Ein abgeschiedenes Zimmer in einem Schweizer Haus

Josefstrasse 106. Ein unscheinbarer Durchgang führt in den Hinterhof, rechts abbiegen… und hier ist es: das 1998 von Peter Brunner und Doris Aebi in der damaligen Kantine des Hauses gegründete sogar theater. Vor dem Eingang des mint-grünen Hauses inhaliert der eine oder die andere noch kurz eine Zigi  – oder bloss die nasskalte End-Oktoberluft? Es ist frisch hier draussen und das wohlig warme Interieur lockt – deshalb ab ins Innere zu Kosovë is everywhere.

Nach der donnerstäglichen Lesung von Dominic Oppliger im stockdunklen Raum mit Nachttischlampe (so bleibt auch das weisseste Notizbuch zwangsläufig leer..) nun schon zum zweiten Mal eine herzliche Begrüssung der Co-Leiterin Tamaris Mayer. Die Literaturveranstalterin Mayer, die von 2011 – 2015 zürich liest mitgegründet und aufgebaut hat und beim Luzerner Verlag Der gesunde Menschenversand  (spezialisiert auf Publikationen von Spoken Word und Bühnentexten) tätig ist, hat in diesem Sommer gemeinsam mit der Regisseurin Ursina Greuel die Verantwortung des beliebten Kleintheaters an der Josefstrasse 106 übernommen. Es ist der erste Leitungswechsel in seiner bereits 20-jährigen Geschichte! Eine Schande, dass ich als mehrjährige Kreis-5-Bewohnerin nicht schon früher den Weg hierhin gefunden habe, denk ich mir… Denn die Atmosphäre ist sehr laid-back und sympathisch, man fühlt sich sofort willkommen im sogar theater. Weder zu gross noch zu klein ist das Lokal, die hauseigene, offene Bar lädt nach der Vorstellung zum Diskutieren und Verweilen ein, und die mal leicht erhobene, mal gar nicht vorhandene Bühne sagt: hier will man Sprache nicht auf den Sockel stellen, sondern direkt und ohne Schnickschnack vermitteln.

Mit vier Autor*innen und einem Musiker ist das Spoken-Word-Ensemble Bern ist überall angereist, im Gepäck Ausschnitte aus ihrem neuesten Projekt Kosovë is everywhere. Ein Dialog zwischen der literarischen Welt des Kosovo und der Schweiz soll in Gang gebracht werden, kündigt das Programmheft an. Doch gelingt dies in der 75-minütigen Präsentation tatsächlich? Die einzeln, im Duo oder im lautstarken Chor vorgetragenen Texte von Antoine Jaccoud, Blerina Rogova Gaxha, Shpëtim Selmani und Ariane von Graffenried führen jedenfalls die Bandbreite aktuellen literarischen Schaffens in den Schweizer Landessprachen Französisch und (Schweizer-)deutsch sowie in Albanisch eindrücklich vor. Die fremdsprachigen Texte sind untertitelt, was vom Publikum ein aufmerksames Mitlesen- und hören erfordert. Oder man konzentriert sich ganz auf die unterschiedliche Musikalität und den Rhythmus der Sprachen und lässt sich vom mal leiseren und nachdenklicheren, mal lauteren und fordernderen Stimmen-Teppich berieseln.

Doch trotz der pointierten, scharfsinnigen Beiträge der Autoren entfaltet der angekündigte Dialog zwischen der literarischen Welt des Kosovo und der Schweiz nicht sein ganzes Potential. Zu platt und oberflächlich, wenn auch sehr unterhaltsam wirken Antoine Jaccouds Beschreibungen von Tattoos und Piercings auf der runzeligen Haut exjugoslawischer Grosis und Grossväter in einem Schweizer Altersheim im Jahre 2063 neben den scharfen, politisch motivierten Sprach-Kreationen von Shpëtim Selmani oder der nachdenklich stimmenden Poesie von Blerina Rogova Gaxha. Ansätze eines fruchtbaren Austauschs zeigen sich immer dann, wenn die einzelnen Sprachen direkt miteinander konfrontiert werden und gleichzeitig erklingen. Denn im allgemeinen Stimmengemurmel scheint sich noch immer die aktuelle Beziehung der Schweiz mit ihrer inoffiziellen fünften Landessprache zu widerspiegeln. Es bleibt also zu hoffen, dass der in Gang gebrachte Dialog weitergeführt und vertieft und der albanischen Kulturproduktion auch in der Schweiz vermehrt eine Bühne gegeben wird. Kosovë is everywhere ist ein wichtiger Anfang für einen sprachübergreifenden Austausch, soll Kosovo in Zukunft kein „abgeschiedenes Zimmer in einem Schweizer Haus“ (Shpëtim Selmani) mehr bleiben.

