Kryptische Reise in die Vergangenheit

Draussen war es mittlerweile stockdunkel geworden und der eiskalte Wind liess einen vor Kälte erzittern, bis sich endlich die Tore des Grossmünsters öffneten. In die Krypta hinabgestiegen, setzte sich ein etwas modriger Geruch in der Nase fest, der vermutlich von der Feuchtigkeit herrührte. Die Zuschauer, von denen niemand seine Jacke ablegte, warteten bei Kerzenschein gebannt auf das, was auf sie zukommen wird.

Nach einer kurzen Einleitung begann die Lesung mit einem musikalischen Einstieg durch Lucas Niggli, der «gestern Abend noch in Venedig gespielt hatte». Der Schweizer Schlagzeuger und Komponist stand während der Lesung in einem Zwiegespräch mit Norbert Hummelts Lyrik. Der deutsche Dichter aus Berlin las aus seinem letzten Gedichtband Fegefeuer vor. Er führte die Zuhörer durch Kindheitserinnerungen und erzählte von Glück und Erlösung. Obwohl es teilweise schwierig war, sich auf die einzelnen Worte zu konzentrieren und den Sinn der Gedichte zu erschliessen, lauschte man gerne den sorgfältig ausgewählten Zeilen und den bedachten Einsätzen Nigglis. Immer wieder gelang es ihm, mit unheimlichen und aussergewöhnlichen Klängen Gänsehaut zu erzeugen und Melodien zu spielen, die wie Gelächter aus der Hölle klangen und einem kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen liessen.

So lebte die Lesung von Hummelt eindeutig von der einzigartigen Atmosphäre, von der sie umgeben war. Die Krypta des Grossmünsters mit ihren zahlreichen Wölbungen und Säulen bot mit ihrer interessanten Architektur und der Kälte eine ganz besondere Stimmung, die den Abend prägen sollte. Nur von Kerzenschein beleuchtet, bildeten sich an den Wänden unheimliche Schatten, die sich im Rhythmus des Schlagzeuges an den Säulen entlangschlängelten und die Hummelts Dichtung zum Leben erweckten. Dabei sassen die Zuhörer neben den alten Gräbern der Stadtheiligen. Und wo könnte man Zürcherischer lesen als in der Krypta des Grossmünsters, dem ältesten Teil der Kirche in der Altstadt von Zürich, neben fast unsichtbaren Wandmalereien der Stadtpatrone Felix und Regula.

Malerei, Musik und die Ermordung des Commendatore

Zürich liest schenkt dem Übersetzen die Beachtung, die es verdient. Gestern Abend sprach die renommierte literarische Übersetzerin Ursula Gräfe über die Fallstricke, Probleme und Freuden, die das Übersetzen von Haruki Murakamis zweibändigem Roman Die Ermordung des Commendatore mit sich bringt. Die Agentur des Autors gestattete freilich keine öffentliche Lesung aus dem Original – was zu verschmerzen war. Verstanden hätten es vermutlich ohnehin nur die wenigsten.

Ursula Gräfe sitzt bereits eine Viertelstunde vor Beginn in ihrem Sessel. Sie schaut neugierig ins Publikum, wir schauen neugierig zurück. Allen – inklusive Gräfe selbst – scheinen voll Begeisterung auf das zu warten, was der Abend bringen wird. Die Lichter werden abgeblendet, Applaus setzt ein. Jetzt geht’s los.

Gräfe gibt eine kurze Zusammenfassung des Künstlerromans, der Malerei, Musik und Literatur miteinander verknüpft. Im Zentrum steht ein typischer Murakami-Charakter: ein Porträtmaler, 36 Jahre alt, zufrieden mit seinem Leben – bis seine Frau ihn verlässt und er keine Unterkunft mehr hat. Ein Freund biete ihm daher das ehemalige Haus seines Vaters an, der auch ein Maler war. Dort vernimmt der neue Gast zunächst seltsame Geräusche, wird fortan dann immer tiefer in die Mysterien dieses Ortes hineingezogen und stösst schlussendlich auf ein Bild des alten Malers mit dem Titel «Die Ermordung des Commendatore». Gräfe führt aus, dass es sich bei diesen Schauerelementen nicht allein um eine besondere Spielart des magischen Realismus handle, sondern dass sich diese sich auch der japanischen Erzählkultur verdanken, auf der Murakami stilistisch aufbaut. Freilich zeichne sich dieser Stil durch seine Deutlichkeit aus, er sei gleichwohl nicht oberflächlich oder gar ungebildet. So sei das Sujet des Romans bei genauer Betrachtung mit dem literarischen Topos Don Giovannis verbunden, der ebenfalls einen alten Commendatore ersteche.

