Gloor! jetzt bringt er selber "Schweiz-Bashing" rein. und Leutenegger findet die Pandemie bei uns genauso dringlich wie sonst wo auf der Welt...? ok...ganz ehrlich wtf
[16:49] @Kristian_Chracht
haha Leutenegger einmal mehr schockiert.

Clavadetscher fasst den Gedanken klarer. Sie findet, die Schweiz darf auch als reiches Land Turbulenzen haben. Und wie ich finde hat sie recht, dass man nicht IMMER relativieren soll...
[16:49] @BingeborgAchmann_1998
Jaja, das finde ich schon auch. Es geht halt um ein Bewusstsein. Und das eigene Privileg checken und die eigene Krise dennoch nicht ausblenden - vor allem in Hinblick auf verschiedenste Bevölkerungsschichten - ist mega wichtig. Ich bin froh, hat sie sich hier eingeschaltet. Sie kommt etwas zu kurz, sagt aber immer super spannende Sachen.
[16:50] @Kristian_Chracht
Genau. Sie spricht nicht oft. Aber wenn sie spricht, dann immer sehr prägnant.
[16:50] @BingeborgAchmann_1998
Ja, total.

Gebe ihr da auch klar Recht: Die Schweiz glänzt nur an der Oberfläche.
[16:50] @Kristian_Chracht
Gloor leitet die Diskussion hier in eine gute Richtung.
[16:51] @BingeborgAchmann_1998
Ja, finde ich auch. 

huh. Und Nessi kommt echt noch einmal mit dem Griechischen... du solltest Recht behalten..oder eher dein Lehrer. Crisis jetzt im Sinne von "Entscheidung".
[16:51] @Kristian_Chracht
Ja, leider haha
Hier ist das Beispiel durchaus berechtigt.
[16:51] @BingeborgAchmann_1998
Da wären wir ja wieder bei der Bewegung, die Krise auslöst.
[16:52] @Kristian_Chracht
Leutenegger bashed jetzt Klischees.
Aber recht hat sie!
[16:53] @BingeborgAchmann_1998
Ja. das war jetzt nicht schlecht: Nicht die Schwez ist langweilig, sondern die Klischees sind es. langweilig finde ich eh nicht das richtige Wort... ich finde das spannender, was Nessi auch schon angesprochen hat: Literatur ist in der Schweiz auch ein Luxus. 

Und aus dieser Perspektive muss man sie auch lesen. Das ist ein Privileg und macht sie aber inhaltlich sicher nicht per se irrelevanter.
[16:54] @Kristian_Chracht
Genau, es ist immer eine Frage der Perspektive.
[16:55] @BingeborgAchmann_1998
mhm. und Nessi noch einmal wunderbar: Dass es um das Gewöhnliche geht, das in der Literatur schön gemacht wird. Und dann auch politisch: Wir müssen mit gewöhnlicher Sprache beginnen, für alle und für andere sprechen, sagt er so ungefähr. Finde isch spannend.
[16:57] @Kristian_Chracht
Literatur kann vieldeutig sein. Wie Clavadetscher sagt, hat die Literatur ganz andere Spielregeln als die Realität. Und das ist gut so!
[16:58] @BingeborgAchmann_1998
Finde ich auch. Und jetzt zum Abschluss, die Frage, ob die Autor*innen einen Corona-Roman schreiben werden.

Klares nein von Leutenegger. Aber hast du ihre genaue Antwort verstanden? Was war das mit der Mitte der Welt?
[16:59] @Kristian_Chracht
Ja, etwas gar kryptisch. 
Nessi bleibt nichts anderes übrig, als ihr einfach mal zuzustimmen haha
[17:00] @BingeborgAchmann_1998
Ja, und dann damit zu ergänzen, was er schon ein paar mal angedeutet hat: er schreibt persönlich. Und in diesem intimen Schreiben ist die Pandemie drin, ohne, dass sie konkret angesprochen wird oder werden muss.
[17:01] @BingeborgAchmann_1998
So und das wars. Ich bin raus. #cherriioo #feierabendbierichkomme tüdelüü Kristian...lass es chrachen^^
[16:51] @Kristian_Chracht
haha. Ach Mann. tüdelüü.

Literatur und Krise

Ob die Überschrift Literatur und aktueller Zustand besser geeignet wäre? Jein, wir befinden uns zwar Mitten in der Krise, aber diese wird es immer geben. So wie sie kommen, werden sie auch wieder vorbeigehen. Der Zustand der Krise hat viele Bedeutungen. Manche betreffen unser Privatleben, andere die gesamte Weltbevölkerung. Doch wie geht die Literatur damit um? Das Podium wird eröffnet von Lukas Gloor und Martina Clavadetscher, Gertrud Leutenegger und Alberto Nessi steigen in die Diskussion ein.

Man könnte denken, in krisenreichen Jahren hätten Autor*innen mehr denn je Zeit um zu schreiben. Doch Getrud Leutenegger sowie Martina Clavadetscher waren zu Beginn der Corona-Krise in ihrem Schreibprozess erst einmal gelähmt und gehemmt. Das kennen wir wohl alle – eine neue Situation stellt einen vor neuen Herausforderungen. Alberto Nessi erzählt, sein Schreibprozess sei sonst sehr langsam. Doch im Krisenzustand konnte er nicht schlafen und begann nachts spontan zu schreiben – so entstand in drei bis vier Monaten sein Tagebuch mit Reflexionen über Existenz und Erinnerungen. Er schreibt nicht über die Pandemie, vielmehr war diese der Vorwand, um zu schreiben. Dabei setzte er sich mit seinem Inneren und seinen Erfahrungen auseinander. 

