Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung… reloaded!

Der Unvollendete ist der zweite Roman des 37-jährigen Lukas Linder. Ähnlich wie der vor drei Jahren erschienene erste Roman Der Letzte meiner Art steht in seinem Zentrum ein Anti-Held. Diesmal trägt er den Namen Anatol Fern, ist erfolgloser Schriftsteller, verdient sein Geld als «Allrounder» in einem Altersheim und scheitert in der Liebe.

Nun könnte man denken, die Lektüre dieses Romans sei ein bedrückendes Erlebnis. Doch das Gegenteil ist der Fall! Die Lektüre macht echt Spass, und das Buch ist eines der wenigen Beispiele aus der Schweizer Gegenwartsliteratur, wo der Humor zu seinem angestammten Recht kommt.

Darauf lag denn auch der Hauptakzent des Gesprächs, das Thomas Strässle mit dem Autor führte. Wie kommt dieser Humor zustande? Welche Funktion hat er?

Zum einen bietet der Roman eine witzige Wissenschaftssatire: Geschildert wird ein (vermeintlich?) triumphaler Auftritt des Protagonisten an einem Mykologenkongress in Lodz, dem allerdings ein fundamentales Missverständnis zugrunde liegt. Zum anderen enthält er eine saftige, teilweise geradezu slapstickartige Parodie auf den Literaturbetrieb. Aber Hauptgegenstand des humoristischen Geschehens ist der Protagonist selber. Für Lukas Linder geht es in diesem Buch, wie er im Gespräch sagte, um die Darstellung von Ferns «Sehnsucht nach dem richtigen Leben». Diese Sehnsucht sei allerdings so stark, dass Fern die Fähigkeit zu einer realistischen Selbsteinschätzung verliere. In dieser Diskrepanz zwischen realem und imaginiertem Selbst liege die Ursache für manche der witzigen Situationen, in die er gerät. Sie ist zugleich – als «Charakterschwäche» – Grund für die Sympathie, die der Erzähler, aber auch die Lesenden der Figur Anatol Fern entgegenbringen, denn diese Diskrepanz kennen wir alle.

So erklärt sich auch der Titel: «unvollendet» wird hier nicht als defizitärer Begriff verstanden; sondern es ist gerade das Unvollkommene, die Macke, der Klacks, eine manchmal bis ins Groteske reichende Verschrobenheit des Selbstverständnisses, die den Protagonisten menschlich erscheinen lassen. «Ein vollkommenes Leben wäre ein unmenschliches Leben», darin waren sich die beiden Gesprächspartner einig.

Mir sind nach der Lektüre der beiden Romane von Lukas Linder und dem Gespräch zwischen ihm und Thomas Strässle zwei literarische Reminiszenzen in den Sinn gekommen. Zum einen: Sind die beiden Texte nicht eine treffende Illustration von Ringelnatz› Diktum, wonach Humor der Knopf ist, der verhindert, dass einem der Kragen platzt? Und zum anderen scheinen mir Alfred von Aermel und Anatol Fern – die Protagonisten der beiden Romane – einen Bruder im Geiste zu haben, der vor genau 100 Jahren aus einer ähnlichen Erzählhaltung heraus beschrieben worden ist, und zwar in Italo Svevos grossartigem Roman Zeno Cosini.

Lukas Linder, Der Unvollendete, Zürich (Kein&Aber) 2020

Unser Team in Solothurn:
Hans-Rudolf Schärer

Ein Kreis schliesst sich: Nach 15 Jahren intensiver Auseinandersetzung mit Literatur in Schule und Hochschule und 25 Jahren Tätigkeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung hat er nach seiner Pensionierung neue Freiheiten gewonnen, um sich unter anderem wieder vermehrt mit Literatur zu befassen. Nun gilt wieder: Lesen ist Leben – Leben, das sich versteht und sich verständigt!