Übersetzen – Drahtseilakt zwischen Bewusstsein und Intuition

Meine Reise zum Travel Book Shop war kurz und kalt – die Reise, auf die mich die Übersetzerin Viktoria Dimitrova Popova mitnimmt, ist lang und warm. Sie liest aus dem Buch «Elada Pinjo und die Zeit».

Die Reise führt uns nach Bulgarien, wo anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts ein Mädchen – Pinjo – von seiner Mutter auf der Flucht im Wald zurückgelassen wird. Eine Hirschkuh kümmert sich um sie, bald darauf wird sie von einer jungen griechischen Nomadin entdeckt, die sie in ihre Gemeinschaft aufnimmt. Am Schwarzen Meer angekommen, findet Pinjo ihre Mutter wieder und verliebt sich in einen stummen jungen Mann.

 

Viktoria Dimitrova Popova liest uns verschiedene Passagen vor, auf Bulgarisch und Deutsch. Immer wieder gefragt, ob sie nicht ein bisschen langsamer und lauter sprechen könne, sagt Popova, dass sich ihre Zunge verdrehe beim Wechseln zwischen der bulgarischen und der deutschen Sprache. Wir bekämen jetzt performativ mit, was dieser Wechsel bedeute. Auch in den vorgelesenen Passagen geht es immer wieder um Sprache, um die Fähigkeit des Erinnerns der Muttersprache und um das Sprechen anderer Sprachen – um Mehrsprachigkeit.

Was für sie die grösste Herausforderung beim Übersetzen sei, fragt Susanne Schenzle, die Verlegerin des Buches, die das Gespräch moderiert. Für sie als mehrsprachige Person stelle das Übersetzen an sich keine Herausforderung dar, antwortet Popova. Sie habe, obwohl der magisch-realistische Stil des Buches in unserer Zeit etwas eigenartig anmute, sofort eine Verbindung zu diesem Text gefühlt. Gewisse Herausforderungen stelle speziell dieser Text, da er sehr viele Ebenen aufweise, die alle übersetzt werden möchten und müssen. Die Herausforderung dabei sei, für alle diese Ebenen eine mögliche Übertragung zu finden, die oft nicht direkt erfolge. So sei zum Beispiel das Buch in einem bulgarischen Dialekt geschrieben, sie habe sich für eine Übersetzung ohne Dialekt entschieden und musste also eine andere Art finden, den Aspekt zu übertragen. Hier habe sie es durch eine sehr direkte Sprache gelöst. Sie erzählt, wie das Übersetzen ein Drahtseilakt zwischen Bewusstsein und Intuition ist und die Herausforderung schlussendlich darin bestünde, «ich zu sein», in ihrer Mehrsprachigkeit.

Die traditionelle Sicht, Übersetzer müssten von ihrer Zweitsprache in ihre Erstsprache übersetzen, nimmt sie als eindeutig überholt war. Sie übersetzt in ihre sogenannte Zweitsprache, die sie perfekt beherrscht und mit der sie seit ihrer Kindheit vertraut ist. Die Tatsache, dass über dreissig Prozent der Menschen hier in Zürich und in anderen Städten mit mehreren Sprachen aufwachsen, übersehe die traditionelle Einteilung vollkommen.

Jeder, der da war und sie lesen gehört hat, würde unterschreiben, dass sie genau die richtige Übersetzerin für das Buch ist und dass die traditionelle Übersetzungspraktik in Frage gestellt werden sollte.

Unübersetzbar, sagen Sie?