Nun stellt sich die Frage: Braucht die Kunst die Krise? Eine Krise kann Ideen geben und etwas auslösen. Sie macht der Menschheit die Vergänglichkeit bewusst. Sie zeigt, wie zerbrechlich wir sind. Krisen sind vielfältig. Im Wörterbuch gibt es zum Stichwort «Krise» über 100 Varianten. Jede*r hat sein eigenes kleines Päckchen zutragen. Es gibt individuelle Krisen und solche, die unsere ganze Gesellschaft betreffen. 

Subjektive oder persönliche Krisen können als Katalysator genutzt werden und Martina Clavadetscher beschreibt diesen Prozess als Heilung. Krisen veränderten die Umstände, welche dann wieder mit neuer Poesie gefüllt werden könnten. 

Gertrud Leutenegger schrieb nicht über die Corona-Krise, obwohl diese Teil unseres Lebens geworden ist. Sie widmet sich der Flüchtlingskrise und schildert diese in ihrem Buch so, dass sie ein Teil unserer Gedankenwelt wird. Sie möchte, dass sich diese Thematik mit unserer Gedankenwelt, mit unseren Fluchterlebnissen und seelischen Nöten vermischt.

Kann man als Autor*in in der Schweiz überhaupt über Krisen schreiben? Die Schweiz ist ein friedvolles Land. Mit Blick auf andere Länder ist die Schweiz vielleicht sogar ein Land, welches kaum Krisen durchleben musste. Ein schlechter Lehrboden? Gibt es zu wenig Krisen, zu wenig Dringlichkeit? 

Sie sind sich alle einig: Die Schweiz kann wunderbare Schriftsteller*innen hervorbringen. Martina Clavadetscher führt ausserdem an, dass nicht alles, was glänze, immer auch Gold sei. Auch darunter kann Dreck liegen. Man könne es auch in der Schweiz noch besser haben, als es jetzt sei, denn jede Gesellschaft habe ihre Probleme, welche noch gelöst werden könnten. 

Gertrud Leutenegger führt an, dass ein chinesischer Grundsatz besage: Der wesentliche Punkt ist, das Grosse klein zu machen und das Kleine gross. Dazu brauche es beim Schreiben die Distanz. Man muss nah genug am Geschehen sein und trotzdem auch distanziert genug, um sich der Thematik anzunehmen.
Die Kunst lebt von innen!

Frères Loups

La famille, n’est-elle pas fascinante ? Nous ne pouvons pas choisir notre famille, alors même qu’il n’y a aucune communauté qui a autant d’influence sur notre vie. Même dans le 21e siècle si globalisé, l’importance du réseau social local est indispensable. Particulièrement dans les périodes de la pandémie, quand on écoute la discussion au moyen d’un écran , l’importance des relations familiales est inestimable. On ne s’étonnera donc pas que le thème de la revue suisse d’échanges littéraires Viceversa soit « Histoires de familles ».

Un groupe de loups; peut-être qu’il s’agit de frères?

Lors du vernissage du quinzième numéro de la revue, un cercle quadrilingue de contributeurs lisaient et discutaient leurs contributions respectives: le Tessinois Fabio Andina, le Suisse romand Benjamin Pécoud, la Suisse alémanique Zora del Buono et une représentante de la littérature romanche, Gianna Olinda Cadonau.

Le premier texte discuté était le conte « Vaterlos » de Zora del Buono. Il s’agit d’une anecdote racontée par une semi-orpheline lors d’un séjour familial au Tessin. Un élément central est la Ferrari du père défunt de la narratrice. Mais la « Ferrari » est-elle vraiment ce qu’on pense ? La discussion met également en valeur la traduction comme expression artistique. Benjamin Pécoud, qui a traduit le conte, explique son choix de titre: « Sans père » au lieu de « Orpheline ». La grande difficulté quand on traduit une langue agglutinante comme l’allemand consiste dans le fait de devoir tenir compte que deux mots identiques peuvent avoir des connotations variées dans des langues différentes.

« Vie dans les bois » de Fabio Andina (lu en italien), explore la relation entre deux frères. Ils se disputent, se réconcilient et étudient leur relation familiale. Jusque là, tout est clair et habituel, mais juste avant la fin du conte, le narrateur révèle qu’il ne s’agit pas de deux frères ordinaires: les deux « hommes » poilus ne sont pas du tout des hommes, mais des loups. Ce choix est certainement pertinent: d’une part, on sait que les loups sont des animaux sociaux, de l’autre, le loup est un thème très controversé en Suisse. En fait, la révélation finale ajoute un deuxième rebondissement au conte: le collier qui est mentionné est en fait un traceur GPS. Donc, même dans la fiction, l’influence humaine est inéluctable.

La vernissage se termine avec la lecture d’un choix de poésies bilingues (allemand/romanche) de Gianna Olinda Cadonau. Un premier poème est adressé à son père, un second à sa mère et un dernier à la maison paternelle. Ils s’agit trois fois du même texte en deux langues différentes, écrit de la même plume, et pourtant, on a l’impression d’entendre des poèmes différents. N’est-ce pas fascinant qu’on s’imagine une maison sur un pente au-dessus de Disentis lors de la lecture en romanche, mais une maison urbaine en pleine ville lors de la lecture en allemand ? Cadonau révèle également qu’elle n’a pas de langue préférée dans laquelle elle rédige ses textes, mais que cela est un processus spontané : certains textes naissent en romanche puis sont traduits en allemand, et vice-versa.

