«Ein Drittel NZZ»

Die Bibliothek der Museumsgesellschaft am Limmatquai hortet seit 1834, was Zürichs Bildungsbürgertum liest. In die öffentliche Studierstube mit dem exquisiten Fensterblick und dem noch heute erahnbaren Flair eines Gentlemen‘s Club zog es schon Keller, Joyce, Lenin und Trotzki – ihre Benutzerausweise kursieren heute Nachmittag unter den Besuchern, kommentiert von Bibliotheksleiterin Mirjam Schreiber: «Wir wissen nicht genau, was James Joyce bei uns gemacht hat, aber wir sagen immer, er habe hier den Ulysses geschrieben.»

Die Raritäten, die Schreiber liebevoll mit Anekdoten spickt, umfassen Erstausgaben, Kuriositäten aus dem Schriftverkehr oder das Desiderienbuch für die Leserschaft, das auch mal eine virulente Debatte um die Anschaffung des «Blicks» vor sechzig Jahren dokumentiert. Beschwerden über die Beleuchtung des Lesesaals erhellen die Lebensverhältnisse der bibliophilen – und bereits ebenso eloquent-nörgeligen – Vorgängergenerationen: auf den Gestank der Talgkerzen und die unerträgliche Hitze der Gaslampen folgt der unzumutbare Lärm der Stromgeneratoren, die die ersten Glühbirnen speisen.

Versammlungsort für die Führungsbesucher ist das Debattierzimmer im dritten Stock. Auf den Wandvitrinen stehen ästhetisch verfeinerte Aschenbecher mit Schildchen, die ich zunächst für einen Teil der historischen Reliquien halte – tatsächlich darf hier aber diskutiert, gegessen, geraucht werden. Da weht er noch, der liberale Geist der 1830er Jahre, einer Zeit des Aufbruchs, der Verfassungsänderungen, der Zensuraufhebung für Zeitungen. Gut siebzig Jahre später werden sogar eine Frau und drei Fräuleins in der Leserschaft verbucht, darunter die «erste Schwimmerin Zürichs».

Nach der Einführung flüstern wir durch den Lesesaal, schlängeln in Einerkolonnen vorbei am altehrwürdigen Bücherbestand im Keller. Dass diese Lesegesellschaft als eine von wenigen in der Schweiz noch heute existiert, im Jahr 1999 sogar um das Literaturhaus erweitert werden konnte, verdankt sie auch der vorteilhaften Lage. Miete zu bezahlen wäre hier unmöglich, dank der Geschäfte im Erdgeschoss finanziert sie sich zu guten Teilen selbst. Auch die Mitgliederbeiträge sind annehmbar – falls man zum kulturellen one percent Zürichs gehören möchte, kostet das laut Mirjam Schreiber pro Jahr gerade mal «ein Drittel NZZ». Und die Mitglieder sind treu: «Gottfried Keller ist 1846 beigetreten», hier hält sie andächtig inne, «und als Mitglied gestorben». Ein Angebot, das man nach dieser Inaugenscheinnahme kaum ausschlagen kann.

Literatur als Erkältungsbad

Literatur ist eine einsame Angelegenheit, für den Schreibenden wie für den Lesenden. Dennoch weist sie eine soziale Komponente auf, die ebenso wesentlich ist: das Sprechen über sie, das die Leseerfahrung vertieft und – Stichwort Mundpropaganda – ihren Wirkungskreis erweitert. Dieser charmante Vorsatz motiviert am frühen Samstagabend das Blogteam des Schweizer Buchjahrs zur Frage: Wer sitzt da eigentlich auf der Shortlist des Buchpreises? Die Diskussion, geführt von den Studentinnen Selina Widmer und Shantala Hummler, begleitet und eingehegt vom bewährten Kritiker-Duo Steisohn, findet im weiträumigen Ambiente der Kunsthalle statt. «Die Hochhausspringerin», das Debüt der promovierten Filmwissenschaftlerin Julia von Lucadou, spaltet die Runde gleich zu Beginn: Sieht Selina Widmer in der üppigen Metaphorik eine Stärke des Romans, die allerdings auch den Suspense der Geschichte blockiert, und hebt Shantala Hummler die Triftigkeit mancher Details hervor, hält Theisohn dagegen: Zwar sei der Topos der Transparenz eine literarische Mode und der Roman eine Art Schössling von Dave Eggers «The Circle», gleichwohl findet er: «Transparenz macht nur Sinn, wenn es auch etwas zu zeigen gibt.»

