Literatur und Krise

Ob die Überschrift Literatur und aktueller Zustand besser geeignet wäre? Jein, wir befinden uns zwar Mitten in der Krise, aber diese wird es immer geben. So wie sie kommen, werden sie auch wieder vorbeigehen. Der Zustand der Krise hat viele Bedeutungen. Manche betreffen unser Privatleben, andere die gesamte Weltbevölkerung. Doch wie geht die Literatur damit um? Das Podium wird eröffnet von Lukas Gloor und Martina Clavadetscher, Gertrud Leutenegger und Alberto Nessi steigen in die Diskussion ein.

Man könnte denken, in krisenreichen Jahren hätten Autor*innen mehr denn je Zeit um zu schreiben. Doch Getrud Leutenegger sowie Martina Clavadetscher waren zu Beginn der Corona-Krise in ihrem Schreibprozess erst einmal gelähmt und gehemmt. Das kennen wir wohl alle – eine neue Situation stellt einen vor neuen Herausforderungen. Alberto Nessi erzählt, sein Schreibprozess sei sonst sehr langsam. Doch im Krisenzustand konnte er nicht schlafen und begann nachts spontan zu schreiben – so entstand in drei bis vier Monaten sein Tagebuch mit Reflexionen über Existenz und Erinnerungen. Er schreibt nicht über die Pandemie, vielmehr war diese der Vorwand, um zu schreiben. Dabei setzte er sich mit seinem Inneren und seinen Erfahrungen auseinander. 

Nun stellt sich die Frage: Braucht die Kunst die Krise? Eine Krise kann Ideen geben und etwas auslösen. Sie macht der Menschheit die Vergänglichkeit bewusst. Sie zeigt, wie zerbrechlich wir sind. Krisen sind vielfältig. Im Wörterbuch gibt es zum Stichwort «Krise» über 100 Varianten. Jede*r hat sein eigenes kleines Päckchen zutragen. Es gibt individuelle Krisen und solche, die unsere ganze Gesellschaft betreffen. 

Subjektive oder persönliche Krisen können als Katalysator genutzt werden und Martina Clavadetscher beschreibt diesen Prozess als Heilung. Krisen veränderten die Umstände, welche dann wieder mit neuer Poesie gefüllt werden könnten. 

Gertrud Leutenegger schrieb nicht über die Corona-Krise, obwohl diese Teil unseres Lebens geworden ist. Sie widmet sich der Flüchtlingskrise und schildert diese in ihrem Buch so, dass sie ein Teil unserer Gedankenwelt wird. Sie möchte, dass sich diese Thematik mit unserer Gedankenwelt, mit unseren Fluchterlebnissen und seelischen Nöten vermischt.

Kann man als Autor*in in der Schweiz überhaupt über Krisen schreiben? Die Schweiz ist ein friedvolles Land. Mit Blick auf andere Länder ist die Schweiz vielleicht sogar ein Land, welches kaum Krisen durchleben musste. Ein schlechter Lehrboden? Gibt es zu wenig Krisen, zu wenig Dringlichkeit? 

Sie sind sich alle einig: Die Schweiz kann wunderbare Schriftsteller*innen hervorbringen. Martina Clavadetscher führt ausserdem an, dass nicht alles, was glänze, immer auch Gold sei. Auch darunter kann Dreck liegen. Man könne es auch in der Schweiz noch besser haben, als es jetzt sei, denn jede Gesellschaft habe ihre Probleme, welche noch gelöst werden könnten. 

Gertrud Leutenegger führt an, dass ein chinesischer Grundsatz besage: Der wesentliche Punkt ist, das Grosse klein zu machen und das Kleine gross. Dazu brauche es beim Schreiben die Distanz. Man muss nah genug am Geschehen sein und trotzdem auch distanziert genug, um sich der Thematik anzunehmen.
Die Kunst lebt von innen!

Flucht oder Angriff?

Mit dem Versprechen «next year in presence» verabschiedet sich der libanesische Autor Mazen Maarouf von seiner Lesung. Die Zusicherung seines Besuches in der Schweiz ergab sich aus der Frage nach seiner Heimat. Der Schriftsteller lebt und arbeitet heute in Island, wuchs jedoch als Sohn palästinensischer Flüchtlinge im Libanon auf. Dorthin würde er auch gerne irgendwann wieder zurückkehren. An den Ort seiner Kindheit, wo die Kurzgeschichten seines Buches Ein Witz für ein Leben spielen.

Das Buch erschien im Original auf Arabisch und deshalb wird im Hörbeitrag der Literaturtage auch in Maaroufs Muttersprache vorgelesen. Der Autor präsentiert zwei bis drei Absätze auf Arabisch und Sabine Haupt fährt in der Textstelle auf Deutsch fort. Auch ohne Arabisch zu verstehen, fühlt man sich während der Lesung in Originalsprache in die Heimat des Schriftstellers versetzt.

Patriarchale Strukturen, Macht und Krieg prägen die Kurzgeschichten, doch man sieht alles mit dem Blick eines unschuldigen Kindes. Dieses Kind verletzt sich selbst, damit es in der Schule angeben kann, wie heftig es vom eigenen Vater verprügelt wird. Je brutaler die Strafen eines Vaters gegenüber der Kinder sind, desto angsteinflössender wirkt dieser in der Gesellschaft und entspricht damit dem männlichen Ideal. Kein Mann möchte als «Grashüpfer» bezeichnet werden, denn dies bedeutet, dass man lieber die Flucht ergreift, anstatt anzugreifen. Auch wenn die Geschichten von heldenhaften Männern geprägt sind, berichtet der Schriftsteller auch von starken Frauen. Eine von ihnen sei die eigene Mutter, so berichtet er im Gespräch. Sie zog ihn und seine Geschwister auf und sorgte dafür, dass sie eine Ausbildung erhielten, doch die Anerkennung erhielten immer nur die Männer.

Maaroufs Kurzgeschichten sind voller realer Erlebnisse, handeln von traumatisierten Familien, die alle eine eigene Geschichte haben. So vermischen sich die allgemeinen Familiengeschichten mit seinen persönlichen Erlebnissen. Jedoch behalten die Geschichten immer die Perspektive des Kindes. Maaroufs Ziel ist eine Vermischung zwischen unterschiedlichen Kulturen, dass diese mehr miteinander geteilt werden. Dieses Ziel wird in der Lesung definitiv erreicht, indem auf Arabisch und Deutsch gelesen wird.