Wortmusik

«I read the news today oh boy, about a lucky man who made the grade…», erklingt es vom einsamen Plattenspieler auf der Bühne. Samtig weiche Klarinettenklänge ertönen von Michael Jaeger. Die Worte der Beatles mischen sich mit seiner Musik. Ich sehe mich um. Nur einige wenige haben sich zu dieser späten Stunde noch im «Karl» eingefunden, um der letzten Veranstaltung des Tages zu lauschen. Mir fällt auf, dass ich mit Abstand die jüngste Person im Publikum bin – ob ich auch die einzige im Saal bin, die nicht zur «Plattenspielergeneration» gehört? Meine Ge-Ge-Generation, so heisst auch das neuste Werk von Hugo Ramnek, aus dem er heute für uns lesen will. Darin hat er, wie er sagt, Texte zu bekannten Blues- und Rockscheiben geschrieben. Ausserdem speziell: Jeder, der sein Buch kauft, bekommt nicht nur die Texte, sondern zu jedem Text auch gleich noch einen Link, der auf den entsprechenden Song verweist. Auch im Pack mit dabei, eine Datei, bei dem der/die Leser/-in Ramneks Texte von ihm selbst laut gelesen erleben kann. Sieht so moderne Lyrik aus? Poesie, Musik und Performance in einem unter Einbezug moderner Technologien und Medien – das hört sich schon eher nach meiner Generation an. Ramneks Lesung spiegelt das Verfahren seines Buches gut wider: Text und Musik, Lesung und Performance verschwimmen vollkommen. Mal hüpfen die beiden Männer wie zwei junge Schwermetaller über die Bühne, dann wieder lauschen wir dem stillen Wortlaut von Ramneks Gedichten, untermalt vom Gesang von Jaegers Klarinette (oder ist es umgekehrt?). Ein einzigartiger Klang entsteht, von dem ich nicht mehr sagen kann, ob er Text oder Musik ist. «Sang sie? Sprach sie nicht? Las er? Sang er nicht?», liest Ramnek an einer Stelle. Oder singt er?

Mord & Totebeinli

An diesem Donnerstag Abend steigen wir hinab in die Tiefe, auf die Ebene der Toten. Nach einer kurzen Tramfahrt gehen wir zu Fuss eine vielbefahrene, hell erleuchtete Strasse entlang, bis der Torbogen des Friedhof Forums plötzlich vor uns aufragt. Dahinter erwartet uns eine andere Welt: In dichter Dunkelheit erstreckt sich der Friedhof. Wir entdecken einen Pfad aus Kerzen, der zu einer Treppe führt und steigen hinab in den Untergrund, zu Isabel Morf und ihren mörderischen Begleitern.

Die Zürcher Krimiautorin liest an diesem Abend zwei unveröffentlichte Kurzgeschichten. Die erste, Totebeinli, erzählt von einem ziemlich morbiden Leidmahl, bei dem das Publikum auch nicht leer ausgeht: Passend zum Thema darf es während der Lesung an den kleinen ‹Beinli› des entsprechenden Weihnachtsgebäcks knabbern. Isabel Morfs gutes Gespür für Atmosphäre bemerke ich an an diesem Abend immer wieder: Von der an eine Grabkammer erinnernden Location zu Witzen über den Halszither-Musiker Beat de Roche, der anfangs einfach nicht auftauchen will (natürlich möglich, dass er ermordet wurde) bis zu Morfs Poncho, der selbstverständlich immer zum Lesestoff passen muss (von schwarz passend zur Beerdigung in Kurzgeschichte Nr. 1 zu aschgrau in Nr. 2) ist alles perfekt inszeniert. Die Geschichten selbst sind zwar nicht allzu unheimlich aber dafür urkomisch und voll bissig schwarzem Humor. Vor allem als in Kurzgeschichte Nr. 2 plötzlich ein rachsüchtiges Aschehäufchen Vergeltungspläne gegen seine Mörderin namens Ehefrau ausheckt, gibt es einige Lacher. Das ist umso ironischer, da das Publikum an diesem Abend fast ausschliesslich aus Frauen besteht. Den Grund dafür vermag ich mir nicht wirklich zu erklären – solange an der Sache mit dem Aschehäufchen nicht doch etwas dran ist…

Cabin crew welcomes you on board!