Après avoir lu un livre, on se demande souvent ce qui en reste. Ces contes et poèmes donnent indubitablement un sens accru de la connectivité : une connexion entre l’homme et la nature, des connexions familiales et enfin des connexions entre les régions linguistiques suisses.

Adelheid Duvanel – grosse Autorin kleiner Formen

Ein Gespräch über Adelheid Duvanel mit den beiden Autorinnen Patricia Büttiker und Friederike Kretzen und dem Literaturkritiker Samuel Moser

Vor 25 Jahren ist Adelheid Duvanel gestorben. In dieser Woche ist eine schöne Ausgabe ihres Werkes im Limmatverlag erschienen. Eine Anthologie zu Duvanels Schreiben wird im Herbst 2021 erscheinen.

Die Kurzprosa von Adelheid Duvanel ist durch ihren Ton meist schnell zu erkennen, er irritiert, fordert heraus, saugt ein, befremdet. Ihre Figuren kämpfen, schleichen durch eine wilde Welt, stürzen ab in Träume und Missverständnisse. Bei aller Tragik und Hoffnungslosigkeit behalten die Figuren etwas Widerständiges, und immer scheint der Humor durch.

In einem Brief von 1979 schreibt Duvanel über ihr Schreiben: «Jedes Wort, das ich schreibe, ist ein Zeichen, das ich mühsam in mir suche und aus mir heraushole. … Nur wenn ich mich ihnen zum Frass vorwerfe, wächst meine Welt.»

Duvanel war nie ganz vergessen. Zeichen dafür sind die immer erneut erschienen kleinen Bücher mit ihren Erzählungen, dazu auch ihre vielen Zeichnungen, die im Schweizerischen Literaturarchiv liegen. Übersetzt wurde sie ebenfalls in verschiedene europäische Sprachen.

Die Autorinnen und der Kritiker haben je einen Text ausgesucht, der vorgelesen und kurz besprochen wurde.

Patrizia Büttiker: «Ein Fremder»

P.B.: Diesen Texte muss ich mehrmals lesen, um sie zu verstehen, es bleiben jedoch immer wieder Fragen offen. Was passiert da überhaupt: die Laubflecken auf dem Gesicht, sperrige Wörter, über die man beim Lesen stolpert. Der ganze Text ist ein Augenblick, der da beschrieben wird, der sich über die Ränder hinaus ausbreitet.

S.M.: Ich finde, es ist eine fast klassische Erzählung mit Einleitung, Rückblende, Vorwegnahme, mit einem Exkurs, offener Schluss. Dies jedoch nur auf den ersten Blick. Schwierig an dieser Geschichte ist, dass man nicht weiss, WARUM dies alles passiert: Warum wird der Fremde erwähnt, darauf geht die Autorin nicht weiter ein. Es wird nicht erklärt, das habe ich in anderen Erzählungen auch festgestellt.

F.K.: Es gibt bemerkenswerte Details in diesem Text, z.B. wie eine Figur schneidet, wie ein Vogel, die Erwähnung der kleinen Hand. Man kann vieles nicht entziffern. So auch Wendungen wie «die Menge der Haare ist wie ein stürzender Berg». Das offene Ende ist zwar vorbereitet, jedoch lässt es die Lesenden allein. Diese sind drinnen und gleichzeitig draussen – ein Merkmal, das bei Duvanel häufig vorkommt.

P.B.: Ebenso ist Fremdheit ein Thema, oder Minderheiten und wie sich die Personen nehmen gegenseitig wahrnehmen.

S.M.: Die Personen bleiben allein, die Katze ist am wenigsten fremd in der Geschichte.

Samuel Moser: «Verfolgung»

S.M.: Der Text zeigt, wie Duvanels Texte sich bewegen, immer nach vorne, wir kommen als LeserInnen eigentlich immer ein bisschen zu spät. Selbst die Autorin beherrscht die Situation nicht: Die Figuren machen, was sie wollen. Auch wenn der Titel «Verfolgung» heisst, kommt man nicht vorwärts, sondern kommt immer wieder auf etwas zurück. Als Leserin möchte man deuten, aber es gelingt nicht. Verschiedene Zeichen gehören zum Thema Verfolgen, aber wir können es nicht entschlüsseln. Wir wissen nicht: Ist Nonato ihr Verfolger, ihr Jäger oder gar der Verfolgte?

Duvanel braucht immer bedeutungsvolle Namen, hier Nonato: dies ist eher ein Familienname, ein vielschichtiger Name, den man nicht einordnen kann in eine Bedeutung.

Wenn man den Text nicht entschlüsseln kann, so kann man versuchen zu untersuchen, wie der Text aufgebaut ist: Tempi, Übergänge, Farben, Gerüche, eine Duftlinie gibt es in diesem Text. Man kann Fragen entwickeln, aber man sollte den Text nicht erpressen.

F.K.: Duvanel jagt eigentlich ihrem eigenen Raum hinterher: Es geht immer weiter, verfolgend, verfolgt werden, alles sehr schnell, unglaubliche Präsenzen werden dadurch geschaffen. Es passt keine Deutung rein, alles geht vorwärts. Zwischen diesen Schritten liegt ein Nichts, ein Abgrund, der nicht gefüllt werden kann.

Dieser Text trägt die Dynamik: Wer verfolgt wen? Und ist das nicht auch der Zustand der Leserin oder des Lesers? Sie müssen sich selbst immer wieder fragen: wer verfolgt wen?

P.B.: Mir sind in diesem Text die wunderbare Schönheit der Sätze aufgefallen, die stechen hervor. Zugleich gibt es Passagen, die ich nicht verstanden habe. So konnte ich mir gewisse Bewegungsläufe nicht vorstellen. An anderen Stellen Präzision, die man nicht versteht.

