Hunger verbindet

Mit dem Satz «Du bist eine Sammlerin» verabschiedet Moderatorin Laura de Weck Dorothee Elmiger und spielt damit auf die Arbeitsweise der Schriftstellerin an. Elmigers Werke können keinem Genre klar zugeordnet werden, denn sie sind Roman, Journal, Recherchearbeit, Essay. Trotz ihrer Hybridität oder vielleicht genau deswegen wurden ihre drei Bücher allesamt für den Schweizer Buchpreis nominiert. So auch ihr neustes Werk Aus der Zuckerfabrik, aus dem die Autorin an den Solothurner Literaturtagen vorliest.

Zuerst spricht Elmiger aber darüber, wie sie vorgeht, wenn sie ein Buch schreibt. Immer wieder nimmt sie sich vor, «jetzt schreibe ich einen richtigen Roman», doch am Ende verletzt sie jegliches Erzählprinzip. Der Ausgangspunkt für ihre Bücher bildet das Material. Ausgehend von diesem überlegt sich die Autorin, was das Material verlangt – Fragen und Lücken sind für sie das Wichtigste und dies gelingt nur, wenn man sich eben nicht an die klassischen Erzählregeln hält.

Aus der Zuckerfabrik vereint eine Sammlung an Texten wie ein Tagebuch. Verbunden werden diese nur durch die Assoziation mit dem Thema Hunger. Die Figuren teilen den Hunger, jedoch verlangen sie nach unterschiedliche Dingen. Während die einen nach Genuss, Essen oder Ekstase hungern, äussert sich dieser bei anderen Figuren im Sinne von politischer Betätigung oder dem Mitwirken in einem Kollektiv. Der Hunger nach mehr verbindet die einzelnen Figuren und Geschichten. Ein weiteres Themenfeld bildet die Geschichte des Zuckerbaus, wie der Titel des Buches bereits vermuten lässt. Eng verbunden mit der Zuckergeschichte ist der Kolonialismus, oder besser gesagt: der Postkolonialismus. Elmiger schafft es, diesen Diskurs zu öffnen, ohne zu moralisieren, wie dies de Weck im Gespräch betont.

Zum Schluss sprechen die beiden Frauen über den Liebhaber der Ich-Erzählerin, Namens C. Denn er ist die einzige Figur im ganzen Buch, die keinen Hunger hat, auch wenn die Ich-Erzählerin immer wieder Essensangebote macht, greift C. nie zu. War das die Intention der Autorin? Nicht bewusst, aber es habe dann einfach gepasst, berichtet Elmiger. «Einfach passend» gilt auch für das fertige Buch und um mit den Worten der Moderatorin zu schliessen, möchte ich Aus der Zuckerfabrik allen ans Herz legen – auch wenn man sich zuerst an die unkonventionelle Struktur des Textes gewöhnen muss. Dranbleiben lohnt sich!

Von Männlichkeit und Klischees

Während die Teilnehmer*innen eintrudeln, erklärt Moderator Donat Blum die Spielregeln, wer sich in der Zoomsitzung wie und wann melden soll, um die eigenen Gedanken einzubringen. Nebenbei begrüsst er das Publikum. Ich bin bei der Textwerkstatt Skriptor Prosa, wo ein unveröffentlichter Text von Lukas Linder im Kreise anderer Autor*innen besprochen wird. Dazu gehören Annina Haab, Lukas Maisel, Ilia Vasella und Katja Brunner. Aufgeregt liest der Autor Lukas Linder seinen Text vor. Dieser ist voller Schwung. Ein Mann kehrt nach 25 Jahren zurück in seine Heimat, was er dort genau will, bleibt jedoch offen. Klar wird, dass dieser Mann 35 Jahre alt ist und in einer WG mit drei 20-jährigen Kerlen wohnt. Es folgen Ereignisse und Probleme, die sie gemeinsam in ihrer Wohnung erleben.

Die Leseeindrücke der anderen Autor*innen steuern schnell in eine gemeinsame Richtung: Männlichkeit und Klischees. Nach Ilia Vasella weist der Text einige Klischees auf. Diese bestünden in den Beobachtungen und Bildern, jedoch seien diese auch nötig, damit das Senkbeil der Tragödie – was den Mann in seine Heimat zurückbringt – gerechtfertigt sei. Katja Brunner nimmt daraufhin den Text in Schutz und die Kritik wird immer konkreter. Das Lieblingsbuch des Mannes ist von Hegel, obwohl er nichts vom Text versteht, oder er trinkt lieber Fencheltee und Milch statt Alkohol. Die Figur wird mit Klischees ausgestattet und sogar als plakativ bezeichnet. Dies in Bezug auf die Männlichkeit, welche den zweiten grossen Diskussionspunkt bietet.

