Noch ein Schluck Bier

Rauh, dreckig und nur mit Humor zu ertragen: Simone F. Baumanns erste Graphic Novel «Zwang» zeigt eine unangenehme Welt. Mit ihrem Alter-Ego, einer Grosstadt-Antiheldin, führt die Zürcher Comiczeichnerin in albtraumhafte Szenen. Ihr geht es nicht darum, die Welt zu ändern. Sie will am liebsten mit ihrer Katze auf dem Schoss zeichnen können und dazwischen ab und an in den Supermarkt huschen. So beschreibt sie sich im Gespräch mit Anette Gehrig. Darin geht es um langweilige Superhelden, «Grüsel-Werner» und Underground Comics.

«Noch ein Schluck Bier», so leitet Simone F. Baumann die Lesung aus ihrer im April erschienenen Graphic Novel «Zwang» ein. Den brauchen die Zuschauenden auch, als es in der ersten Kurzgeschichte aus dem Band ziemlich schnell zur Sache geht: Die Protagonistin wird von ihrem Therapeuten gefragt, ob sie denn ihr eigenes Gehirn auch krank fände. Sie bejaht vorsichtig und meint dann, dass sie ja aber nur dieses eine hätte.

«Wie es wohl wäre mit einem anderen Hirn?», fragt Baumann an dieser Stelle der Lesung dazwischen. Überhaupt liest sie frei von der Leber, sie beschreibt, was zu sehen ist. Dazwischen kommentiert sie die Bilder spontan. Die Idee für das krankhafte Hirn kam von Baumanns Eltern. Die hätten ihren Lebensstil als Künstlerin damit zu begründen versucht, dass sie damals im Brutkasten einen Hirnschaden erlitten haben soll. Und genau diesen absurden Vorwurf verarbeitete Baumann in der Geschichte. Vom Therapeuten fährt die erwachsene Protagonistin darin direkt ins Spital. Dort gehört sie hin, denkt sie sich. Neben die Frau mit der Schere im Auge und dem Mann, der es nicht mal mehr ins Gebäude reingeschafft hat. Sie geht hinein und wird von Krankenschwestern in einer Zwangsjacke in den XXL-Inkubator gesteckt. Danach geht es zurück in den Mutterleib. Kurzerhand stopfen sie die Schwestern in den Bauch einer Frau, die gerade erst geboren hat. Rasch hängt nur noch der Stiefel raus. So schnell kann es gehen bei Simone F. Baumann.

Ihr Zeichenstil wirkt oft so brutal wie das Dargestellte. Die Kontraste sind scharf, die Texte kurz und einfach, die Gesichter hässlich. Die Protagonistin ist in diesen Welten auf der Suche, sie will eine Lösung finden, einen Platz für sich in dieser Gesellschaft, in der sie sich als Fremdkörper fühlt. So erklärt Baumann die Grundstimmung der Bilder.

Ganz ernst nehmen kann man die Szenen in ihrer Absurdität nicht, sonst wären sie kaum zu ertragen. Ganz ernst nimmt sich auch Baumann selbst nicht. Ihre Augen leuchten im Gespräch. Sie lacht viel und ist genauso wie ihre Figuren auch in ihren Antworten salopp und kurz angebunden. Warum ihre Protagonistin keine Superheldin ist, das erklärt sie damit, dass die Looser doch die Interessanten seien und Superhelden «das Langweiligste, was es gibt». Die Geschichte über den «Grüsel»-Werner, der von ihrer ersten WG in Zürich zusammen mit einem 80-Jährigen Typen mit Pornokalendern am Kühlschrank erzählt, tut sie lachend ab. Sie habe es nur zwei Monate ausgehalten.

Angefangen hat Baumann als 18-Jährige mit komplett selbst hergestellten und vertriebenen Comicheften. Die Idee dahinter war, immer das Neuste zeigen zu können. Noch immer erscheint alle zwei Monate ein Heft in ihrer Reihe 2067. Abonnieren kann man es nur per Mail, eine Webseite hat Baumann nicht.

So gern man dieser jungen, unangepassten Künstlerin zuschaut, die ihren Kopf abstützt oder beim Sprechen auf der Gummierbse in ihrer Hand rumdrückt; die Chemie zwischen ihr und Gehrig stimmt nicht. Da hilft auch das Bier auf dem Tisch nicht. Die Lockerheit fehlt auf Seiten der Moderation. Die konzentriert sich einen Grossteil des Gesprächs auf die grossen Themen der Autofiktion und die künstlerischen Vorbilder Baumanns aus der Underground-Comicszene. Sie scheint die Antworten, die sie will, durchweg nicht zu bekommen – auch nicht, als gegen Ende des Gesprächs dann das Thema Zwang zur Sprache kommt, das titelgebend für die Graphic Novel ist. Angekündigt war im Programm eine Künstlerin, die ihre Erfahrungen mit Zwangsstörungen verarbeitet. Im Gespräch redet Gehrig um den heissen Brei herum, wenn sie nach Zwängen der Gesellschaft fragt. Baumann nimmt den Faden dennoch auf und spricht vom zwanghaften Verhalten der Protagonistin, das in einigen Geschichten verhandelt wird. Eine davon liest sie als Abschluss dann auch noch.

Und damit zum Fazit des Abends: Am besten sprachen die Zeichnungen von Baumann für sich. Oder wie die Künstlerin selbst über sich sagte: Sie will nichts und macht einfach. Und was sie da macht, wirkt jung, echt und relevant.

Benedict Wells: Hard Land

Benedict Wells darf mit Fug und Recht als einer der Stars an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen bezeichnet werden. Ganz ohne Allüren, dafür umso offenherziger sprach er mit Anuschka Roshani über die Schutzlosigkeit der ersten Liebe und über Erklärungsversuche des Erfolgs.

Bereits 2016 hatte Wells mit seinem Roman Vom Ende der Einsamkeit einen Bestseller gelandet, und mit Hard Land doppelt er, der mit seinen 37 Jahren im Literaturbetrieb immer noch als Jungautor gilt, auf eindrucksvolle Weise nach. Gerade im April wurde der Coming-of-Age-Roman vom Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband zum Lieblingsbuch 2021 gekürt, und die «Weltwoche» weiss, dass es auch bei Influencern als hip gilt, mit Wells› Romanen zu posieren.