Die Klarheit von Murakamis Stil komme der Aufgabe der Übersetzerin natürlich sehr entgegen, so Gräfe, mache es aber zugleich zu einem Gebot, seine Texte in der Übersetzung nicht zu salopp klingen zu lassen. Die erhitzten Diskussionen, die sich über solchen Fragen entwickeln können, verdeutlicht Gräfe anhand eines Einspielers aus dem Literarischen Quartett, das sich angesichts von Murakamis Roman Gefährliche Geliebte zu Kategorisierungen von «nicht literarisch anschaulich» und «literarisches Fastfood» bis hin zu «von ungewöhnlicher Zartheit» versteigt. Gräfe behauptet, dass in jeder dieser Einschätzungen eine Wahrheit zu finden sei, das verdanke sich dem hybriden Charakter von Murakamis Sprache. (Glücklicherweise handelte es sich in diesem Fall nicht um ihre eigene Übersetzung.) Interessant wird es im Falle einer Neu-Übersetzung, die Gräfe übernommen hat, nämlich die von Südlich der Grenze, westlich der Sonne. Im Unterschied zur alten Übersetzung, die sich von der amerikanischen Ausgabe ableitete, ist Gräfe vom japanischen Original ausgegangen: Die japanische und die deutsche Sprache erschienen ihr näher zueinander zu stehen als die englische. Freilich liest sie andere, bereits erschienene Übersetzungen ebenfalls auch immer parallel.

Eine «Verdeutschung» des Romans sei dabei naturgemäss nicht zu umgehen, «gelungen» sei eine Übersetzung jedoch dann – so Gräfe auf meine Frage hin -, wenn die deutschen LeserInnen das gleiche Gefühl beim Lesen vermittelt bekämen wie die japanischen. Bisweilen wird das nur durch Kompensationsleistungen möglich: Vielleicht geht irgendwo etwas verloren, vielleicht wird irgendwo anders etwas gewonnen. Zum Schluss merkt Gräfe noch an, dass sie beim Übersetzen die gleiche Erfahrung wie die späteren LeserInnen machen möchte; deswegen lese sie das Buch nicht erst einmal durch, sondern fange einfach von vorne an.

Insgesamt war dies eine eindrucksvolle, zukunftsträchtige Veranstaltung, die zurecht mit viel Applaus bedacht wurde. Möge man der Kreativität der ÜbersetzerInnen auch in Zukunft in Zürich die Beachtung schenken, die sie verdient.

Boot, Grotte, Kind

Beim diesjährigen Wettbewerb in Klagenfurt wurde Anna Sterns Text als vage beschrieben, als ambivalent und rätselhaft – dieser Eindruck bestätigt sich auch bei ihrer Lesung in der Winterthurer Coalmine. Das Ambivalente, die Scheu vor der Festlegung ist aber nicht nur Attitüde; es ist das ästhetische Strukturprinzip. In der ersten Geschichte, die Stern dem Publikum heute vorträgt, wird ein Kind, Auslöser eines tragischen Konflikts, nur «le fantome» genannt, im Anschluss verschwindet ein weiteres in den Fluten. Insbesondere das Wasser, das in ihren Texten eine wesentliche Metapher darstellt, spiegelt Sterns distanzierte Erzählhaltung wieder. Für sie, sagt Stern im Anschluss an die Lesung, «symbolisiert das Wasser die Unberechenbarkeit der Natur» – die Ehrfurcht vor dieser Unberechenbarkeit konstituiert auch die Figuren, die Geschichten, die Sprache. Im Eindeutigen ist «kein Raum für Deutung» – den findet Stern nur im Uneindeutigen. Dort setzt ihr Schreiben an, und dort setzt es auch ab. Wie sich das Wasser aus sich heraus von nichts abgrenzt und urplötzlich selbst künstlich gesetzte Grenzen übersteigt, so ist auch in Anna Sterns Texten nichts klar voneinander abgegrenzt. Alles geht ineinander über; Menschen in Orte und Orte in Menschen, die Zeit in den Raum, die Vergangenheit in die Zukunft. Die Sprache ist dabei weder Ufer noch Damm, sondern das Boot, mit dem Anna Stern auf den Wassern ihrer Geschichten ins Ungewisse schippert.