S.M.: Mut zum Ungleichgewicht gehört zu den Texten von Duvanel. Ich frage mich auch jeweils, wo das Zentrum des Textes ist, ob es mehrere Zentren gibt, und frage mich häufig, wessen Geschichte man eigentlich gelesen hat.

Friedericke Kretzen: «Das Brillenmuseum»

F.K.: Ich musste eigentlich die ganze Zeit lachen, denn es gibt in diesem Text unglaublich komische Stellen, z.B. wenn man an das Elternhaus schreibt: Vorsicht. Olga schreibt über ihr Schreiben, schreibt aber gleichzeitig nicht über ihr Schreiben, sie schreibt nur, was sie schreiben möchte. Eigentlich reiht sie Geschichten aneinander, tiefgründig, dazu gut deutbar. Verwirrend ist das Sehen und Gesehen werden. Der Text macht sichtbar, dass wir sichtbar sind. Es ist der Blick von der anderen Seite. Olga schaut von den Patienten auf die Psychiater. Es ist ein unerbittlicher Blick auf Psychiater, von dem sie nicht abweichen will. Unerbittlicher Blick – hier ein Beispiel: dass Kirchen und Militär für sich werben dafür, dass man an sie glaubt. Das können aber weder Frauen, noch Kinder noch Patienten.

S.M.: Man kann den Text leicht als eine satirische Kritk auf die damalige Psychiatrie entziffern, im Hintergrund spielen die Jugendunruhen der 80iger Jahre. Dadurch ragt der Text aus dem Werk von Duvanel hervor.

F.K.: Hier kommt auch der Kampf gegen den Vater ins Spiel: Der Vater als Symbol des autoritären Systems, der Ordnung allgemein. Olga eröffnet ein Brillenmuseum, um dort eine Brille für den Vater zu machen, damit er einen anderen Blick bekommt – ein Wunsch von ihr. Aber am Ende schreibt sie ihm nur.

S.M.: Am Schluss wird viel vermischt. Wo steht Olga in der Zeit? Ihre Zugehörigkeit bleibt offen. Olga und die Autorin sind nicht gleichzusetzen. Verschachtelung der Räume, verschiedene Wirklichkeitsebenen sind in diesem Text sehr wichtig, sie verweisen auf die Klinik, die eigentlich überall ist. Auch fragt man sich jeweils: Wo ist eigentlich Olga?

P.B.: Es ist auffallend, dass in den Texten von Duvanel immer wieder Fenster und Brillen vorkommen. Es passiert etwas vor oder hinter dem Fenster. Räume verschwinden, haben andere Dimensionen. Subjekt und Objekt können vertauscht werden, Blick des Fremden …

Brüche, verschiedene Ebenen im Text, das verwirrt die Leserin immer wieder. Wo hört der Traum auf – hört er überhaupt auf? Der Leser verliert Olga im Laufe der Geschichte.

Schlussfrage: Was wünschen Sie der Literatur von Duvanel?

P.B.: Man soll sich auf die Texte von Duvanel einlassen, einer Welt der versehrten Figuren.

S.M.: Diese Texte sollen immer wieder erscheinen, auch als Einzeltext. Ich hoffe, dass die Auseinandersetzung mit dem Werk mit der Veröffentlichung der Gesamtausgabe erst richtig anfängt. Die Texte brauchen viel Zeit, man sollte sie einzeln lesen.

F.K.: Man könnte sie als Kassiber brauchen, die immer im Umlauf sein sollten. Sie sollten unbedingt zur Schullektüre gemacht werden.

Eidechse + Kind = enfant + lézard?

Atelier de traduction avec Vincenzo Todisco et Benjamin Pécoud

Das Eidechsenkind. L’existence bipartite du protagoniste du roman de Vincenzo Todisco est déjà inscrite dans son titre. Ce protagoniste, c’est un enfant qui vit en cachette, car personne ne doit savoir que ses parents italiens l’ont amené de manière clandestine dans le pays où son père a trouvé du travail. L’enfant apprend donc à disparaître en moins de rien sous le buffet, à rester pendant plusieurs minutes comme pétrifié derrière un rideau dès qu’une personne extérieure entre dans l’appartement, son habitat. C’était précisément ce mode de vie du personnage principal, ressemblant tantôt au lézard, tantôt à l’être humain, qui constituait l’un des défis majeurs de la traduction de Das Eidechsenkind dans les langues romanes. Vincenzo Todisco et Benjamin Pécoud en ont parlé dans un atelier de traduction animé par Marie Fleury Wullschleger.

Né à Stans en tant qu’enfant d’immigrés italiens, Vincenzo Todisco a écrit plusieurs textes en italien avant de publier Das Eidechsenkind en 2018, son premier roman en allemand. L’année passée, le traducteur et auteur Benjamin Pécoud a transposé le texte en français sous le titre de L’Enfant lézard. Todisco lui-même l’a traduit en italien peu après et a donc pu participer à la discussion non seulement en tant qu’auteur, mais aussi en tant que traducteur du texte.

Le problème de la traduction vers les langues romanes que les deux intervenants discutent le plus abondamment se pose dès le tout début du roman. Dans l’original, il s’agit des lignes suivantes:

Das Kind macht zuerst das linke und dann das rechte Auge auf. Es hat den Kopf an zwei Orten. Einmal in Ripa, wo ihm nichts geschehen kann, und einmal in der Wohnung, wo es die Schritte zählen muss. 