Hip, oder vielleicht eher retro-hip, geht es auch in Hard Land zu und her, es ist ein Stück US-amerikanische Popkultur, eine Hommage an die 80er-Jahre. Den Soundtrack dazu liefern Michael Jackson, Bruce Springsteen und Billy Idol. Und das Vorbild des 16-jährigen Protagonisten Sam ist Marty McFly, seines Zeichens Hauptfigur der kultigen Filmtrilogie Zurück in die Zukunft und Sternstunde von Michael J. Fox.

Sam bespielt in Hard Land jedoch alles andere als die grosse Starbühne, vielmehr lebt er in einem hinterwäldlerischen Kaff irgendwo in Missouri als unsicherer Teenie ohne Freunde, dafür mit Angststörung. Und er erlebt den Sommer seines Lebens mit bisher nicht gekannten Höhen und Tiefen, denn: «In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.»

Der erste Satz dieses Romans hat es bereits wenige Monate nach Veröffentlichung zu einer beachtlichen Bekanntheit gebracht. Oft wurde er zitiert, und auch die Moderatorin Anuschka Roshani sprach mit Wells über diesen Anfangssatz. Wells teilt die Faszination für erste Sätze mit der Romanfigur Kirstie, in die sich Sam verliebt. Erste Sätze müssten wie letzte Sätze einfach stimmen, so Wells. Es gefalle ihm, wenn er spüre, dass sich der Autor etwas Besonderes dabei habe einfallen lassen. Dieser erste Satz sei seinerseits bereits ein Remake aus Charles Simmons› Salzwasser, dieser wiederum eine Umwandlung von Turgenews erstem Satz aus Erste Liebe.

Um erste Sätze und erste Lieben gibt es also ein regelrechtes Motivgeflecht. Die erste Liebe ist für Benedict Wells von derart einschneidender Bedeutung, weil man ihr schutzlos ausgeliefert sei. Kein Vergleich sei vorhanden, nichts lasse sich relativieren, und man habe das Gefühl, dass einen der erlittene Schmerz nie wieder loslassen würde, egal wie andere einen vom Gegenteil zu überzeugen versuchen.

In dieser Überzeugung steckt eine gehörige Portion Naivität, die aus der Distanz vielleicht belächelt werden kann. Benedict Wells nimmt Sam in dieser Überzeugung aber ernst. Und dieses Ernstnehmen sei für ihn ganz essentiell gewesen, als er den Roman über die Jugendzeit in den 80er-Jahren der USA schrieb. Das Naive an den Popkultur-Träumen dieser Zeit, das Klischee, das Eskapistische, all das habe er in diesem Roman ohne Ironie bringen wollen, um das Gefühl herzustellen, das er eben suchte. Das Gefühl der Sehnsucht nach dieser Zeit, das Gefühl, mit etwas Distanz noch einmal in diese Jugend aufzubrechen, in der man sich so fühlen kann, wie Sam sich schon sein «ganzes Leben fühlen wollte: übermütig und wach und mittendrin und unsterblich». Dies ist ein weiterer Satz aus seinem Roman, der, wenn nicht gerade unsterblich, so doch charakteristisch ist – für das Lebensgefühl, das der Roman vermittelt.

Für dieses Gefühl hat Wells ein Wort gefunden, wie er überhaupt aus einer gewissen Distanz zur Jugendzeit besser die Worte dafür finde, was damals eigentlich los gewesen sei. «Euphancholie», eine Portmanteau-Wort aus Euphorie und Melancholie. Die Euphancholie trifft «die Tinte meiner Jugend», «die Tinte der Sehnsucht», mit der er den Roman geschrieben habe, im wahrsten Sinne aufs Wort. Selbst im Gespräch haben seine Metaphern etwas Triefendes, Überschwängliches. Aber man muss sie ihm einfach abnehmen, wenn man ihn so hört. Ironie fehl am Platz, die gehört sowieso in die 90er.

Von Figuren, die ihren Texten davonlaufen

Adelheid Duvanels Texte widersetzen sich ihrer Leserschaft. Die Meisterin der kleinen Form erzählt von Figuren, die ihren Geschichten scheinbar immer einen Schritt voraus sind und sie schreibt Texte, die sich einer abschliessenden Deutung entziehen. Kaum hat man ein Motiv entschlüsselt, wird es in einem anderen Kontext wieder eingeführt. Duvanels Kurzerzählungen verlangen aktive Leser*innen, die sich auf die Figuren und ihre Erlebnisse einlassen.

Wer sich mit Duvanels anspruchsvollen Erzählungen auseinandersetzt, wird belohnt. Die Autorin spielt mit Motiven, spinnt sie weiter, dreht sie um. Heraus kommen dabei Texte, die chaotisch und doch einheitlich, drastisch und doch humorvoll, widerspenstig und doch verführend sind. Die bildgewaltige Sprache weckt verschiedene Sinne. Wohlgeformte Sätze kann man sich regelrecht auf der Zunge zergehen lassen. Ebene um Ebene lässt sich abtragen, um immer neue Bedeutungen, Assoziationen und Irritationen freizulegen.

Die Form der Kurzgeschichten mag auf den ersten Blick zwar einfach erscheinen. Bei näherem Hinschauen entdeckt man aber, dass die Verknüpfungen fehlen: das Warum ist nicht geklärt. Es gibt auch kein Kernthema, sondern viele kleine Elemente, die sich zu einem kunstvoll arrangierten Mosaik zusammensetzen. Die einzelnen Mosaiksteine bestehen einerseits aus unterschiedlichten Themen, andererseits scheinen immer wieder ähnliche Muster auf. Beispiele dafür sind die Motive ‹Brille› oder ‹Fenster›. Auch das Personal der Kurzgeschichten hat eines gemeinsam: stets begegnet man in Duvanels Welten versehrten Figuren. Da wäre beispielsweise die beinahe blinde Selbstmörderin, der sich völlig verfremdende Eugen oder die junge Olga aus der psychiatrischen Klinik.