Wer sich in der Literatur mit dem Fassbaren konfrontieren will, wird diese Form der erzählerischen Annäherung und Umkreisung als unentschlossen empfinden – lässt man sich aber auf das Aufbrandende und Abebbende, auf das dauernde Fliessen als Modus Operandi des Erzählens ein, erkennt man, mit welcher formalen Entschlossenheit die Autorin hier der Textur des Ungewissen nachforscht, mit welcher Bestimmtheit sie vom Unbestimmten erzählt.

Ein Eindruck, den man von Anna Stern selbst kaum gewinnt. Fast in sich gesunken, die Hände im Schoss gefaltet, die Beine sanft gekreuzt, sitzt sie auf einem Holzstuhl an einem kleinen Tisch. Hinter ihr leuchtende Deckenlampen, die wie weisse Koffer aussehen. In ihrem Rücken, links und rechts, zwei Türen, darüber grüne Notausgangsschilder. Davor ein eher gesetztes Publikum und, vielleicht noch bedrohlicher, das wandhohe und –lange Bücherregal, der Suhrkamp-Wall des Coalmine. Aber dann fängt sie an zu lesen, die Füsse stehen plötzlich nebeneinander auf dem Boden, und mit einem Mal wirkt sie ganz bei sich, durchaus nicht eingeschüchtert, scheint sich in der eigenen Geschichte wohlzufühlen. Dort geht sie auf, und das Publikum geht mit. Der aufrichtige und anhaltende Applaus nach der Lesung bestätigt: Auch zum Vagen kann man sich frenetisch bekennen.

Ein Leuchtturm im Kinderbuchmeer

Es kam mir vor wie damals in der Schule: Wenige Minuten vor Beginn füllte sich der Raum mit den Kindern. Dabei handelte es sich mehrheitlich um Schüler*innen der 6. Klasse aus der Zürcher Schule Chriesiweg. Die Mädchen und Jungen bildeten zusammen mit erwachsenen Kinder- und Jugendliteraturexperten die Fachjury, welche die Shortlist aus einer Auswahl von 40 Büchern zusammenstellte und vor kurzem nun die Gewinnerin des Preises kürte: Kirsten Boie mit Ein Sommer in Sommerby.

Die Bestsellerautorin ist eine Koryphäe in der Kinder- und Jugendbuchszene und hat bereits über 100 Bücher veröffentlicht – und war heute zum ersten Mal überhaupt in Zürich, wie sie vor ihrer Lesung verriet. In ihrem neusten Buch erzählt die Norddeutsche von drei Stadtkindern, die notgedrungen einen Sommer bei ihrer Oma in der Abgelegenheit verbringen müssen. Martha, die Älteste von den dreien, muss schon bald mit Schrecken feststellen: Hier gibt es weder WLAN, noch Internet, geschweige denn Handy- oder Festnetz. Und auch die Grossmutter ist vom Überraschungsbesuch vorerst nicht wirklich angetan. Wie das wohl herauskommen wird?

Vor der eigentlichen Preisverleihung sprach Ulrike Allmann, Vorsteherin der Fachstelle Bibliotheken der Bildungsdirektion Kanton Zürich, zu Klein und Gross im Publikum. Der Zürcher Kinderbuchpreis sei ein Indikator für wertvolle Kinderliteratur und böte Orientierung im dichten Kinderbuchmarkt für Eltern oder Lehrer*innen, die gerne vorlesen würden, aber nicht wissen, was. Somit ist der Preis auch ein Instrument der Leseförderung. Neueste Studien haben nämlich gezeigt, dass das Vorlesen – und zwar idealerweise ab dem dritten Monat bis zur Ende der Primarstufe – positive Auswirkungen auf die Lesekompetenz habe.