La difficulté tient d’abord aux différents genres grammaticaux . «Das Kind» en allemand est neutre, tout autant que le «es» qui le reprend dans les phrases suivantes. En effet, le sexe de l’enfant ne sera dévoilé au lecteur germanophone qu’au milieu du livre. Parce que dans l’intrigue, l’enfant doit se cacher dans l’appartement, Todisco dit qu’il a aussi voulu le cacher dans la langue. Le genre neutre a l’avantage de créer une incertitude par rapport au statut de l’enfant, de le déshumaniser et de souligner ainsi l’indétermination de son être, entre animal et humain. Pour la traduction par contre, Benjamin Pécoud n’a pas le choix. Puisque le français ne connaît pas de genre neutre, il doit poser les jalons dès les premières lignes. Le pronom «il» fait pencher la lecture tout de suite vers un petit garçon bien humain:

L’enfant ouvre d’abord l’œil droit, puis le gauche. Il a la tête à deux endroits. Une fois à Ripa, où rien ne peut lui arriver, et une fois dans l’appartement, où il doit compter ses pas. 

Le cas est encore plus clair en italien où «il bambino» ne peut qu’être un enfant de sexe masculin, sinon on utiliserait la forme «la bambina». L’effet d’indétermination entre fille et garçon, entre humain et animal est donc également impossible en traduction italienne:

Il bambino apre prima l’occhio sinistro e poi quello destro. Ha la testa in due posti: a Ripa, dove non gli può succedere niente, e nell’appartamento, dove è costretto a contare i passi.

Pécoud et Todisco évoquent d’autres problèmes rencontrés lors de la traduction du roman. Comment rendre avec précision certains termes ? Comment traduire le Konjunktiv 1 qui n’existe pas dans les langues romanes ? Mais le défi de la personnalité fluctuante de l’enfant reste présent. Si le verbe «horchen» est rendu par «écouter», la traduction ne rend pas justice à la grande précision du mot allemand, qui veut dire «écouter très attentivement pour entendre quelque chose de précis». L’alternative serait «tendre l’oreille». Cette option-là serait plus précise, mais elle a le désavantage d’impliquer de nouveau que l’enfant est humain, tandis que la version allemande ne choisit pas entre un statut humain et un statut animal. Pécoud a fini par opter pour «tendre l’oreille». La discussion le montre: faire des compromis est monnaie courante pour un traducteur.

Où mène le discours sur l’identité?

Telle était la question du podium sous la direction de l’écrivain Martin R. Dean. À cette question, il propose immédiatement deux hypothèses :

  • Le discours sur l’identité mènera à une forme de dictature.
  • Le discours sur l’identité mènera à une meilleure représentativité des minorités (ou décolonisation identitaire).

Pour parler de ces problèmes, Dean s’est entouré de trois écrivaines :

Il y a d’abord Mithu M. Sanyal. L’auteure du récent Identitti est présentée comme une Allemande d’une mère polonaise et d’un père indien. Ensuite, il y a Léonora Miano, une Franco-camerounaise vivant actuellement au Togo et auteure de Afropea. En enfin Dorothee Elmiger, auteure du roman Aus der Zuckerfabrik.

À eux quatre, ils nous offrent une perspective hétéroclite de ce qu’est l’identité européenne aujourd’hui. Cette perspective complexe se construit notamment par ce que Miano nomme les Afropéens ; les noirs nés en Europe. Elle nous rappelle en quoi cela est particulier car contrairement aux Afro-américains pour l’histoire américaine, les Afropéens peuvent potentiellement être laissés sur la touche de l’histoire européenne.

Inexorablement, le podium glisse de la question du discours identitaire vers la problématique du racisme en Europe et le mouvement BLM. La solution au problème et l’évolution des mœurs ne passent-ils pas par la terminologie? Pour éclairer ce point, M. Sanyal lit un extrait de son livre dans lequel un chauffeur de taxi se félicite de la fin du racisme en Allemagne. Ou du moins du « vrai » racisme.

L’auteure de Aus der Zuckerfabrik amène sa pierre à l’édifice en montrant l’inconscience de certains actes d’appropriation culturelle. Pour l’illustrer, elle prend un passage allégorique mettant en scène le propriétaire de deux sculptures de bois haïtiennes figurant des femmes. Sans vraiment y avoir prêté attention plusieurs année durant, le personnage les avait chez lui comme objets de décoration.

En introduction, Martin R. Dean avertissait l’auditoire de la lourde tâche que représentait toute tentative de réponse à la question titre du podium. « Où mène le discours sur l’identité ? » Nous ne savons toujours pas quoi y répondre. Difficile également de clore ce compte-rendu. Je me contenterai de reprendre les dires de Miano s’adressant à Martin R. Dean : « Ne coupez pas la parole aux dames. »

Der Traum einer vielfältigen Literaturkritik

Verschwindet die Literaturkritik? Ist sie eine Kunstform? Wie sieht die Zukunft aus? Diesen Fragen gehen die Teilnehmer*innen des Branchengesprächs zur Literaturkritik nach.

Wer ist dabei? Tabea Steiner kennt die Literaturkritik aus unterschiedlichen Perspektiven – als Schriftstellerin, Literaturfestivalveranstalterin der Literaare und natürlich als Leserin.
Manuela Hofstätter ist gelernte Buchhändlerin und Bloggerin bei lesefieber.ch, wo sie regelmässig Buchbesprechungen veröffentlicht.
Anne Pitteloud ist Autorin, Journalistin und selbst Literaturkritikerin, die sich im Speziellen der Literatur der Romandie widmet.
Erwin Künzli ist Verleger beim Limmat Verlag und liest somit vor allem die Kritiken, die über die von ihm verlegten Bücher geschrieben werden.
Moderiert und geleitet wird das Webinar von Nicolas Couchepin, Präsident des A*dS und Fabiola Carigiet, Vorstandsmitglied des A*dS.