Zwei Damen in blauen Deux-Pièces gleiten durch das Publikum. Sie verteilen Frühstücks-Boxen und Filter-Kaffee. Die Sitzreihen sind eng und die Beinfreiheit eingeschränkt, doch die beiden Damen meistern die Schwierigkeit bravourös, irgendwann hat jeder Gast eine schwarze Schachtel auf den Knien und einen dampfenden Einwegbecher in der Hand.
Neugierig öffnen wir die Box, betrachten das sogenannte Gourmet-Frühstück, und das Flugzeug-Feeling ist perfekt: alles nett arrangiert, drei Brötchen, ein bisschen Käse, ein bisschen Fleisch, Fruchtsalat und ein Müsli-Topf, dessen Zuckergehalt bestimmt dem sonderbaren Geschmackempfinden über den Wolken angepasst ist. Unser Magen macht schon Loopings, doch wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir nicht die Welt von oben, sondern den Innenhof des Festivalzentrum Karl der Grosse. Wir befinden uns an der Lesung von Pascale Marder zu ihrem neusten Buch «Nelly Diener. Engel der Lüfte».

Die Nelly, erfahren wir dann, die erste Stewardess der Schweiz, sei der ehemaligen Marketing-Mitarbeiterin der Swissair und heutigen Autorin Pascale Marder schon immer durch den Kopf geflogen. Die hübschen Fotos der jungen Dame – mit Serviertablett in der Hand, kokettem Lächeln im Gesicht und vor einem Flugzeug posierend – seien nämlich in den Swissair-Büros überall präsent gewesen. So hat Pascale Marder eines Tages den Entschluss gefasst, mehr über den berühmten Engel der Lüfte herauszufinden und hat nach langen Recherchen Nelly Dieners Biographie verfasst.

Aus dieser liest sie nun vor, während die Besucher sich über ihre Frühstücksboxen hermachen. Leider geht dabei, zumindest für die hinteren Reihen, der Grossteil des Gesagten im plötzlichen Tumult unter, denn die Verpackungen rascheln, die Menschen murmeln («Mmh fein, sogar es Zöpfli»), und die beiden Service-Damen werden immer wieder in die engen Reihen gerufen und nach einem Extra-Rähmli gefragt.

Doch viele Gäste scheint das nicht zu stören, gewisse Turbulenzen gehören beim Fliegen nun mal dazu und wenn man den Kopf etwas reckt, erkennt man immerhin die Bilder auf der Powerpoint-Präsentation. Da sind viele alte Maschinen zu sehen. Pascale Marder, von Haus aus Historikerin, zeichnet einen interessanten Überblick über die Verhältnisse im Flugbetrieb der 1930er Jahren: die Curtis Condor war beispielsweise gar noch aus Holz gezimmert.

Als mit der allgemeinen Sättigung langsam wieder Ruhe einkehrt, können wir endlich wieder besser verstehen, was die Autorin erzählt, doch da ist die Lesung dann  leider auch gleich zu Ende.

Mit vielen neuen Facts zu den Anfängen der Schweizer Flugbranche verlassen wir den Raum und klammern unser kaum gegessenes „Gourmet“-Flugzeug-Frühstück unterm Arm –  irgendein WG-Kollege wird sich daran schon noch köstlich amüsieren.

 

LEBENSLÄNGLICH

Im Publikum ist weder ein Räuspern noch die geringste Bewegung zu bemerken, als Lisbeth Herger im Sozialarchiv von den Schicksalen der beiden ehemaligen Heimkinder Diana Bach (*1948) und Robi Minder (*1949) erzählt. In höchster Stille hören wir ihren Ausführungen zu und sind dabei fassungslose, traurige und zugleich bewundernde Zuhörer.