Dieses Jahr markiert das 25. Todesjahr von Adelheid Duvanel. Friederike Kretzen nimmt das mit einer Kollegin zum Anlass, die gesammelten Erzählungen der Baslerin in einer Neuaflage unter dem Titel Fern von hier zu veröffentlichen. Kretzen unterhält sich mit Samuel Moser und Schriftstellerin Patricia Büttiker über die Raffinesse der Texte. Sie sind sich einig: Duvanels Kurzerzählungen sind wie gut getarnte Sprengsätze. An jeder Stelle im Text könnte man eine Frage entwickeln – auf die man dann aber keine Antwort findet. Zu diesem Problem meint Samuel Moser: «Man soll den Text nicht erpressen.»

«En Afang, wiener müesst si.»

Wir sind live in 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1: Pünktlichst stürmen Marcel Gschwend aka Bit-Tuner und Manuel Stahlberger auf die Bühne des Stadttheaters Solothurn, tanzen wild zum immer lauter werdenden Beat, springen auf der beleuchteten Fläche hin und her. Stahlberger heizt die Masse auf, die sofort hastig mitklatscht.

Die Masse besteht aus möglicherweise zwanzig Personen. Ein Traum habe sich Stahlberger erfüllen wollen: «En Afang, wiener müesst si: Mir klatsched mitenand, i wür crowd surfe, mir würed eus abschlecke.» Doch dieses Konzert wurde – wie alles – vor allem gestreamt. Das anwesende Publikum hatte entweder Glück oder sich risikofreudig einer grossen Gefahr ausgesetzt, wofür sich Stahlberger am Schluss dann auch noch bedanken wird.

«i derä Show» heisst das Album, welches, begleitet von löblicher Kritik letzten Oktober 2020, inmitten der Pandemie und darum dann doch eher leise und verhältnismässig unbeachtet herauskam. Dem Tourplan entnimmt man, wie erwartet, Absagen und Verschiebedaten, so dass sich vermuten lässt, es könnte dies eines der ersten Konzerte seit der Plattentaufe sein.

Das Leben: eine Krisensammlung

Abseits der Einschränkungen geht es hier aber vor allem um das gesprochene Wort, die Sprache und die Geschichten – Stahlberger und Bit-Tuner wurden nicht etwa Opfer einer schlechten Programmation. Die Texte auf «i derä Show» überzeugen durch eine unangestrengte Tiefe. Sie erzählen von den grossen (auffallend oft auch weiblichen) Lebenskrisen im mittleren Alter und dies so, als ob es sich um blosse Alltagsbeobachtungen handeln würde. Das sind sie vermutlich auch, doch schaut und hört man genau hin, offenbaren sich die Abgründe schnell. Manuel Stahlberger beobachtet nicht nur scharf, er versteht es auch, die Sätze so einfach wie möglich zu belassen. Keine sprachliche Überhöhung, nur die präzise Beschreibung banaler Augenblicke und simpler Tages- und Lebensabläufe. Darin steckt die Tragik.

Bedächtig singt Stahlberger von der Scheinheiligkeit.

Und Bit-Tuner? Seine Klänge sind es, die ordentlich aufwühlendes Gewitter unter die beabsichtigt monoton erzählten Geschichten legen. Man spürt, was sich darunter zusammenbraut: Ein zäher Start in ein Leben voller austauschbarer Geschichten, die immer zugleich erschütternd und lächerlich einfach sind, ein Leben in Wiederholung und glanzloser Scheinheiligkeit. Plötzlich ertappt man sich beschämt, dass das Album trotz aller Tristesse vor allem dank des Beats erstaunlich viel Spass macht.

Spassig sein kann auch Manuel Stahlberger, das wissen wir. Und so hat es wenig erstaunt, dass das Konzert teilweise etwas an eine Comedy-Aufführung erinnerte. Nötig gewesen wäre das allerdings nicht: Die Songs überzeugen auch ganz für sich genommen.

Aufforderung zum Durchhalten

Das letzte Lied – «dureringe» – versprüht etwas (trügerische) Hoffnung und könnte durchaus als Aufforderung zum Durchhalten verstanden werden. Mit einem optimistischen Blick in die Zukunft möchte man sich vor allem darüber freuen, endlich wieder einmal an einem Konzert dabei gewesen zu sein. Insofern was es tatsächlich «en Afang, wiener müesst si» und eine Heimfahrt im Glück.

Wie man das so macht: Brav nach dem Konzert eine Platte kaufen und die Künstler unterstützen.

Man sollte nie aufgeben, weder literarisch noch politisch.

Ein Gespräch zwischen Zora del Buono und Regula Rytz

Kunst trifft Politik – was kann man als Zuhörer*in von einem spontanen Gespräch zwischen Regula Rytz und Zora del Buono erwarten? Wie sich herausstellt, eine ganze Menge. Es entsteht ein lebensnaher, lebendiger und spannender Austausch zwischen zwei starken sprachlich versierten Frauen, die mit grosser Leichtigkeit über Leben, Literatur und Politik parlieren.

Anfangs erwähnt Zora del Buono, dass sich die beiden erst seit zehn Minuten kennen, und ohne vorgefassten Plan oder Fragenkatalog in das Gespräch gehen. Zora del Buono beweist, dass sie eine versierte Erzählarchitektin ist und in Regula Rytz ein Gegenüber auf gleicher Augenhöhe gefunden hat.

Angeregt durch die Frage der Moderatorin, wieviel Optimismus es heute brauche, gibt Zora del Buono zu bedenken, dass wir uns in einer Krisensituation befinden, die schwierig zu steuern sei. Regula Rytz greift das Thema sofort auf und überträgt es auf das Buch «Die Marschallin»: Auch hier gibt es eine Zeit voller Umbrüche und Unsicherheiten, aber die Figuren schaffen es, ihren Optimismus zu bewahren. Ein Leben voller rabenschwarzer Zuversicht, in dem Veränderung möglich ist.

Diese eng verwobene Verbindung von Literatur, Politik und eigenen Erfahrungen wird zum roten Faden, der sich durch das gesamte Gespräch zieht. Für beide ist die heutige junge Generation der Hoffnungsträger, der Veränderung bringt. Am Beispiel von Annalena Baerbock diskutieren sie die Rolle einer jungen Politikerin, die sich als Frau – intensiver als ein Mann – den Auswüchsen der Sozialen Medien zu stellen hat. Dabei betont Regula Rytz, dass man sich als öffentliche Person einerseits mit vielen kritischen Meinungen auseinandersetzen muss und zugleich davon abhängig  ist. Auch als Autorin erfährt man dies – ergänzt Zora del Buono – dabei ist es wichtig «bei sich zu bleiben».