Definition von «Literaturkritik»

Vorab muss erstmal die Frage geklärt werden, was denn Literaturkritik sei. Manuela Hofstätter hat die passende Antwort aus dem Duden parat: Eine Kritik hat wissenschaftliches Fundament und soll ihren Erscheinungsbereich in einer renommierten Zeitschrift erhalten. Doch, wie allen schnell klar wird, fällt der letzte Teil zunehmend weg. Die Medienlandschaft verändert sich. Leser*innen haben andere Gewohnheiten, sie suchen ihre Inspirationsquellen im Internet, bei Blogs oder Podcasts. Gerade dies könnte, so Hofstätter, als Erfolg abgebucht werden. Sie selber findet aber eher, dass sie keine Kritikerin ist, die Rezensionen schreibt, sondern sieht sich eher als Sprachrohr der Autor*innen. Deshalb veröffentlicht sie auch Buchbesprechungen, also fasst die Bücher zusammen und gibt im Fazit ihr persönliches Feedback dazu ab. Dabei fokussiert sie sich auf jene Bücher, die sie wirklich mag und bespricht andere gar nicht erst. Allerdings würde sie sich einen kritischeren Blick durchaus wünschen.

Dies bringt Fabiola Carigiet dazu, einen Blick in die Vergangenheit zu wagen: Da habe es ja noch jene Kritikerpäpste wie Werner Weber oder Marcel Reich-Ranicki gegeben. Fehlten die heute nicht? Erwin Künzli erläutert, dass die Ursprünge der Literaturkritik in der Erziehung der Leserschaft lägen. Dieser Anspruch wurde aber nie aufgegeben. Nur würden heute unglaublich viele Bücher herausgegeben, da wertete die Literaturkritik bereits bei der Auswahl und schaffe so einen gewissen Kanon. Künzli freut sich aber auch, dass neue Bereiche wie die Germanistik die Literaturkritik für sich entdeckt haben. Ja, da freue ich mich, als Schreiberin dieses Textes, ansonsten hätte ich nie einen Kurs zur Literaturkritik an der Universität belegen können.

Tabea Steiner sieht, dass der Raum für Literaturkritik immer kleiner werde, auch jener für Verrisse, was sie als Germanistin bedauere. Andererseits findet sie es aber auch spannend, wie das Feld immer breiter werde. Es sei sehr divers und durch die Sozialen Medien wie Instagram könnten nun viel mehr Menschen mitreden. Aber auch die Buchhändlerin habe vielleicht einen Tipp oder eine Person aus dem Lesekreis schlage spannende Lektüre vor. Die Literatur werde zu einem gesellschaftlichen Diskurs, wobei immer noch dieselben Bücher besprochen würden und gerade die Lyrik zu kurz komme. Sie wünscht sich eine Emanzipation für das Feuilleton, dass die den Mut finden, nicht nur jenes aus den sozialen Medien zu besprechen. Anne Pitteloud hakt hier ein und bemerkt, dass sie versuche, genau dies zu tun. Sie schreibe über Bücher, die eher vergessen würden und nicht bekannt seien.

Literaturkritik als Kunstform

Ob Literaturkritik eine Kunstform sei, fragt Nicolas Couchepin. Für Anne Pitteloud ist dies ganz klar der Fall. Man müsse schliesslich schreiben können und versuchen, die Gefühle in Worte zu fassen. Das sei nicht einfach und gelinge nicht allen. Auch Tabea Steiner spricht von der Literaturkritik als Kunstform und meint, gerade deswegen sollten auch experimentelle Bücher besprochen werden. Sie weiss aber auch, dass die Branche unter grossem Druck stehe und nicht genügend finanzielle Mittel habe. Deshalb wirft Steiner die Frage in den Raum: Steigt die Wertschätzung, wenn die Schweiz einen Literaturkritikpreis hätte?

Und nun, was wünschen sich die Teilnehmer*innen für die Zukunft?
Wenn Anne Pitteloud es sich erträumen könnte, behielte sie ihre Freiheit, hätte aber mehr Mittel, Ressourcen und Raum zur Verfügung.
Manuela Hofstätter wünscht sich mehr Geschriebenes, mehr Zeitschriften und neue Wege der Unterstützung.
Erwin Künzli sieht, dass die Zeitungen kein Geld mehr haben und wünscht sich deshalb, dass die Werbung zurück zu der Zeitung gehe und sich diese wieder mit den Leser*innen verbündete. Eine Konsolidierung des Papiers gewissermassen.
Tabea Steiners Traum ist es, dass die Kritik so vielfältig werde wie die Literatur. Das breite Nebeneinander, denn es habe als Leser*in doch auch etwas Schönes, sich über ein Buch aufzuregen.

Das Fazit dieses Morgens lautet, dass alle die Kritiken in den Feuilletons sehr schätzen, jene aber mehr und mehr verschwinden, da die Medienlandschaft sich wandelt. Eine Zwickmühle also. Aber der Hoffnungsschimmer, das die Literaturkritik nicht ganz vom Erdboden verschluckt wird, bleibt.

Man sollte nie aufgeben, weder literarisch noch politisch.

Ein Gespräch zwischen Zora del Buono und Regula Rytz

Kunst trifft Politik – was kann man als Zuhörer*in von einem spontanen Gespräch zwischen Regula Rytz und Zora del Buono erwarten? Wie sich herausstellt, eine ganze Menge. Es entsteht ein lebensnaher, lebendiger und spannender Austausch zwischen zwei starken sprachlich versierten Frauen, die mit grosser Leichtigkeit über Leben, Literatur und Politik parlieren.