Diana Bach und Robi Minder verbrachten ihre Kindheit in den 1950er-Jahren im streng religiös geführten Kinderheim Villa Wiesengrund. Dieser Ort, alles andere als Geborgenheit und Wärme spendend, erschwert das Leben der beiden Protagonisten enorm. Ihr Alltag ist geprägt von Angst, Willkür und Gewalt. Posttraumatische Belastungsstörungen begleiten sie bis heute. Fünf Jahrzehnte später treffen die beiden bei Archivrecherchen wieder aufeinander, beginnen miteinander zu schreiben und beschliessen dann gemeinsam, ihre Vergangenheit nach aussen zu tragen. Sie stossen auf die Autorin Lisbeth Herger, die sich beruflich dem biographischen Schreiben widmet, und bitten Sie, ihre Geschichte auf der Grundlage von zahlreichen Akten, Mailverkehr und mündlichen Erzählungen aufzuschreiben.

Es entsteht ein unglaublich ehrliches, berührendes Buch, in dem in einem ersten Teil von der Vergangenheit berichtet wird und in einem zweiten Teil anhand des heutigen Briefwechsels die lebenslänglichen Folgen aufzeigt sowie Fragen nach Wiedergutmachung verhandelt werden. Es ist bewundernswert, wie die beiden Persönlichkeiten den Schritt nach aussen gewagt haben und ein dunkles Kapitel der Schweizer Vergangenheit sichtbar machen. Bei der Lesung sind auch sie anwesend und bieten den Erzählungen mutig das Gesicht.

Rühmenswert ist auch die Herangehensweise der Autorin, die sich durch Berge von Akten gekämpft und umfangreiche Recherche betrieben hat, um ein möglichst treues Bild der beiden abgeben zu können. Dabei berichtet sie sachlich und bleibt nahe bei den Fakten. Trotzdem schafft sie es mit ihrer ruhigen Sprache, die Grausamkeit, den Schmerz und die Melancholie bemerkenswert nachzuzeichnen, ohne dabei beim Lesenden nur Mitleid erzeugen zu wollen. Lisbet Herger hat eine unglaubliche Gabe, sich in die Geschichten der ehemaligen Heimkinder hineinzuversetzen und ihnen mit grossem Respekt Gehör zu verleihen.

Von Zement-Sternen und Waffen aus Brotteig und Bohnen

Yordanka, Martin und Camilo Jaschke präsentierten am Sonntag Nachmittag im Les Halles zusammen mit der Autorin und Bloggerin Nadja Zimmermann und Katrin Sutter, der Verlegerin des Aris-Verlages, das Buch «Mama kann nicht kochen», die 2018 erschienenen Liebeserklärungen an perfekt unperfekte Mütter. Diese setzen sich aus Vor- und Nachwort und aus Erzählungen, von Martin und Camilo über die Kochunfälle ihrer Mutter Yordanka, den Liebeserklärungen von 10 Müttern, wie jene von Susanne Kunz oder Nathalie Sassine-Hauptmann, sowie einem Statement von Yordanka zusammen.

Humorvoll und spritzig eröffnen Martin und Camilo mit den selbst vorgetragenen Auszügen aus ihrem Buch den Nachmittag und lockern damit die Mundwinkel der Zuhörenden. Spontan beginnt darauf das Gespräch über das Muttersein und die Kochkünste von Yordanka, die von sich selbst sagt, dass sie nicht unbedingt schlecht koche, aber die kulinarische Muse nicht immer dabei sei, wenn sie in die Küche eintrete. Perfektion und Fehlerlosigkeit, wie sie in Fachbüchern und auf Social Media oft präsentiert werden, so ist sich die Gesprächsrunde einig, seien keine Anforderungen an eine gute Mutter. Authentisch zu sein, sei viel wichtiger und Defizite hätten wir ja schliesslich alle, ergänzte Zimmermann.

Mit «Mama kann nicht kochen» ist die längst überfällige und ungeschönte Wahrheit über das Muttersein sowie ein geistreiches und humorvolles Plädoyer gegen den Druck der Perfektion endlich in Buchform erschienen.

Lieber Martin, Lieber Camilo: Gerne würde ich mehr über «Papa, den Schirmherrn der Frische» oder darüber, «wie Mama Sandwiches macht», lesen – vielleicht in einem zweiten Band?