Während die Autorin aus ihrem Buch vorlas, dachte ich mir: Eigentlich könnte man die Vorlese-Altersgrenze auch auf 25 Jahre erhöhen.

Prost! oder besser gesagt: Amen.

„Gofferdammi gofferdammi  Härdöpfeli! Mäntig: Härdöpfeli. Zischtig: Härdöpfeli. Mittwuch: Härdöpfeli… Gofferdammi gofferdammi Härdöpfeli!“ rapt eine Kinderstimme aus den Lautsprechern im gut gefüllten Raum des JULL (Junges Literaturlabor) an der Bärengasse. Hier gibts keine Bären, dafür eine ganze Horde Kinder aus vier verschiedenen Schulhäusern der Stadt Zürich.

Zuerst stehen die Jüngsten auf der Bühne, die Schüler aus dem Schulhaus Schanzengraben. Sie bringen das Publikum mit ihren im Botanischen Garten geschriebenen Texten aus „Löwenmaul und Augentrost packen aus“ zum Lachen. In den Monologen stellen sich die Eselsgurke, das Sommerblutströpfchen, der Mönchspfeffer, der Narcissus Poeticus und viele weitere Pflanzen vor. Der Narcissus mag seinen Namen nicht, es gäbe keinen Namen, der seine Schönheit beschreibe. Er findet es auch unangebracht, dass der hässliche Stadtvogel seine Blätter als Klo benutzt. Der Huflattich unterbricht ihn: „Ich bin ja nur ein gewöhnlicher Huflattich, aber du bist ein arrogantes, aufgeblasenes Schwein!“ Spätestens als der kleinste Junge der Gruppe, der verzweifelt sein Notizblatt gesucht und sich dafür theatralisch entschuldigt hat, mit weit aufgerissenen Augen seinen Einwurf bringt, prusten alle los. „Der Gärtner kommt mit dem Kuhmist und sagt: Du musst wachsen, du musst wachsen! So ein Mist!“.

Auch die nächste Klasse überzeugt mit frischen Texten, was in Anbetracht des Themas erstaunt. Sie haben sich nämlich im Rahmen des Reformationsjubiläums mit Zwingli und seinem Herz befasst. Ihre Texte kreisen mutig um die blutige Schlacht bei Kappel um 1531, bei der angeblicherweise Zwinglis Herz gefunden wurde. Eine Schülerin wolle noch zum FCZ Match heute, deshalb machen sie jetzt ohne grosse Reden dazwischen weiter, meint Richard Reich mit verständnisvoller Miene, der die Schüler beim Schreiben und auch heute Abend begleitet. Es geht also zügig los, der spanische Ritter schwingt schon das Schwert und ruft: „Zwingli olé, Zwingli hola!“ Der Ritter Joachim will Zwingli das Herz aus der Brust herausreissen. Das Herz schlägt – toc toc, toc toc – und rollt schlussendlich zum toten Zwingli zurück. Der Held im Hintergrund bringt die schönste Zeile: „Prost! oder besser gesagt: Amen.“

Die Reformation geht weiter mit Gion Mathias Caveltys Schützlingen aus dem Gymi Unterstrass. „Viel Spass!“, wünscht Cavelty dem Publikum. „Falls man das Protestanten wünschen darf.“ Hier ist er der Star und die Schüler altersbedingt schon nicht mehr ganz so frei und wild wie die von vorher. Ihre Texte tragen ernste Namen wie „Die Hexenjagd“ oder „Das Schicksal der Überlebenden“.

Zum Schluss tritt die Klasse vom Schulhaus Feld auf. Sie lesen ihren mit Suzanne Zahnd vorbereiteten Text über die Liebe und darüber, wie Mathe und Musik zu beherrschen einem das Leben erleichtert, da es Sprachen sind, die alle verstehen.