Die anderen Autor*innen beschreiben diese als Persiflage oder als Überführung von Männlichkeit. Oder aber als Vergleich zwischen dem Protagonisten und seinen jüngeren Mitbewohnern. Dieser Vergleich basiert vornehmlich auf dem unterschiedlichen Sexualleben der beiden Generationen. Es folgt die Frage, was oder wer mit «der herkömmliche Mann» genau gemeint sei und schliesslich wird sogar die Glaubwürdigkeit der Figur angezweifelt. Diese Distanz zur Figur scheint aber genau dem Format der Textwerkstatt zu entsprechen, denn der Autor Lukas Linder befindet sich noch mitten im Schreibprozess. Wir sind gespannt auf das vollendete Werk!

Flucht oder Angriff?

Mit dem Versprechen «next year in presence» verabschiedet sich der libanesische Autor Mazen Maarouf von seiner Lesung. Die Zusicherung seines Besuches in der Schweiz ergab sich aus der Frage nach seiner Heimat. Der Schriftsteller lebt und arbeitet heute in Island, wuchs jedoch als Sohn palästinensischer Flüchtlinge im Libanon auf. Dorthin würde er auch gerne irgendwann wieder zurückkehren. An den Ort seiner Kindheit, wo die Kurzgeschichten seines Buches Ein Witz für ein Leben spielen.

Das Buch erschien im Original auf Arabisch und deshalb wird im Hörbeitrag der Literaturtage auch in Maaroufs Muttersprache vorgelesen. Der Autor präsentiert zwei bis drei Absätze auf Arabisch und Sabine Haupt fährt in der Textstelle auf Deutsch fort. Auch ohne Arabisch zu verstehen, fühlt man sich während der Lesung in Originalsprache in die Heimat des Schriftstellers versetzt.

Patriarchale Strukturen, Macht und Krieg prägen die Kurzgeschichten, doch man sieht alles mit dem Blick eines unschuldigen Kindes. Dieses Kind verletzt sich selbst, damit es in der Schule angeben kann, wie heftig es vom eigenen Vater verprügelt wird. Je brutaler die Strafen eines Vaters gegenüber der Kinder sind, desto angsteinflössender wirkt dieser in der Gesellschaft und entspricht damit dem männlichen Ideal. Kein Mann möchte als «Grashüpfer» bezeichnet werden, denn dies bedeutet, dass man lieber die Flucht ergreift, anstatt anzugreifen. Auch wenn die Geschichten von heldenhaften Männern geprägt sind, berichtet der Schriftsteller auch von starken Frauen. Eine von ihnen sei die eigene Mutter, so berichtet er im Gespräch. Sie zog ihn und seine Geschwister auf und sorgte dafür, dass sie eine Ausbildung erhielten, doch die Anerkennung erhielten immer nur die Männer.

Maaroufs Kurzgeschichten sind voller realer Erlebnisse, handeln von traumatisierten Familien, die alle eine eigene Geschichte haben. So vermischen sich die allgemeinen Familiengeschichten mit seinen persönlichen Erlebnissen. Jedoch behalten die Geschichten immer die Perspektive des Kindes. Maaroufs Ziel ist eine Vermischung zwischen unterschiedlichen Kulturen, dass diese mehr miteinander geteilt werden. Dieses Ziel wird in der Lesung definitiv erreicht, indem auf Arabisch und Deutsch gelesen wird.

Unser Team in Solothurn:
Sari Pamer

Das erste Mal dabei in Solothurn, aber eben doch nicht wirklich. Aus ihrem Wohnzimmer verfolgt Sari mit einer Tasse Kaffee das virtuelle Treiben der Literaturtage. Besonders freut sie sich, den Autor*innen bei der Textwerkstatt Skriptor über die Schultern oder momentan wohl eher in die Wohnung zu schauen. Bei Lesungen von Dorothee Elmiger und Mazen Maarouf hofft sie, Neues zu entdecken sowie Bekanntem wiederzubegegnen. Passend zur aktuellen Situation ist ein Abstecher zum Podiumsgespräch Literatur und Krise ihr persönliches Muss.

Sari studiert Tanzwissenschaft und Deutsche Literatur: TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) im Master.