Die Novelle – ungefährlicher als ein Roman

In der Buchhandlung Bodmer stellt Hansjörg Schertenleib sein neues Buch vor – die Novelle Die Fliegengöttin. Nachdem er sich dafür bedankt hat, dass zur Abwechslung «ein richtiges Buch» vorgelesen werden darf, beginnt Schertenleib mit dem Anfang seiner Geschichte. Die Hauptfiguren Willem und Eilis sind seit über 50 Jahren verheiratet. Seit ihrer Alzheimer-Diagnose vor zwei Jahren kümmert sich Willem aufopferungsvoll um seine Frau. Die Geschichte erzählt von einer grossen Liebe zwischen zwei Menschen, die beide ihre Fehler gemacht haben und trotzdem immer füreinander da waren. Über dem einen Tag, der erzählt wird, schwebt das Versprechen, sich gegenseitig zu erlösen, falls einer von beiden ein Pflegefall wird. Dabei ist es zentral, dass die Geschichte in Irland spielt. In der Schweiz beispielsweise würde Willem diese Verantwortung von Exit abgenommen werden und somit die Spannung entfallen.

Den ersten Seiten der Novelle folgt ein Gespräch zwischen Schertenleib und seinem neuen Verleger Daniel Kampa, der zusammen mit der Lektorin ebenfalls anwesend ist und ihm immer noch erlaubt, seine Geschichten mit vielen Naturbeschreibungen anzureichern. Die Gattungsfrage macht den Anfang. Der sonst so freiheitsliebende Schertenleib sei froh über die Gattung als Leitplanke, denn allen Einschränkungen zum Trotz biete sie auch viele Freiheiten. Ausserdem sei ein dünnes Buch wie Die Fliegengöttin im Vergleich zu einem dicken Roman weniger schmerzhaft, sollte es bei der abendlichen Lektüre im Bett wieder einmal auf der Nase landen. Mit dieser Aussage trifft er auf grosse Zustimmung beim Publikum.

Nachdem Schertenleib eine weitere Stelle vorgelesen hat, folgt eine Fragerunde. Auch seine neue Heimat in Maine kommt zur Sprache. Dort schätzt Schertenleib besonders die unverbaute und weite Landschaft – das berühmte amerikanische Freiheitsgefühl -, die ihm in der Schweiz fehlt. Ausserdem ist er begeistert von den vielen Buchhandlungen. «Begegnungsorte wie die Buchhandlung Bodmer», die in jedem noch so kleinen Ort zu finden sind – eine Tatsache, die den Zuschauern ein hoffnungsvolles Lächeln oder wehmütiges «Ohh» entlockt. Neben einigen politischen Abschweifungen: «Jetzt ereifert er sich wieder, der Schertenleib», kommt er auch auf zukünftige Projekte zu sprechen. Seine Leser dürfen sich als nächstes – zur Überraschung aller – auf einen Krimi freuen; Schertenleib bekennt in dem Zusammenhang, selbst sehr gerne Krimis – besonders von Simenon, der ebenfalls seit neuestem im Kampa Verlag erscheint – und Thriller zu lesen. Während diesbezüglich der Schreibprozess bereits beendet ist, steht ein weiteres Projekt erst in den Kinderschuhen. Unter dem Arbeitstitel Ein Plädoyer für die Faulheit soll ein Buch entstehen, das dazu ermutigen soll, auch einmal unproduktiv zu sein und sich dem Hamsterrad zu entziehen. Mit folgenden Worten wird die Lesung schliesslich beendet: «Wer bereits heute damit anfangen möchte und sich zuhause mit einem guten Buch ins Bett legen will, hat die Möglichkeit Die Fliegengöttin zu erwerben und signieren zu lassen».

«educated guess» – Zürcher Geschichte in Romanform

Die freischaffende Richterswiler Historikerin Dr. Nicole Billeter präsentiert im Rahmen von «Zürich liest» in der Buchhandlung Bodmer am Donnerstag ihren neuen Roman «Wenn dein starker Arm es will».