Ein Special Guest wird noch angekündigt, gleich aber wieder abgesagt – er sei beim Zahnarzt. Hier brauchte aber auch gar keiner einen Special Guest, die Kinder waren genug special und ihre Texte teils wirklich herrlich.

Zwei Philosophen im Schnee auf dem Dachstock der Mühle

Wenn Arno Camenisch zu lesen beginnt, ist alle Aufmerksamkeit bei ihm. Nicht nur wegen des berüchtigten „Camenisch-Sounds“, auch sein intensiver Blick in die Zuschauerreihen zieht einem in den Bann.

Unterstützt von Roman Nowka an der E-Gitarre, trägt der Bündner Schriftsteller sein neustes Werk „Der letzte Schnee“ im gemütlichen Dachstock der Oberen Mühle in Dübendorf vor und erweckt seine Figuren zum Leben. Der Roman erzählt von einem kleinen Bügellift in den Bündner Bergen. Dort arbeiten tagein, tagaus Paul und Georg und warten auf den Schnee, die Skifahrer und das Vergehen der Zeit. Dabei fabulieren sie über die Vergangenheit, den Klimawandel und das Leben. Und wenn Camenisch erzählt, klingt es wirklich, als wären die beiden am Nabel der Welt. Auf sein Buch schaut Camenisch nur um zu blättern, den Rest rezitiert er frei – ich bin beeindruckt. Da ist ihm auch verziehen, dass er einmal kurz den Faden verliert. Auch weil er dabei so nett über sich selber lachen kann.

Die Lesung ist immer wieder gespickt mit eigenen kleinen Anekdoten und untermalt von den Lachern aus dem Publikum. Als Zugabe gibt es noch einige mehrsprachige Spoken Word-Texte zu hören. Dabei erfahren wir auch gerade noch, was Camenisch im letzten Jahr gelernt hat – unter anderem, dass Omeletten mit Konfi was Gutes sind und dass Kühe ihren Darm besser entleeren können, wenn es regnet. Wieder was gelernt.

Aus dem Tagebuch eines Aschehäufchens

Es dunkelte schon themengerecht ein, als wir beim Friedhof Sihlfeld ankamen. Vor allem die Männertoilette war alles andere als einladend. Eine steile, enge Treppe führte hinab zu einem Raum, der durch neonblaues Licht erleuchtet war. Erinnerte an einen Horrorfilm, nun war ich auf jeden Fall so richtig eingestimmt für die Lesung im Friedhof-Forum, das sich direkt unter der Erde befindet.

Der Kellerraum war restlos gefüllt. Die Leute beschäftigten sich gerne mit dem Makaberen, das sei ein Bedürfnis, sagte mir Christine Süssmann, seit 2012 verantwortlich für Kultur und Kommunikation im Friedhof-Forum der Stadt Zürich. Heute lud das Forum zur Lesung mit der Schweizer Autorin Isabel Morf, inklusive musikalischer Begleitung durch Beat de Roche an der Emmenthaler Halszither. Das Instrument ist notabene für traditionelle Ländlermusik konzipiert, der Musiker gefiel heute aber durch Adaptionen von Kurt Weils Moritat von Mackie Messer, dem Godfather-Thema oder Nancy Sinatras „Bang, Bang“.

Ab der ersten Minute war klar, dass es hier nicht darum ging, dem Publikum einen Schrecken einzujagen. Der Fokus lag viel mehr auf Galgenhumor und Amüsement, jedoch mit der richtigen Prise Ernsthaftigkeit, die beim Tod immer mitschwingt.

Item, die Autorin hatte zwei unveröffentlichte Friedhofsstorys im Köcher und trug sie mit viel dramaturgischem Gespür vor. In beiden Kurzerzählungen ging es um Familienfehden, Geld und Rache. Das erstaunt eigentlich nicht weiter. Die zweite Geschichte war an Originalität aber kaum zu überbieten und spielte nicht auf, sondern unter der Erde: Ein Aschehäufchen in einer Urne, einst ein kräftig gebauter Schreiner, sinniert darüber, wie er sich an seiner Ex-Frau/Witwe rächen kann, weil sie ihn wegen des lieben Geldes hinterrücks ermordete. Die Moral der beiden Geschichten mit vielen unerwarteten Wendungen: «Alles kommt zurück im Leben».