Was heisst «croque-mitaine» ins Deutsche? Darf man Eigennamen übersetzen? Wie übersetzt man Geräusche und Rhythmus?
Dies sind einige der Fragen, die im Gespräch der zwei Übersetzerinnen Camille Luscher (Max Frisch, Arno Camenisch) und Lydia Dimitrow (Bruno Pellegrino, Isabelle Flükiger) am Freitag Abend im KOSMOS gestellt wurden. Konkrete Beispiele aus den Vorlagen ihrer eigenen Übersetzungen dienen als Basis für die Diskussion. Zusammen mit ihnen wird das Publikum eingeladen, konkrete Lösungen für angeblich «unübersetzbare» Wörter vorzuschlagen. Eine einzige Regel ist Camille Luscher bei dieser Aufgabe wichtig: «kein Dogmatismus». Und es geht los. Im Publikum schlägt jemand ein Wort vor, Lydia Dimitrow schreibt es auf und lächelt: «Vielleicht findet sich einer ihrer Vorschläge in meiner Übersetzung wieder».
Schnell stellt sich aber heraus, dass vieles hinter der Wahl eines bestimmten Wortes steckt. Was man im ersten Augenblick für eine angemessene wortwörtliche Übersetzung hielt, stellt sich als problematisch heraus, sobald man weitere Aspekte wie Klang, Konnotation oder noch Rhythmus berücksichtigt. Beeindruckend ist dabei vor allem, wie genau Camille Luscher und Lydia Dimitrow bei der Wahl eines Wortes vorgehen: Nichts scheint dabei dem Zufall überlassen zu sein.
Gleichzeitig wissen die zwei Übersetzerinnen zu überzeugen, dass Übersetzen ein Schöpfungsakt ist. Denn es heisst oft den Mut haben, eine gewagte Entscheidung zu treffen, indem man z.B. der wortnahen Übersetzung entgeht, um eine bestimmte Wirkung beim Zielpublikum zu erzeugen. Die zwei Übersetzerinnen gehören zu einer Generation, die sich nicht mehr scheut, ihre Autorschaft bei den eigenen Übersetzungen zu beanspruchen. Camille Luscher bringt es auf den Punkt: «Je gesuchter das Original ist, desto freier ist der Übersetzer». Sie fügt hinzu: «Ich übersetzte, um zu schreiben». Übersetzen bedeutet auf einmal kein blosses Transkribieren, sondern richtiges Schreiben.
Mit einem neu erworbenen Respekt für diese allzuoft unterschätzte Tätigkeit begibt man sich wieder nach Hause. Literarisches Übersetzen hat sicher viel mehr mit Literatur gemeinsam als mit google translate und ist auf jeden Fall ein Gewinn für das Original.

Malerei, Musik und die Ermordung des Commendatore

Zürich liest schenkt dem Übersetzen die Beachtung, die es verdient. Gestern Abend sprach die renommierte literarische Übersetzerin Ursula Gräfe über die Fallstricke, Probleme und Freuden, die das Übersetzen von Haruki Murakamis zweibändigem Roman Die Ermordung des Commendatore mit sich bringt. Die Agentur des Autors gestattete freilich keine öffentliche Lesung aus dem Original – was zu verschmerzen war. Verstanden hätten es vermutlich ohnehin nur die wenigsten.

Ursula Gräfe sitzt bereits eine Viertelstunde vor Beginn in ihrem Sessel. Sie schaut neugierig ins Publikum, wir schauen neugierig zurück. Allen – inklusive Gräfe selbst – scheinen voll Begeisterung auf das zu warten, was der Abend bringen wird. Die Lichter werden abgeblendet, Applaus setzt ein. Jetzt geht’s los.