In einer kurzen Einführung klärt die Autorin die Zuhörenden über ihre Schreibmotivation und die Quellenlage auf. Diese sei nicht umfangreich und basiere vor allem aus Zeitungen und Briefen, so Billeter, die von sich selbst als einer «puritanischen Historikerin» spricht. Sie fügt hinzu, dass es kaum möglich gewesen wäre ein reines Sachbuch über das Alltagsleben von Personen der «working class» zu schreiben und dass ihr Verlag ausserdem der Auffassung war, dass ein Sachbuch zu wenig gelesen würde. Die Romanform aber hätte ihr die Freiheit geboten, recherchierte Fakten in eine Form zu packen, die wenig theoretisch ist und dem Leser trotzdem einen Einblick in die Geschichte rund um den Landesgeneralstreik im Jahre 1918 am linken Zürichseeufer gibt. «Educated guess» nannte Billeter das Prinzip, nach dem ihr Roman aufgebaut ist.

Nach der Einführung lässt die Historikerin den Zuhörer mit der Lesung von fünf Textpassagen in zwei entgegengesetzte Welten eintauchen, die im Sommer und Herbst 1918 aneinandergeraten: Jene von Lina Reichmuth, einem Dienstmädchen, welche durch den befreundeten Fabrikarbeiter Jean über den Misstand der Arbeiterschicht aufgeklärt wird, und jene von Eduard Stucki, einem Fabrikpatron. Lina steht auf der Seite der hart arbeitenden und streikenden Unterschicht, oder wie es Billeter immer wieder ausdrückte, auf der Seite der «Sozis», während Eduard auf der Seite der bürgerlichen und wohlbegüterten Wirtschaftselite anzusiedeln ist. Mit einer überlegten Auswahl der Textpassagen führt Billeter ihre Hauptprotagonisten Lina und Eduard sowie die Nebenrolle des Fabrikarbeiters Jean, genannt «Schang», ein und gewährt damit einen kurzen Einblick in die enorme soziale Unrast, die zum Landesgeneralstreik führten.

Auch wenn Billeter mit ihrem Werk Zürcher Geschichte in Romanform präsentiert und wohl eher Unterhaltung als reine Wissensvermittlung anstrebt, konnte sie deutlich wahrnehmbar nicht ganz aus ihrer Rolle als Wissenschaftlerin heraustreten. Somit blieben die Eckpunkte der Handlungen im Roman «Wenn dein starker Arm es will» dann doch meistens mehr «educated» als «guess».

Übersetzen – Drahtseilakt zwischen Bewusstsein und Intuition

Meine Reise zum Travel Book Shop war kurz und kalt – die Reise, auf die mich die Übersetzerin Viktoria Dimitrova Popova mitnimmt, ist lang und warm. Sie liest aus dem Buch «Elada Pinjo und die Zeit».

Die Reise führt uns nach Bulgarien, wo anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts ein Mädchen – Pinjo – von seiner Mutter auf der Flucht im Wald zurückgelassen wird. Eine Hirschkuh kümmert sich um sie, bald darauf wird sie von einer jungen griechischen Nomadin entdeckt, die sie in ihre Gemeinschaft aufnimmt. Am Schwarzen Meer angekommen, findet Pinjo ihre Mutter wieder und verliebt sich in einen stummen jungen Mann.

 

Viktoria Dimitrova Popova liest uns verschiedene Passagen vor, auf Bulgarisch und Deutsch. Immer wieder gefragt, ob sie nicht ein bisschen langsamer und lauter sprechen könne, sagt Popova, dass sich ihre Zunge verdrehe beim Wechseln zwischen der bulgarischen und der deutschen Sprache. Wir bekämen jetzt performativ mit, was dieser Wechsel bedeute. Auch in den vorgelesenen Passagen geht es immer wieder um Sprache, um die Fähigkeit des Erinnerns der Muttersprache und um das Sprechen anderer Sprachen – um Mehrsprachigkeit.

Was für sie die grösste Herausforderung beim Übersetzen sei, fragt Susanne Schenzle, die Verlegerin des Buches, die das Gespräch moderiert. Für sie als mehrsprachige Person stelle das Übersetzen an sich keine Herausforderung dar, antwortet Popova. Sie habe, obwohl der magisch-realistische Stil des Buches in unserer Zeit etwas eigenartig anmute, sofort eine Verbindung zu diesem Text gefühlt. Gewisse Herausforderungen stelle speziell dieser Text, da er sehr viele Ebenen aufweise, die alle übersetzt werden möchten und müssen. Die Herausforderung dabei sei, für alle diese Ebenen eine mögliche Übertragung zu finden, die oft nicht direkt erfolge. So sei zum Beispiel das Buch in einem bulgarischen Dialekt geschrieben, sie habe sich für eine Übersetzung ohne Dialekt entschieden und musste also eine andere Art finden, den Aspekt zu übertragen. Hier habe sie es durch eine sehr direkte Sprache gelöst. Sie erzählt, wie das Übersetzen ein Drahtseilakt zwischen Bewusstsein und Intuition ist und die Herausforderung schlussendlich darin bestünde, «ich zu sein», in ihrer Mehrsprachigkeit.