Und so war es dann doch eine sehr lebendige Veranstaltung an einem Ort, der eigentlich anderes vermuten lässt.

 

Der Bünzli spinnt auch

Dass ich überhaupt noch eine Karte für meinen spontanen Besuch beim Starautor Philippe Djian ergattern konnte, hatte mich überrascht. Noch überraschender gab dann dreimal so viele leere Plätze wie ich Minuten zu spät kam, nachdem ich fast noch im Cevi-Raum des riesigen Glockenhaus gelandet wäre. Gerade noch rechtzeitig zur ersten Frage der Moderatorin Ursula Bähler erreicht ich dann aber doch noch die riesige Turnhalle. Für viele Personen, so Bähler, stelle er, der bekannte Kultautor, nämlich ein mythisches Universum dar.  Ob er sich dessen bewusst sei?

«J’espère que j’ai un univers!», gibt Djian schmunzelnd zur Antwort. Er hoffe, dass er ein Universum habe – wie alle Menschen, fügt er hinzu. Ob er ein Kultautor sei, wisse er nicht, aber das sei für ihn auch gar nicht wichtig. Er fände es wichtiger, über den Platz der Literatur nachzudenken und über den der Schriftsteller, fasst Bähler etwas eckig den runden Bogen zusammen, den Dijon vom Universum über die Rolle des Autors in unserer Gesellschaft bis zu Situationen von «amour, passion et haine» geschlagen hatte.

«Ce n’était pas la meilleure chose à faire.» Der erste vorgelesene Satz aus seinem Roman Marlène lässt das Publikum aufhorchen, ein wohlwollendes, fast schnaubendes Kichern ist zu hören. Nun sind alle gespannt auf die Geschichte. Dijan liest weiter, vom «regard indifférent» einer seiner Hauptfiguren des Buches, deren Blick er wohl übernommen hat (oder umgekehrt). Die Sätze zeugen von einer feinen Alltagspoetik, der Inhalt tritt sympathisch in den Hintergrund.

Dass es ihm nicht um den Inhalt ginge, sagt Dijan gerne und immer wieder. Ihn interessiere auch nicht, wo oder wann genau die Geschichte stattfinde, vielmehr sei es ihm darum zu tun, seine Welt zu schreiben. Der Stil müsse sich dann dieser Welt anpassen. Nicht die Situationen seien dabei «extraordinaires», sondern die Figuren, welche die alltäglichen Situationen erst speziell erscheinen liessen. So auch die beiden Hauptfiguren des Romans, Dan und Richard, zwei befreundete Kriegsveteranen, die nach Hause zurückkehren und sich wieder im Leben zurechtfinden müssen. Die Geschichte handle nicht von zwei «frères d’armes», die der Krieg vereint hat, betont Dijan, sondern schlichtweg von zwei Freunden, die es schon früher waren und auch geblieben sind. Und dann kam der Krieg dazwischen.

Es gebe genau zwei Arten, mit der Heimkehrsituation umzugehen: Entweder man versuche, sich irgendwie anzupassen – «où bien on s’en fiche», man pfeift drauf. Die zwei Figuren entscheiden sich jeweils für eine Option. Einer der Freunde versucht, normal zu sein und sich wieder zu integrieren. Der andere nicht.

«Doch was ist schon normal», fragt Dijan. Die Normalität sei ein Gefängnis und der, der sich anpasse, sei in der Normalität gefangen. Der Nachbar, eine nicht zu unterschätzende Nebenfigur in Dijans Roman, sei genau solch ein Insasse. «Ein Bünzli», bringt Bähler uns Schweizern die Figur näher. Interessanter scheint da natürlich das Unangepasste, Verrückte. Die «folie» erscheint in Marlène als eine treibende Kraft – wenngleich Dijan auf Nachfrage die Unterstellung zurückweist, die Titelheldin selbst sei in gewissem Masse eine Verrückte.