Regula Rytz bemerkt, dass dies auch der Protagonistin in Die Marschallin gelinge und sie gerade dadurch eine faszinierende, aber auch dominante Persönlichkeit werde, die eigene Wege sucht – gerade wie die junge Generation heute. Eine zwiespältige Figur, gibt Zora del Buono zu bedenken. In diesem Kontext möchte Regula Rytz wissen, wie es ihr gelungen sei, die Figuren so lebendig zu gestalten. Die Autorin führt aus, dass sie ein Herz für jede Figur und den Roman als Möglichkeit begriffen habe, um das Haus ihrer Grossmutter, das verloren gegangen war, wieder auferstehen zu lassen. Auch schätze sie die Arbeit der Historiker*innen sehr, die die komplizierte europäische Geschichte rekonstruiert haben.

Für  Regula Rytz ist nicht nur Europa voller lebenspraller Geschichten, auch  in der Schweiz laufen solche Geschichten zusammen. Zora del Buono ergänzt, dass die Schweiz eben nicht nur das schöne kleine Alpenland mit der niedlichen Sprache sei, sondern ein supermodernes, globalisiertes Land, in dem Integration besser funktioniere als in Deutschland. Indes mache gerade die Coronakrise die Probleme und Abhängigkeiten der Globalisierung deutlich und man könne sich fragen, inwieweit diese Krise literarische Stoffe hervorbringen könne oder müsse. Die Bedeutung von literarischem und politischem Schreiben rücke damit ins Zentrum.

Die grundsätzliche Frage, so Zora del Buono, sei doch aber folgende: Wann beginnen Menschen sich zu verändern oder wann verändern sie ihre Haltung? Im Gegensatz zu Regula Rytz glaubt Zora del Buono nicht, dass Schriftsteller*innen Manifeste verfassen sollten, dies sei eher die Aufgabe von Journalist*innen. Die Aufgabe einer Autorin bestehe darin, Geschichte(n) zu beleben und sich in Menschen hineinzufühlen. In diesem Moment verschmelze Historisches mit Literarischem.

So wie die Literatur bewusst mit Sprachbildern arbeitet, so geschieht dies auch in der Politik. Regula Rytz und Zora del Buono sprechen über die «neue Sprache der Politik», die der deutsche Grünpolitiker Robert Habeck thematisiert. Er versucht, die politisch instrumentalisierte, auf Konfrontation ausgerichtete Sprache in einen konstruktiven Diskurs zurückzuführen und damit auch die politische Kultur wieder zu verändern.

Abschliessend bemerkt Regula Rytz, dass in der politischen Sprache mit Bildern gearbeitet werde, die die alte Ordnung zementierten. Ihrer Ansicht nach ist der konstruktiv sprachliche Diskurs Kern der Demokratie. Gemeinschaft besteht Zora del Buono nach im offenen Gespräch – sei es in der Politik, in der Geschichte oder in der Literatur: «Viele wollen zusammen, was richtig ist.»

Simone von der Geest und Regula Weber waren aufmerksame Zuhörerinnen dieses inspirierenden Gespräches.

La leçon d’Afropea

Afropea est beaucoup plus que le titre du nouvel essai de Léonora Miano, romancière et essayiste franco-camerounaise. Ce beau néologisme désigne l’identité des personnes d’ascendance subsaharienne nées ou élevées en Europe. L'»utopie Afropea» est une invitation de l’auteure à renouveler les modalités relationnelles entre les peuples, soit, entre les grands continents de l’Afrique et de l’Europe. Cette catégorie propose l’apaisement du conflit et de l’histoire, explique Léonora Miano. Quant à l’ouvrage, elle précise qu’il ne s’agit pas d’une lecture politique, mais plutôt d’une lecture spirituelle de l’histoire qui pose comme postulat principal que l’être humain est «partout le même, en dépit de toutes les tragédies de l’histoire».

«Il faut regarder l’histoire de l’humanité et être capable de se situer là-dedans». Dans sa discussion avec Marina Skalova, Léonora Miano n’hésite pas à remonter au Moyen-Âge pour parler de l’esclavage. Elle avance que les Vikings avaient des esclaves qui ont souffert et subi la même déchirure et perte que les Africains à l’époque de la colonisation. Cependant, ce sont les esclaves africains dont on parle encore aujourd’hui. Et pourquoi ? Parce qu’ils ont été marqués par leur couleur, une distinction qui fait qu’on n’oublie pas, explique l’auteure. Or, il n’existe pas une humanité africaine, ni une humanité européene. L’essayiste poursuit en affirmant qu’il existe des différences culturelles liées à l’espace, mais qu’il se trouve une forte ressemblance entre les gens. «On partage les mêmes références !» Léonora Miano donne l’exemple de comment elle avait écouté de la musique française au Cameroun, malgré les milliers de kilomètres de distance, — «même Madonna!» Alors pourquoi cette distinction de race quand cela n’existait pas auparavant?

À l’évocation de la question raciale, Marina Skalova souligne le sentiment de colère qui selon elle serpente dans le texte. Mais cette impression de lecture est rapidement nuancée par l’auteure : «C’est plutôt un sentiment d’agacement» explique-t-elle. «Je déteste la critique de certains comportements chez les Afrodescendants… je déteste ce que nous présentons au monde comme des formes de protestation et qui pour moi sont tout l’inverse d’une connaissance de son pouvoir.» L’auteure refuse par conséquent la validité de la notion de race. Elle déclare au contraire que «l’identité est une question de vécu, non de race». En effaçant la notion de race, on pourra selon elle résoudre l’asymétrie qui existe entre les humains.

L’auteure d›Afropea aborde pour finir la question des représentations et le pouvoir de l’imaginaire qui influencent notre vision du monde. Elle donne l’exemple de James Bond et du «méchant Russe» qui a marqué l’imaginaire de toute une génération et souligne l’importance de ne pas réduire son propre être, ou celui des autres, aux clichés stigmatisants. Comme le temps passe trop vite, Léonora Miano termine avec une citation puissante qui illustre sa pensée post-occidentale : C’est «une proposition fraternelle et une exigence d’inclusion. Se revendiquer de deux grands espaces, c’est les faire vivre tous les deux en soi, et hors de soi de manière égale… l’un avec l’autre et l’un dans l’autre».