Anfangs erwähnt Zora del Buono, dass sich die beiden erst seit zehn Minuten kennen, und ohne vorgefassten Plan oder Fragenkatalog in das Gespräch gehen. Zora del Buono beweist, dass sie eine versierte Erzählarchitektin ist und in Regula Rytz ein Gegenüber auf gleicher Augenhöhe gefunden hat.

Angeregt durch die Frage der Moderatorin, wieviel Optimismus es heute brauche, gibt Zora del Buono zu bedenken, dass wir uns in einer Krisensituation befinden, die schwierig zu steuern sei. Regula Rytz greift das Thema sofort auf und überträgt es auf das Buch «Die Marschallin»: Auch hier gibt es eine Zeit voller Umbrüche und Unsicherheiten, aber die Figuren schaffen es, ihren Optimismus zu bewahren. Ein Leben voller rabenschwarzer Zuversicht, in dem Veränderung möglich ist.

Diese eng verwobene Verbindung von Literatur, Politik und eigenen Erfahrungen wird zum roten Faden, der sich durch das gesamte Gespräch zieht. Für beide ist die heutige junge Generation der Hoffnungsträger, der Veränderung bringt. Am Beispiel von Annalena Baerbock diskutieren sie die Rolle einer jungen Politikerin, die sich als Frau – intensiver als ein Mann – den Auswüchsen der Sozialen Medien zu stellen hat. Dabei betont Regula Rytz, dass man sich als öffentliche Person einerseits mit vielen kritischen Meinungen auseinandersetzen muss und zugleich davon abhängig  ist. Auch als Autorin erfährt man dies – ergänzt Zora del Buono – dabei ist es wichtig «bei sich zu bleiben».

Regula Rytz bemerkt, dass dies auch der Protagonistin in Die Marschallin gelinge und sie gerade dadurch eine faszinierende, aber auch dominante Persönlichkeit werde, die eigene Wege sucht – gerade wie die junge Generation heute. Eine zwiespältige Figur, gibt Zora del Buono zu bedenken. In diesem Kontext möchte Regula Rytz wissen, wie es ihr gelungen sei, die Figuren so lebendig zu gestalten. Die Autorin führt aus, dass sie ein Herz für jede Figur und den Roman als Möglichkeit begriffen habe, um das Haus ihrer Grossmutter, das verloren gegangen war, wieder auferstehen zu lassen. Auch schätze sie die Arbeit der Historiker*innen sehr, die die komplizierte europäische Geschichte rekonstruiert haben.

Für  Regula Rytz ist nicht nur Europa voller lebenspraller Geschichten, auch  in der Schweiz laufen solche Geschichten zusammen. Zora del Buono ergänzt, dass die Schweiz eben nicht nur das schöne kleine Alpenland mit der niedlichen Sprache sei, sondern ein supermodernes, globalisiertes Land, in dem Integration besser funktioniere als in Deutschland. Indes mache gerade die Coronakrise die Probleme und Abhängigkeiten der Globalisierung deutlich und man könne sich fragen, inwieweit diese Krise literarische Stoffe hervorbringen könne oder müsse. Die Bedeutung von literarischem und politischem Schreiben rücke damit ins Zentrum.

Die grundsätzliche Frage, so Zora del Buono, sei doch aber folgende: Wann beginnen Menschen sich zu verändern oder wann verändern sie ihre Haltung? Im Gegensatz zu Regula Rytz glaubt Zora del Buono nicht, dass Schriftsteller*innen Manifeste verfassen sollten, dies sei eher die Aufgabe von Journalist*innen. Die Aufgabe einer Autorin bestehe darin, Geschichte(n) zu beleben und sich in Menschen hineinzufühlen. In diesem Moment verschmelze Historisches mit Literarischem.

So wie die Literatur bewusst mit Sprachbildern arbeitet, so geschieht dies auch in der Politik. Regula Rytz und Zora del Buono sprechen über die «neue Sprache der Politik», die der deutsche Grünpolitiker Robert Habeck thematisiert. Er versucht, die politisch instrumentalisierte, auf Konfrontation ausgerichtete Sprache in einen konstruktiven Diskurs zurückzuführen und damit auch die politische Kultur wieder zu verändern.

Abschliessend bemerkt Regula Rytz, dass in der politischen Sprache mit Bildern gearbeitet werde, die die alte Ordnung zementierten. Ihrer Ansicht nach ist der konstruktiv sprachliche Diskurs Kern der Demokratie. Gemeinschaft besteht Zora del Buono nach im offenen Gespräch – sei es in der Politik, in der Geschichte oder in der Literatur: «Viele wollen zusammen, was richtig ist.»

Simone von der Geest und Regula Weber waren aufmerksame Zuhörerinnen dieses inspirierenden Gespräches.

Die Erfindung von Welten. Populismus in Literatur und Politik

Demokratie unter Druck. Die Macht des Populismus.

Freitag, 14.5.2021, 16 Uhr, Podiumsgespräch

Populismus ist nicht neu, bereits in der griechischen Antike gab es Demagogen, und besonders schreckliche Zeugnisse findet man im letzten Jahrhundert. Was ist so attraktiv an dieser Art des Politisierens? Und warum entscheiden sich viele Wähler*innen trotz besseren Wissens auch aktuell für populistische Politker*innen?

Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, Professorin für Anglistik an der Universität Zürich, diskutierte mit der russischen Autorin Maria Stepanova, dem Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher und mit Nanad Stanjanović, Politologe und SNF-Professor an der Universität Genf.