Um die Grenze zwischen Normalität und Verrücktheit, zwischen Leben und Tod kreist das Gespräch fortan. An Tiefe gewinnt die Debatte, als Schauspieler Jürg Plüss aus Norma Cassaus Übersetzung  zu lesen beginnt. Zur Sprache kommt die «scheiss posttraumatische Störung», die eine der Frauen an ihrem Mann beklagt und daraufhin zugibt, dass, wenn es trotzdem noch etwas gäbe, das sie an ihm liebe, es seine Stimme sei.

Plüss hat ganz gewiss solch eine Stimme. Doch die Realität ist schnell wieder präsent: «Um ein Bürger wie alle anderen zu werden, genügt es nicht, seinen Müll zu trennen.» Das verstehen wir alle, die wir immer wieder stolz unser schön aufgestapeltes und wie ein Päckli zugeschnürtes Altpapier-Bündel an die Strasse stellen, nur um im nächsten Moment vom Gefühl heimgesucht zu werden, dass das doch nicht genügen könne, um dazuzugehören. «Pour vivre une certaine normalité, est-ce qu’il ne faut pas être dingue?» Der Bünzli-Nachbar spinnt also auch, halt auf seine Art. Normal ist nicht unbedingt normal und wir sehen die Welt sowieso nicht alle auf die gleiche Art und Weise. Das ist gut so, findet Djian – und erzählt die Geschichte seiner verrückt normalen, normal verrückten Welt weiter.

<< Food save statt Food waste >>

Im Verlag rüffer & rub, nah am Zürichsee gelegen, spricht Anne Rüffer mit Claudia Graf-Grossmann über das Buch «Über Reste und zu Taten». Auch eingeladen zum Gespräch wurde Lukas Bühler. Er ist Mitgründer von «Zum guten Heinrich», welche sich für Nachhaltigkeit in der Gastronomie einsetzen. Und genau das ist die Schnittstelle, die Claudia Graf-Grossmann und Lukas Bühler verbindet. Graf-Grossmann schrieb in ihrem Buch beispielsweise darüber, warum optisch nicht einwandfreies Gemüse weggeworfen wird und welche Lebensmittel überhaupt von den Bauern in die Einkaufsläden gelangen. Dabei wird betont, dass dieses Gemüse trotz des unterdurchschnittlichen Aussehens genau dieselben Nährwerte aufweist wie makelloses Gemüse. Also warum wollen Konsumenten dieses Gemüse nicht kaufen?

Lukas Bühler setzt genau das im «Zum guten Heinrich» um. Er nimmt dieses Gemüse den Bauern ab und verarbeitet es. Dadurch sichert er das Gemüse vor dem Abfall.

Auch wenn «Zum guten Heinrich» vegetarisch und vegan ist, verweist Lukas Bühler darauf, dass man auch Suppenhühner hervorragend verarbeiten kann. Diese Hühner werden nur für das Legen der Eier gehalten und nicht für den kommerziellen Verkauf. Doch Suppenhühner sind meistens besser zu verarbeiten als die hochgezüchteten Hühner aus der Massentierhaltung, welche nur für den Verzehr gezüchtet werden und dadurch mit Antibiotika versorgt werden. Um dies nicht zu unterstützen, solle man lokal einkaufen und auf das Bio-Siegel achten.

Doch ist Bio nicht zu teuer? Nein, denn eine 4-köpfige Familie wirft im Jahr Lebensmittel weg, die eine Summe von 2000 Franken betragen. Vermeidet man diese Verschwendung, so kann man sich ohne Probleme auch Biolebensmittel leisten.

Außerdem wird darauf hingewiesen, dass ein Mindesthaltbarkeitsdatum nicht gleichzusetzen ist mit dem realen Ablaufdatum der Lebensmittel. Claudia Graf-Grossmann erläutert, dass die Lebensmittelhersteller das Datum sehr vorsichtig wählen, um auf Nummer sicher zu gehen. Gerade nach Lebensmittelskandalen wie dem BSE-Skandal, ist man vorsichtiger geworden. Also sollte man an den Lebensmitteln riechen und schmecken, wenn sie das Datum erreicht haben. Oft sind sie auch noch lange nach dem Ablaufdatum genießbar.