Die Erfindung von Welten. Populismus in Literatur und Politik

Demokratie unter Druck. Die Macht des Populismus.

Freitag, 14.5.2021, 16 Uhr, Podiumsgespräch

Populismus ist nicht neu, bereits in der griechischen Antike gab es Demagogen, und besonders schreckliche Zeugnisse findet man im letzten Jahrhundert. Was ist so attraktiv an dieser Art des Politisierens? Und warum entscheiden sich viele Wähler*innen trotz besseren Wissens auch aktuell für populistische Politker*innen?

Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, Professorin für Anglistik an der Universität Zürich, diskutierte mit der russischen Autorin Maria Stepanova, dem Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher und mit Nanad Stanjanović, Politologe und SNF-Professor an der Universität Genf.

Die Frage, mit der Moderatorin Elisabeth Bronfen die Podiumsdiskussion beginnt, ist so einfach nicht  zu beantworten: Wie lautet die Definition von Populismus?

Einig sind sich die drei Gesprächsteilnehmenden in zwei Punkten: Es gibt keine abschliessende Klärung des Begriffs. Und eine Gemeinsamkeit sind die grossen Versprechungen, die Populist*innen machen.

Leere Versprechungen

Leere Versprechungen seien das, meint Maria Stepanova. Populist*innen würden Instinkte und die primären Gefühle ihrer Anhänger*innen mit Versprechen bedienen, die nicht eingelöst werden können. Jonas Lüscher spricht vom Versprechen der Reinheit und der Einfachheit. Es sei enorm wichtig, immer wieder zu versichern, dass es ein «Wir» des inneren Zirkels und ein «Sie» ausserhalb gebe. Nanad Stanjanović nennt diese Gemeinsamkeit die «Idee einer imaginären Gemeinschaft»; ein antielitärer Diskurs sowie die Versprechung eines homogenen Volkes seien dafür typisch.

Ein wichtiger Aspekt der Attraktivität des Populismus sei, dass er sowohl in den Bereich der Politik wie in denjenigen der Literatur gehöre, antwortet Maria Stepanova auf die Frage, was denn der Reiz ausmache. Die Populist*innen kreieren unglaublich schöne Welten. Im Gegensatz zu Politiker*innen, die sich nach wie vor bewusst sind, dass eine Wahrheit besteht und Versprechungen da sind, um eingelöst zu werden, hätten Populisten gar keine Absicht, Versprechungen zu halten.

Etwas prosaischer kommt die Erklärung von Lüscher und Stanjanović daher: Es geht auch hier ums liebe Geld. Entweder ist es der Politiker selber, der möglichst viel Geld aus dem Staat abziehen will, oder die Anhänger versprechen sich, aufgrund der politischen Entscheide mehr Geld in der Tasche zu haben. Und damit räumt Lüscher auch gleich mit einem Klischee auf: Es sind eben nicht nur die Enttäuschten, sozial Abgehängten und Ungebildeten, die Populistinnen und Populisten anhängen. Oft ist es der Mittelstand, der aus Selbstinteresse trotz genauer Kenntnisse über moralisch verwerfliche Handlungen und Aussagen, die populistischen Politiker*innen wählt. Maria Stepanova spricht dann auch von einer «populistischen Gesellschaft», in der wir leben, in der weder die Politikerpersönlichkeiten noch deren Wähler*innen homogen sind.

«Trotzdem»

Das Erstaunliche ist, dass viele Menschen trotz ihres Wissens um die Inszenierung populistische Parteien wählen. Die Selbstinszenierung, das politische Theater, das auf Affekte und Gefühle abzielt, ist oft völlig transparent, und trotzdem machen die Menschen mit.

Die Erklärungsversuche der Diskussionsrunde wirken teilweise hilflos: Auf der Theaterbühne kann man alles behaupten, meint Lüscher, die Vereinbarung mit dem Publikum sei gerade die, dass es mitgehe. Die Demagogen in der Antike belegten, erklärt hingegen Stanjanović, dass es sich um ein altes Phänomen handle, das offenbar einem Teil der Bevölkerung seit je entspricht.

Maria Stepanova argumentiert wieder literarisch: Wie die olympischen Götter übertreten gewählte Politiker*innen offiziell bevollmächtigt Regeln; der Reiz des Verbotenen wirkt attraktiv auf die Gefolgschaft.

Common Ground

Mit der Frage, wie denn ein Common Ground aussehen könnte, ein Miteinander, das ohne Polittheater und leere Versprechungen bestehen kann, führt die Moderatorin das Gespräch in die Schlussrunde.

Und nach den bisher eher erwartbaren und wenig griffigen Beiträgen wird’s nun konkreter.

Nanad Stanjanović leitet das Projekt «demoscan», das versucht, die Demokratie auf eine Art zu beleben, die wiederum in der Antike ihren Ursprung hat. Das Projekt wählt per Los eine Gruppe von Menschen aus, die die Gesellschaft in ihrer Vielfalt spiegelt. Diese etwa 25 Menschen diskutieren über ein politisches Thema und verfassen danach einen Bürgerbrief, der danach andere Menschen informieren wird. Mit dieser Methode soll einerseits die Demokratie, der Gedanke der Gleichheit aller und dass sich alle am politischen Prozess beteiligen, weitergedacht werden; andererseits soll diese Methode der Gefahr, dem Populismus mit technokratischer und elitärer Politik zu begegnen, entgegengehalten.

Jonas Lüscher weist darauf hin, dass sich mit einer Politik des Common Ground Probleme der Zukunft nicht lösen lassen. Es brauche vielmehr den Streit und die Debatte.

Die Schlussworte von Maria Stepanova klingen versöhnlich: Sie appelliert an die Menschen, sich selber, den anderen und deren Meinung respektvoll und achtsam zu begegnen und die Qualität der freundlichen Begegnung zu schätzen.

So einfach wäre es?

Nachdem doch eher Hilflosigkeit gegenüber der Macht des Populismus das Gespräch geprägt hat, ist Maria Stepanovas Appell ein hoffnungsvoller, aber vielleicht auch ein zu schöner Wunsch.