Die Frage, mit der Moderatorin Elisabeth Bronfen die Podiumsdiskussion beginnt, ist so einfach nicht  zu beantworten: Wie lautet die Definition von Populismus?

Einig sind sich die drei Gesprächsteilnehmenden in zwei Punkten: Es gibt keine abschliessende Klärung des Begriffs. Und eine Gemeinsamkeit sind die grossen Versprechungen, die Populist*innen machen.

Leere Versprechungen

Leere Versprechungen seien das, meint Maria Stepanova. Populist*innen würden Instinkte und die primären Gefühle ihrer Anhänger*innen mit Versprechen bedienen, die nicht eingelöst werden können. Jonas Lüscher spricht vom Versprechen der Reinheit und der Einfachheit. Es sei enorm wichtig, immer wieder zu versichern, dass es ein «Wir» des inneren Zirkels und ein «Sie» ausserhalb gebe. Nanad Stanjanović nennt diese Gemeinsamkeit die «Idee einer imaginären Gemeinschaft»; ein antielitärer Diskurs sowie die Versprechung eines homogenen Volkes seien dafür typisch.

Ein wichtiger Aspekt der Attraktivität des Populismus sei, dass er sowohl in den Bereich der Politik wie in denjenigen der Literatur gehöre, antwortet Maria Stepanova auf die Frage, was denn der Reiz ausmache. Die Populist*innen kreieren unglaublich schöne Welten. Im Gegensatz zu Politiker*innen, die sich nach wie vor bewusst sind, dass eine Wahrheit besteht und Versprechungen da sind, um eingelöst zu werden, hätten Populisten gar keine Absicht, Versprechungen zu halten.

Etwas prosaischer kommt die Erklärung von Lüscher und Stanjanović daher: Es geht auch hier ums liebe Geld. Entweder ist es der Politiker selber, der möglichst viel Geld aus dem Staat abziehen will, oder die Anhänger versprechen sich, aufgrund der politischen Entscheide mehr Geld in der Tasche zu haben. Und damit räumt Lüscher auch gleich mit einem Klischee auf: Es sind eben nicht nur die Enttäuschten, sozial Abgehängten und Ungebildeten, die Populistinnen und Populisten anhängen. Oft ist es der Mittelstand, der aus Selbstinteresse trotz genauer Kenntnisse über moralisch verwerfliche Handlungen und Aussagen, die populistischen Politiker*innen wählt. Maria Stepanova spricht dann auch von einer «populistischen Gesellschaft», in der wir leben, in der weder die Politikerpersönlichkeiten noch deren Wähler*innen homogen sind.

«Trotzdem»

Das Erstaunliche ist, dass viele Menschen trotz ihres Wissens um die Inszenierung populistische Parteien wählen. Die Selbstinszenierung, das politische Theater, das auf Affekte und Gefühle abzielt, ist oft völlig transparent, und trotzdem machen die Menschen mit.

Die Erklärungsversuche der Diskussionsrunde wirken teilweise hilflos: Auf der Theaterbühne kann man alles behaupten, meint Lüscher, die Vereinbarung mit dem Publikum sei gerade die, dass es mitgehe. Die Demagogen in der Antike belegten, erklärt hingegen Stanjanović, dass es sich um ein altes Phänomen handle, das offenbar einem Teil der Bevölkerung seit je entspricht.

Maria Stepanova argumentiert wieder literarisch: Wie die olympischen Götter übertreten gewählte Politiker*innen offiziell bevollmächtigt Regeln; der Reiz des Verbotenen wirkt attraktiv auf die Gefolgschaft.

Common Ground

Mit der Frage, wie denn ein Common Ground aussehen könnte, ein Miteinander, das ohne Polittheater und leere Versprechungen bestehen kann, führt die Moderatorin das Gespräch in die Schlussrunde.

Und nach den bisher eher erwartbaren und wenig griffigen Beiträgen wird’s nun konkreter.

Nanad Stanjanović leitet das Projekt «demoscan», das versucht, die Demokratie auf eine Art zu beleben, die wiederum in der Antike ihren Ursprung hat. Das Projekt wählt per Los eine Gruppe von Menschen aus, die die Gesellschaft in ihrer Vielfalt spiegelt. Diese etwa 25 Menschen diskutieren über ein politisches Thema und verfassen danach einen Bürgerbrief, der danach andere Menschen informieren wird. Mit dieser Methode soll einerseits die Demokratie, der Gedanke der Gleichheit aller und dass sich alle am politischen Prozess beteiligen, weitergedacht werden; andererseits soll diese Methode der Gefahr, dem Populismus mit technokratischer und elitärer Politik zu begegnen, entgegengehalten.

Jonas Lüscher weist darauf hin, dass sich mit einer Politik des Common Ground Probleme der Zukunft nicht lösen lassen. Es brauche vielmehr den Streit und die Debatte.

Die Schlussworte von Maria Stepanova klingen versöhnlich: Sie appelliert an die Menschen, sich selber, den anderen und deren Meinung respektvoll und achtsam zu begegnen und die Qualität der freundlichen Begegnung zu schätzen.

So einfach wäre es?

Nachdem doch eher Hilflosigkeit gegenüber der Macht des Populismus das Gespräch geprägt hat, ist Maria Stepanovas Appell ein hoffnungsvoller, aber vielleicht auch ein zu schöner Wunsch.

Zugeschaut und zugehört hat: Martina Albertini

Maria Stepanova, Nach dem Gedächtnis, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
Jonas Lüscher/Michael Zicky (Hrsg.), Der populistische Planet, C.H. Beck, München 2021