Die traditionelle Sicht, Übersetzer müssten von ihrer Zweitsprache in ihre Erstsprache übersetzen, nimmt sie als eindeutig überholt war. Sie übersetzt in ihre sogenannte Zweitsprache, die sie perfekt beherrscht und mit der sie seit ihrer Kindheit vertraut ist. Die Tatsache, dass über dreissig Prozent der Menschen hier in Zürich und in anderen Städten mit mehreren Sprachen aufwachsen, übersehe die traditionelle Einteilung vollkommen.

Jeder, der da war und sie lesen gehört hat, würde unterschreiben, dass sie genau die richtige Übersetzerin für das Buch ist und dass die traditionelle Übersetzungspraktik in Frage gestellt werden sollte.

Tante Leguan geht ab

«Zehn, neun, acht, sieben, sechs und so weiter», zählt Matto Kämpf den Countdown zu seiner eigenen Show, während neben ihm die grossartige Sibylle Aeberli an der Gitarre abrockt. Drei, zwei, eins und los geht die Lesung. Es ist wirklich eine Lesung, denn heute geht’s im Helsinki nicht nur um Gitarreschrammeln, sondern auch um Kämpfs neustes Buch. «Tante Leguan» heisst das Oeuvre und handelt von den Leiden drei junger Kulturjournalisten, die für den «Idiot» die Feder schwingen. Oder eben auch nicht. Denn mit 35 sind die Journis zwar tatsächlich noch jung, doch fühlen sie sich alt und verbraucht (was in Anbetracht ihres Alkoholkonsums nicht erstaunt) und das locker flockige Schreiben von einst ist auch eher stockend und harzig.

Die Lesung ist nun schon in vollem Gange, Kämpf und Aeberli wechseln sich im Vortragen ab, in bestem Schweizerhochdeutsch, und entführen das Publikum in die triste Welt des Grossraumbüros.

Die drei Journis langweilen sich gehörig. Erst als eines Tages ein Brief mit der CD der chinesischen Punkband «Tante Leguan» in die Redaktion flattert, machen sich die drei auf die Spuren dieser ominösen Tante. Sie reisen nach China, spesengedeckt und unter dem Vorwand, eine Sommerreihe zum tiefgründigen Titel «Peking – Einst und Jetzt» herauszugeben. Die Reportagen dazu sind, nach Eigeneinschätzung «unter aller Sau», doch dem Chef ist’s egal und weitere Trips nach Neapel und Lyon werden den «Reiseverführern» finanziert.

Die Journis dinieren, philosophieren und fabulieren. Letzteres mit auffälliger Häufigkeit über Musik. Diese Musik kommt dann auch im Helsinki live zum Zuge. Meisterhaft authentisch wird der im Buch beschriebene schräge und oftmals einfach nur schlechte Sound live vertont, wobei sich Kämpf wie ein Quasimodo über sein Keyboard beugt und Aeberli an der Gitarre abgeht wie ein grosser Rockstar.

Ein Highlight ist dann auch, wo die beiden «80er Jahre spielen», mit den einfachen, doch grandiosen Requisiten von zwei Militärtaschenlampen, mit grünem und rotem Filter.
Das Publikum johlt – je länger die Show dauert, desto mehr – und die Bar wird rege besucht, wobei ein Zusammenhang vermutet wird. Mit einer Witzdichte von ca. 30 Lachern pro Minute ist dann auch die Schenkelklopfer-Falle unbestreitbar da, doch das ist dem Publikum egal. Soll sie doch zuschnappen, sind sich die Zuschauer einig, wir lassen uns gerne fangen. Die Stimmung ist nämlich prima und die Lesung ein voller Erfolg. Prost auf dich, liebe Tante Leguan!