Zugeschaut und zugehört hat: Martina Albertini

Maria Stepanova, Nach dem Gedächtnis, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
Jonas Lüscher/Michael Zicky (Hrsg.), Der populistische Planet, C.H. Beck, München 2021

Die Lust am weissen Blatt Papier

Laura Barberio im Gespräch mit Lukas Linder

Im Rahmen der Solothurner Literaturtage 2021 spricht Lukas Linder über seinen neuen Roman Der Unvollendete und trifft sich in einem unmoderierten Gespräch mit Pedro Lenz, um sich über ihre Bücher und ihr Schaffen zu unterhalten. Und bei Skriptor Prosa diskutieren Autor*innen mit Lukas Linder über einen seiner unveröffentlichten Texte.

Anatol ist der Anti-Held in ihrem neuen Roman Der Unvollendete. Nichts will ihm gelingen und trotzdem rettet er sich mit unverbesserlichem Optimismus immer gleich in die nächste Niederlage. Eine Figur, wie wir sie in Ihren Grundzügen schon aus Ihrem ersten Roman Der letzte meiner Art kennen. Was ist für Sie das Reizvolle an diesen Anti-Helden, die immer wieder scheitern und zugleich unverbesserlich optimistisch, ja schon fast naiv, zu sein scheinen?

Es ist tatsächlich so, dass Anatol sehr viele Ähnlichkeiten mit der Figur von Alfred von Ärmel aus Der letzte meiner Art hat. Auch in meinen Theaterstücken kommt sehr häufig eine ähnliche Figur vor. Ich denke, das ist eine Art Kunstfigur, die ich über die Zeit entwickelt habe. Der liebevolle Tollpatsch, der durch slapstickartige Szenen torkelt. Bei Comedians gibt es das sehr oft. Sie entdecken eine Kunstfigur für sich und verwenden sie dann immer wieder. Dieses Prinzip, das im Film sehr verbreitet ist, verwende ich auch in der Literatur. Ich kenne diese Figur mittlerweile sehr gut und sie dient mir als Mittel, um über die Welt nachzudenken.

Worin unterscheidet sich das Scheitern dieser zwei Protagonisten – Alfred von Ärmel und Anatol Fern?

Der grösste und offensichtlichste Unterschied ist sicher das Alter. Bei Alfred weiss man nicht genau, wie alt er ist, als er die Geschichte erzählt. Er erzählt über seine Kindheit und Jugend zu einem Zeitpunkt, in dem er schon etwas älter ist. Dadurch hat er bereits eine gewisse ironische Distanz zu sich selbst und seinem Scheitern erlangt. Bei Anatol hat man das Gefühl, dass er noch mittendrin ist. Er ist älter, aber dadurch auch schon etwas bitterer. Es ist nicht mehr alles möglich, wie bei Alfred. Bis man 20 ist, steht einem die Zukunft offen, egal was passiert ist. Aber mit 35 wie bei Anatol sind gewisse Lebenswege bereits verbaut. Deshalb ist Anatol vielleicht auch die etwas traurigere Figur.

Sie schreiben vom Scheitern eines Germanistikstudenten. Anatol hat sich als Autor versucht, aber versagt sowohl in der Karriere als auch in allen anderen Lebensbereichen. Was muss man als Germanistikstudent*in und Geisteswissenschaftler*in tun, um nicht so zu enden?

Wahrscheinlich Nanowissenschaften studieren (lacht). Das war sowieso der erste Fehler, wenn man das nicht gemacht hat. Aber ich kenne auch viele heitere Germanistik- und Philosophiestudierende. Es gibt bei dem Studium aber schon die Gefahr, weil es geisteswissenschaftlich ist und einem sehr viel Zeit für sich selbst lässt, dass man sich zu sehr in sich selbst hinein verkriecht. Während den Semesterarbeiten und den Semesterferien kann es passieren, dass man sich in diesen Labyrinthen des Geistes irgendwann verliert und nicht mehr herausfindet. Das ist die Gefahr dieses Studiums. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man durch Geselligkeit, Freunde und Alkohol auch einen Ausgleich zum Studium hat.

Wollten Sie schon immer Schriftsteller werden?

Ich wollte ursprünglich eigentlich Schauspieler werden und habe mich nebenbei noch für Philosophie und Germanistik eingeschrieben. Ich habe dann aber schnell gemerkt, dass mir für die Schauspielerei dann doch der Mut und wahrscheinlich auch das Talent fehlt. Ich hatte einfach wahnsinnige Lust, mit anderen Leuten über Literatur zu diskutieren, was schliesslich den Ausschlag gegeben hat.

Aber nicht nur das Studium der Germanistik haben Sie mit Anatol gemeinsam. Sie bewegen sich wie Ihr Protagonist zwischen der Schweiz und dem polnischen Lodz. Wie viel Lukas Linder steckt in Anatol?

Es gibt sicher einige Dinge, die mir bei Anatol bekannt vorkommen. Aber weil er eine Kunstfigur ist, habe ich das Gefühl, dass er eigentlich gar nicht mehr so nahe ist, wie man vielleicht denken könnte. Er ist eine Kunstfigur, die ich sehr gut beherrsche, weil ich sie mittlerweile schon oft in unterschiedlichen Texten verwendet habe. So gibt es auch viele Stellen, an denen unsere Wege auseinandergehen. Ich würde sagen, Anatol ist zum Beispiel sehr viel bitterer als ich. Ich kann zwar nicht von mir behaupten, ein sehr ausgeglichener Mensch zu sein, aber gewisse Kämpfe, die er ausficht, kann ich einfach ruhen lassen. Ich schaue um einiges heiterer auf die Welt.

Besteht die Gefahr, dass man in immer gleiche Muster verfällt, wenn man eine Kunstfigur mehrfach verwendet?

Das ist sicher eine grosse Gefahr und war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich die Erzählperspektive im zweiten Roman geändert habe. Es ist jetzt ein auktorialer Erzähler und nicht mehr die Ich-Perspektive. Ich hatte grosse Lust, diesen Charakter nochmals aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Aber natürlich gibt es auch Dinge, welche sehr ähnlich sind und sich wiederholen. Durch die neue Erzählperspektive ändert sich allerdings auch der Tonfall und die Erzählart. Bei der Ich-Perspektive sind mehr Emotionen im Spiel, sowohl in Bezug auf die Hauptfigur aber auch in Bezug auf die Nebenfiguren. Durch die emotionale Aufgeladenheit gibt es aber auch die Gefahr der Geschwätzigkeit. Beim auktorialen Erzähler ist es etwas distanzierter und kühler, stellenweise auch etwas sadistischer, aber dafür genauer auf den Punkt.