Der zweite besprochene Roman, «Die Überwindung der Schwerkraft», Heinz Helles Drittling, ruft dagegen nur wenig Einwände hervor. Zwar erweist sich Hummler als kenntnisreiche Cover-Kritikerin (die Gestaltung des Helle-Romans gelinge mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms «in ein paar Minuten») – inhaltlich und sprachlich ist die Runde durchweg angetan. Theisohn etabliert ein Drei-Stufen-Modell für Helles bisheriges Werk: Erstling «missraten», Nachfolger «solide», vom dritten nun ist er endlich «überzeugt». Steier erläutert die Parallele zu Bärfuss: Der abwesende Koala ist hier der tote Bruder des Erzählers und repräsentiert die Epoche vor den digital natives, stirbt ohne Smartphone, iPad usw: «Das ist noch alte Schule», bilanziert er. Der Roman, finden alle Anwesenden, sei zwar kein «Stream of Consciousness», aber durchgeplaudert, ein Suff-Talk jammernder Männer über die Schrecken des 20. Jahrhunderts («Das 21. Jahrhundert hat ihn nicht so fertiggemacht»).

Auch das dritte besprochene Buch ist ein Debüt-Roman: «Hier ist noch alles möglich», von Gianna Molinari. Hummler stellt den Roman um eine junge Frau und einen Wolf sehr detailliert vor, der in der Tendenz eine eher positive Resonanz erfährt. Durchweg Anerkennung findet Vincenzo Todiscos Roman «Das Eidechsenkind». Todisco, der bislang nur auf Italienisch publiziert hat, schreibt hier erstmals in deutscher Sprache eine, wenn man so will, Secondo-Geschichte. Theisohn beweist seine Marvelisierung, indem er zum «Eidechsenkind» flugs Spiderman assoziiert, Shantala Hummler wiederum erkennt eine vor allem poetologische Nähe Melinda Nadj Abonjis «Schildkrötensoldat». In Verbindung mit Molinaris «Wolf» macht die Vokabel der «Animalisierung» der Schweizer Literatur die Runde, die Theisohn, der sich zu diesem Thema selbst zitiert, mit einem Selbstkommentar beschliesst: «Isso.»

Zuletzt knöpfen sich die Fantastic Four auf der Bühne Peter Stamms neuen Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» vor. «Endlich traut er sich mal was», wird würdigend anerkannt, dennoch mündet das Gespräch in ein ernüchtertes Urteil: «Ein typischer Stamm.» Steier erkennt ein «Stimmungssfumato», «von Stamm durch die Fischerorgel gedreht», und Selina Widmer fragt vorsichtig, aber bestimmt: «Ich weiss nicht, wie es euch mit den Frauen ging, aber …» Ihr stossen die idolisierten Frauenfiguren Stamms auf. Die Runde nickt beifällig: Nach Theisohn fehle noch immer «die vulgäre, schlagkräftige Barfrau». Dennoch, lesen könne man das, schliesst Steier, das sei «Literatur als Erkältungsbad».