Und wie können wir Lebensmittel sichern anstatt diese zu verschwenden?

Beide geben ein paar Tipps zur Umsetzung im Alltag:

Schreiben Sie eine Einkaufsliste und vergewissern Sie sich, dass diese Lebensmittel nicht mehr zu Hause vorrätig sind. Kaufen Sie lokal und saisonal ein. Bestenfalls bei einem Bauern aus ihrer näheren Umgebung und entwickeln Sie Ideen, um Lebensmittel zu verarbeiten, wenn sie doch mal übriggeblieben sind. Aus übrigem Gemüse und Nudeln kann man einen tollen Auflauf zaubern. Der Auflauf wird super schmecken und Lebensmittel vor dem Wegwerfen retten.

Auch nach Ende der Diskussion denke ich weiter über das Thema nach. Es beschäftigt mich noch eine Weile und ich nehme mir vor, mehr Lebensmittel zu retten. Jedenfalls werde ich nun auch optisch nicht einwandfreies Gemüse oder Obst kaufen und mich von dem Gedanken verabschieden, dass Lebensmittel immer perfekt aussehen müssen.

Auf Augenhöhe mit der Autorenfotografin Ayse Yavas

Seit 20 Jahren fotografiert Ayse Yavas Autorinnen und Autoren. Von A wie Nadj Abonji über B wie Bichsel und H wie Hohler zu S wie Stamm und Z wie Zweifel hatte sie alle vor ihrer Kamera und ist somit DIE Autoren-Fotografin der Schweizer Literaturszene. Oder, wie es Festivalleiter Martin Walker treffend formuliert: «Ich persönlich bin der Meinung, dass man Bücher schreiben kann und die auch in renommierten Verlagen veröffentlichen kann – aber Schriftsteller ist man erst, wenn man von Ayse fotografiert wurde.»

Fotografiert wurde von ihr auch Judith Keller, die bei Ayse Yavas Vernissage der Ausstellung einer Auswahl an Autorenporträts im Festivalzentrum anwesend war. Sie erzählt, wie schön es sei mit Ayse zusammenzuarbeiten und wie angenehm das Shooting verlaufen ist, da sie dabei nicht mal gemerkt hat, dass sie überhaupt fotografiert wurde, weil die Bilder in einer vertrauten Atmosphäre entstanden sind, wo oft mehr gesprochen als fotografiert wurde.

Diese personenbezogene Herangehensweise zeichnet auch Yavas Stil aus. Ihr geht es nicht nur um den Kopf und darum ein Bild zu bekommen. Sie interessiert sich wirklich für den Menschen dahinter, und möchte ihn auch richtig wahrnehmen können. Das Fotografieren sei dabei ein gegenseitiges Beobachten und auch eine Begegnung auf Augenhöhe.

In den 20 Jahren, in denen Ayse Yavas ihren Beruf als Autorenfotografin ausübt, hat sich nach ihrem Empfinden vieles im Literaturmarkt verändert. Die literarische Gegenwart drängt immer mehr zum Bild – und das Autorenfoto ist präsenter denn je. Gerade bei den jungen Autorinnen und Autoren, den im visuellen Zeitalter Geborenen also, sei eine Veränderung zu beobachten, konstatiert Yavas. Diese junge Generation lässt sich viel lieber fotografieren, da sie es auch gewohnt sei, sich darzustellen und zu inszenieren.

Dazu merkt Keller jedoch an, dass sie sich nicht überlegt, wie ihr Bild am Ende aussehen soll. Wenn man von Yavas fotografiert wird, kann man diese Entscheidung vollends aus der Hand geben – wodurch die Bilder dadurch auf eine für sie überraschende Weise erfrischend natürlich werden.

Am Ende der Veranstaltung im Karl liest Keller noch einige Texte vor und signiert ihren Erstling Die Fragwürdigen. Fragwürdig bleibt dabei nur eines: Was lebt länger: die Texte – oder die Bilder, die uns die Schriftsteller hinterlassen?