Ihre beiden Romane zeichnen sich durch Sprachkomik und Wortwitz aus. Aber wie spricht Lukas Linder ausserhalb seiner Bücher?

Ich bin tatsächlich ein sehr ironischer Mensch, was mir auch hilft, Dinge auf Distanz zu halten. Aber ich rede natürlich nicht wie ein Buch, gerne aber viel und schnell. Manchmal geht mir das Bücherschreiben dadurch sogar etwas zu leicht von der Hand. Ich habe selten eine Schreibblockade und liebe es anzufangen. Ein weisses Blatt Papier ist für mich ein Neuanfang. Alles ist offen und man hat jetzt die Chance, den besten Text zu schreiben, den man je geschrieben hat. Auch wenn es nie gelingt, ist das das Reizvolle. Ich liebe es, anzufangen und etwas Neues auszuprobieren. Die Enttäuschung stellt sich dann häufig nach ungefähr 20-30 Seiten ein.

Am Schluss von Der Unvollendete scheint sich Anatol schliesslich im Schatten seiner selbst, in diesem Schattendasein, das er bisher geführt hat, komplett aufzulösen. Ist das das Ende oder ein Neuanfang? Kann er sich noch ändern und erfolgreich werden?

Ja, das ist meine Hoffnung. Durch dieses Verschwinden wird Anatol von seiner Geschichte und dieser Erzählperspektive, aber auch von mir erlöst. So kann er sich jetzt freier bewegen und sich vielleicht sogar neu erfinden. Er ist auch befreit von meinem klischierten Blick und kann etwas ganz anderes machen. Er muss nicht wie sein Autor sein und nochmals ein Buch schreiben. Er kann etwas machen, was ihm wirklich Spass macht.

Wird es jemals eine Fortsetzung von Der letzte meiner Art und Der Unvollendete geben oder würde das dem Konzept der Bücher zuwiderlaufen?

Diese Vorstellung ist auf jeden Fall reizvoll. Das wäre eine Fortsetzung in dem Sinne, dass sehr ähnliche Doppelgänger in einem anderen Text wieder vorkommen, aber vielleicht nicht unbedingt mit dem gleichen Namen. Vielleicht etwas älter oder in einem anderen Zusammenhang, das kann ich mir gut vorstellen.

Sie selbst sind sehr erfolgreich. Ihr neuer Roman ist ein Bestseller. Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre Werke?

Ich liebe das Komische an Situationen. Fast jede Situation hat etwas Komisches und ich liebe es, diese komischen Details zu entdecken. Ich habe das Gefühl, das sind die Details, an denen das Menschliche erst richtig sichtbar wird. Also das Komische im Sinne vom Witzigen aber auch das Komische im Sinne vom Grotesken. Ich mag es, zu beobachten und über diese Details zu schreiben.

Ich habe Ihr Buch als eine Art Nachdenken über das Scheitern gelesen. Auf welche Gedanken soll man denn dabei kommen und was fürs eigene Leben mitnehmen?

Die Schönheit der Selbstironie und die Kunst, sich über sich selbst lustig zu machen. Es war ein wunderbarer Moment für mich, als ich entdeckt habe, dass es so etwas wie Selbstironie gibt. Die Selbstironie macht das Leben und die Beziehung zu einem selbst aber auch zu anderen Menschen einfach leichter. Als Kind habe ich von David Sedaris, einem US-amerikanischen Autor, eine Kurzgeschichte über nervöse Ticks gelesen. Ich hatte damals selbst solche Ticks und mich natürlich dafür geschämt. Aber so konnte ich entdecken, dass man darüber auch eine lustige Geschichte schreiben kann.

Sie haben Ihre Schriftstellerkarriere mit dem Schreiben von Theaterstücken begonnen. Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Schreiben von Theaterstücken und Romanen? Warum haben Sie mit dem Romanschreiben angefangen?

Beim Romanschreiben taucht man etwas mehr in eine Welt ein. Meine Theaterstücke sind sehr viel szenischer und kürzer, wodurch man nicht ganz so sehr in dieser Welt aufgeht. Ausserdem ist es im Theater viel mehr eine Teamarbeit. Man arbeitet mit sehr vielen kreativen Leuten zusammen, wodurch man auch viele Kompromisse eingehen muss. Beim Roman bin ich allein verantwortlich. Was mir gefällt, ist die Abwechslung, wenn ich beides machen kann. Leider ist es allerdings momentan sehr schwierig, Theaterstücke zu schreiben. Nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch allgemein Bühnen zu finden. Deshalb ist es für mich aktuell einfacher, Prosatexte zu schreiben. Jeder möchte einen Roman schreiben und auch ich habe das immer schon probiert. Ich habe dann den Umweg über das Theater genommen, weil es mir leichter gefallen ist für lange Zeit, Geschichten durch Dialoge zu erzählen. Beim Roman hat mir lange der Fokus und die Überzeugung gefehlt, eine Geschichte über so viele Seiten zu erzählen.

Können Sie sich vorstellen, dass wir die Figuren Ihrer Romane auf der Bühne wiedersehen werden?

Diese Kunstfigur, dieser Typus von Anatol und Alfred, aber auch der Mutter gibt es auch in vielen Theaterstücken von mir. Da gibt es keine klare Trennung.

Dürfen wir auf ein nächstes Buch hoffen?

Ja, natürlich! Ich weiss noch nicht, wann es erscheinen wird, aber die Lust am weissen Blatt ist so gross, dass ich immer noch grosse Lust habe, weiter zu schreiben!

Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Termine mit Lukas Linder im Rahmen der Solothurner Literaturtage:

Sa. 15.5. 10:00-11:30 Uhr: Skriptor Prosa – Textwerkstatt zu einem Text von Lukas Linder

So. 16.5. 14:00-14:40 Uhr: Lukas Linder – Lesung und Gespräch

So. 16.5. 10:30-11:30 Uhr: Im Dialog – Pedro Lenz mit Lukas Linder

Le phénomène Pajak

Le neuvième et dernier volume du Manifeste incertain par Frédéric Pajak, écrivain et illustrateur franco-suisse, entremêle les portraits de deux hommes aux vies et destins singuliers mais qui se ressemblent du fait qu’ils ont tous deux perdu leur frère ainsi que leur père: il s’agit de l’auteur lui-même et de Fernando Pessoa, le célèbre poète portugais.

Les sentiments guident le livre, ou plutôt les livres si on considère l’ensemble des volumes du manifeste. Pajak explique que les sentiments sont même les héros de ses romans. Comment un sentiment peut-il exister et s’exprimer chez les auteurs? L’écrivain dit se baser sur sa propre expérience qu’il compare avec le même sentiment vu sous le point de vue d’un autre. Cette comparaison montre que si l’on partage le même sentiment, on peut néanmoins s’étonner des différentes interprétations possibles engendrées par ce même sentiment chez différentes personnes. C’est d’ailleurs selon Pajak la manière de faire un livre, à savoir en montrant les paradoxes de l’homme.

Pajak a beaucoup voyagé, et il ne se prive pas de citer de nombreuses destinations, dont la Russie, l’Italie, l’Espagne, la Chine, la région du Maghreb ainsi que l’Amérique du Sud ou encore l’Afrique. Et en effet, les souvenirs ont une place dominante dans son dernier livre. Pajak est un homme qui aime la liberté et qui déteste les contraintes et la monotonie, et cela ressort aussi dans son œuvre: «Ce que j’essaye de faire, c’est d’être libre». Chaque souvenir inspire ainsi son propre langage.

Lorsque l’auteur évoque la marche à suivre qu’il a mise en place pour aboutir à ses différents volumes, il précise qu’il procède habituellement par étapes. Il commence par lire, beaucoup, toute l’œuvre et les correspondances ainsi que les études sur ltel ou tel auteur qui l’intéresse. Arrive ensuite la phase de rédaction qu’il effectue partout sauf assis à un vrai bureau (avec prédilection aux tables de restaurant). Finalement, il produit environ 150 à 200 dessins en environ deux mois. Et c’est là sa spécialité, le dessin! Son œuvre mélange ainsi un travail de pleine conscience représenté par l’écriture et un travail plus inconscient, celui du dessin. Dans la dernière phase de travail, la plus importante, il s’occupe à monter les différents éléments ensemble en veillant à accorder une importance particulière à la narration. Il s’agit alors d’une multitude d’histoires qui se croisent et qui finissent par n’en plus faire qu’une. Pajak dit à ce propos: «Je fais des livres, des objets, je suis un artisan».

Mais pourquoi Pajak a-t-il été amené à intégrer Pessoa dans ce dernier volume du Manifeste incertain? L’auteur explique que selon lui, l’écrivain portugais et le phare de l’incertitude, qui est en relation étroite avec l’intranquillité de Pessoa, des sentiments qui font penser à son âge mature. La mélancolie prend elle aussi une place importante, la saudade, qui est exaltante, stimulante et libératrice pour Pajak car «on trouve plus de choses dans la tristesse que dans la gaieté». Et pourtant, Pajak affirme qu’il se sent étranger à Pessoa ou du moins qu’il essaie de rester à distance. Pessoa menait une vie de «bureaucrate», une vie rythmée, que l’écrivain considère comme ennuyeuse puisque lui au contraire aime le voyage, l’aventure, le danger. Dans ce sens, on peut considérer que le Manifeste incertain est avant tout un grand voyage en soi, exprimé de manière lyrique et dont le but ultime est la liberté.

Wie ernst nimmt Josephine Berkholz Lyrik?

Sehr ernst. Das ist nicht nur Fatima Moumouni bewusst, die den Veranstaltungstext verfasst hat, sondern jetzt auch mir. Berkholz findet Lyrik fantastisch, und wie sie selbst verdeutlicht: die Konkretheit und Vieldeutigkeit dabei. Ein Gedicht kann konkrete Bilder erzeugen, die aber jede*r anders deuten und die sich auch ändern können.

Josephine Berkholz hat am Literaturinstitut in Leipzig studiert und absolviert nun noch ein Studium der Philosophie in Berlin. Sie kam damit weg vom Poetry Slam hin zu Spoken Word, denn die Texte, die nun entstehen sind doch anders als früher. Sie versucht die verschiedenen Textsorten zusammenzubringen und nicht immer klar voneinander zu trennen. Berkholz hat Lust herauszufinden was geschieht, wenn sie beispielsweise Musik und Lyrik zusammenführt. Daraus kann ein Gedicht mit Beat entstehen oder sie experimentiert mit einer Loop Station. Extra für die Solothurner Literaturtage hat Berkholz sich von ihrem akademischen Unistoff inspirieren lassen und neue Worte geschrieben. Die Hausarbeit für die Universität ist allerdings noch nicht fertig, doch das Projekt wurde zu einer Vorstudie dafür und lässt Berkholz die Frage, die sie beschäftigt, auf eine andere, neue Art anschauen.

Es handelt sich hierbei um die Frage, ob wir mit der Natur verbunden sind. Berkholz stellt sich vor, wie es wäre, wenn alle Ozeane ineinanderflössen oder dass wir im Grunde den Atem des Waldes einatmen. Dabei hatte Josephine Berkholz auch einen Lyrik Ohrwurm im Kopf, den sie bei Maren Kames, einer deutschen Lyrikerin, aufgeschnappt hat: “Zu gleichen Teilen bin ich der Landschaft ausgesetzt wie die Landschaft mir“.
Landschaftsbilder ploppen auf, kaputte und ganze. Sie wirft mit Worten um sich, sie vermehren, wiederholen sich, explodieren fast. Und ich denke: Doch, Josephine Berkholz ist das Experiment mit der Loop Station gelungen.

Als eine von zehn Veranstaltungen fand die Spoken Word Performance analog statt. Ich sass allerdings zu Hause vor dem Laptop. Die Freude von Josephine Berkholz, endlich wieder vor Publikum auftreten zu dürfen, habe ich trotzdem gespürt und mich gefreut, dass ich ihren Worten und Gedanken lauschen konnte, die politisch, kritisch und philosophisch sind.