Fünf Bücher, vier Kritiker – das Missverhältnis erklärt sich durch den kurzfristigen Ausfall Tom Kummers, der der Gruppe, die sich in der Gemeinschaft vom Leiden an schlechter Literatur therapierte, sicher gut getan hätte. Es wurde ein Format, das trotz aller Freiheiten leider in erster Linie für Soliloquys genutzt wurde. Steier, der Barracuda im Aquarium des Schweizer Literaturbetriebs, der nie Luft zu holen scheint, münzte die eigene Lust am Parlieren elegant und selbstkritisch um in eine Deskription von Helles Roman («ein Redestrom wie jetzt meiner»), gelegentlich zärtlich unterbrochen von Philipp Theisohn («Ich will ja nicht stören, aber ..»). Ausgesprochen unterhaltsam, etwas mehr scripted reality käme der Veranstaltung aber doch zugute. Literatur muss nicht zwangsläufig in Einsamkeit münden, jedenfalls nicht für die Lesenden: Gegen Ende drängt Steier zur Bar, das Publikum beugt sich seiner auctoritas.

Boot, Grotte, Kind

Beim diesjährigen Wettbewerb in Klagenfurt wurde Anna Sterns Text als vage beschrieben, als ambivalent und rätselhaft – dieser Eindruck bestätigt sich auch bei ihrer Lesung in der Winterthurer Coalmine. Das Ambivalente, die Scheu vor der Festlegung ist aber nicht nur Attitüde; es ist das ästhetische Strukturprinzip. In der ersten Geschichte, die Stern dem Publikum heute vorträgt, wird ein Kind, Auslöser eines tragischen Konflikts, nur «le fantome» genannt, im Anschluss verschwindet ein weiteres in den Fluten. Insbesondere das Wasser, das in ihren Texten eine wesentliche Metapher darstellt, spiegelt Sterns distanzierte Erzählhaltung wieder. Für sie, sagt Stern im Anschluss an die Lesung, «symbolisiert das Wasser die Unberechenbarkeit der Natur» – die Ehrfurcht vor dieser Unberechenbarkeit konstituiert auch die Figuren, die Geschichten, die Sprache. Im Eindeutigen ist «kein Raum für Deutung» – den findet Stern nur im Uneindeutigen. Dort setzt ihr Schreiben an, und dort setzt es auch ab. Wie sich das Wasser aus sich heraus von nichts abgrenzt und urplötzlich selbst künstlich gesetzte Grenzen übersteigt, so ist auch in Anna Sterns Texten nichts klar voneinander abgegrenzt. Alles geht ineinander über; Menschen in Orte und Orte in Menschen, die Zeit in den Raum, die Vergangenheit in die Zukunft. Die Sprache ist dabei weder Ufer noch Damm, sondern das Boot, mit dem Anna Stern auf den Wassern ihrer Geschichten ins Ungewisse schippert.

Wer sich in der Literatur mit dem Fassbaren konfrontieren will, wird diese Form der erzählerischen Annäherung und Umkreisung als unentschlossen empfinden – lässt man sich aber auf das Aufbrandende und Abebbende, auf das dauernde Fliessen als Modus Operandi des Erzählens ein, erkennt man, mit welcher formalen Entschlossenheit die Autorin hier der Textur des Ungewissen nachforscht, mit welcher Bestimmtheit sie vom Unbestimmten erzählt.

Ein Eindruck, den man von Anna Stern selbst kaum gewinnt. Fast in sich gesunken, die Hände im Schoss gefaltet, die Beine sanft gekreuzt, sitzt sie auf einem Holzstuhl an einem kleinen Tisch. Hinter ihr leuchtende Deckenlampen, die wie weisse Koffer aussehen. In ihrem Rücken, links und rechts, zwei Türen, darüber grüne Notausgangsschilder. Davor ein eher gesetztes Publikum und, vielleicht noch bedrohlicher, das wandhohe und –lange Bücherregal, der Suhrkamp-Wall des Coalmine. Aber dann fängt sie an zu lesen, die Füsse stehen plötzlich nebeneinander auf dem Boden, und mit einem Mal wirkt sie ganz bei sich, durchaus nicht eingeschüchtert, scheint sich in der eigenen Geschichte wohlzufühlen. Dort geht sie auf, und das Publikum geht mit. Der aufrichtige und anhaltende Applaus nach der Lesung bestätigt: Auch zum Vagen kann man sich frenetisch bekennen.