Gräfe gibt eine kurze Zusammenfassung des Künstlerromans, der Malerei, Musik und Literatur miteinander verknüpft. Im Zentrum steht ein typischer Murakami-Charakter: ein Porträtmaler, 36 Jahre alt, zufrieden mit seinem Leben – bis seine Frau ihn verlässt und er keine Unterkunft mehr hat. Ein Freund biete ihm daher das ehemalige Haus seines Vaters an, der auch ein Maler war. Dort vernimmt der neue Gast zunächst seltsame Geräusche, wird fortan dann immer tiefer in die Mysterien dieses Ortes hineingezogen und stösst schlussendlich auf ein Bild des alten Malers mit dem Titel «Die Ermordung des Commendatore». Gräfe führt aus, dass es sich bei diesen Schauerelementen nicht allein um eine besondere Spielart des magischen Realismus handle, sondern dass sich diese sich auch der japanischen Erzählkultur verdanken, auf der Murakami stilistisch aufbaut. Freilich zeichne sich dieser Stil durch seine Deutlichkeit aus, er sei gleichwohl nicht oberflächlich oder gar ungebildet. So sei das Sujet des Romans bei genauer Betrachtung mit dem literarischen Topos Don Giovannis verbunden, der ebenfalls einen alten Commendatore ersteche.

Die Klarheit von Murakamis Stil komme der Aufgabe der Übersetzerin natürlich sehr entgegen, so Gräfe, mache es aber zugleich zu einem Gebot, seine Texte in der Übersetzung nicht zu salopp klingen zu lassen. Die erhitzten Diskussionen, die sich über solchen Fragen entwickeln können, verdeutlicht Gräfe anhand eines Einspielers aus dem Literarischen Quartett, das sich angesichts von Murakamis Roman Gefährliche Geliebte zu Kategorisierungen von «nicht literarisch anschaulich» und «literarisches Fastfood» bis hin zu «von ungewöhnlicher Zartheit» versteigt. Gräfe behauptet, dass in jeder dieser Einschätzungen eine Wahrheit zu finden sei, das verdanke sich dem hybriden Charakter von Murakamis Sprache. (Glücklicherweise handelte es sich in diesem Fall nicht um ihre eigene Übersetzung.) Interessant wird es im Falle einer Neu-Übersetzung, die Gräfe übernommen hat, nämlich die von Südlich der Grenze, westlich der Sonne. Im Unterschied zur alten Übersetzung, die sich von der amerikanischen Ausgabe ableitete, ist Gräfe vom japanischen Original ausgegangen: Die japanische und die deutsche Sprache erschienen ihr näher zueinander zu stehen als die englische. Freilich liest sie andere, bereits erschienene Übersetzungen ebenfalls auch immer parallel.

Eine «Verdeutschung» des Romans sei dabei naturgemäss nicht zu umgehen, «gelungen» sei eine Übersetzung jedoch dann – so Gräfe auf meine Frage hin -, wenn die deutschen LeserInnen das gleiche Gefühl beim Lesen vermittelt bekämen wie die japanischen. Bisweilen wird das nur durch Kompensationsleistungen möglich: Vielleicht geht irgendwo etwas verloren, vielleicht wird irgendwo anders etwas gewonnen. Zum Schluss merkt Gräfe noch an, dass sie beim Übersetzen die gleiche Erfahrung wie die späteren LeserInnen machen möchte; deswegen lese sie das Buch nicht erst einmal durch, sondern fange einfach von vorne an.

Insgesamt war dies eine eindrucksvolle, zukunftsträchtige Veranstaltung, die zurecht mit viel Applaus bedacht wurde. Möge man der Kreativität der ÜbersetzerInnen auch in Zukunft in Zürich die Beachtung schenken, die sie verdient.

«Zürich liest»:
Sanne Jacobs

Aus den Niederlanden nach Zürich umgezogen, um Zürich liest ’18 richtig mitzuerleben und darüber zu schreiben: Sanne Jacobs, Studentin des Studiengangs Übersetzen mit einer Vorliebe für die deutsche Sprache.

Und wie kann sie am besten den literarischen Vorzug der neuen Generation der Schweiz kennenlernen? Ja, natürlich, wenn man bei der Verleihung des Zürcher Kinderbuchpreises anwesend ist! Jetzt schon begeistert und neugierig fühlt sie sich wieder als ein Kind.

Hat sie endlich ihre Masterarbeit über die japanisch-deutsche Schriftstellerin Yoko Tawada und die Abenteuer des Übersetzens fertig, ist sie bereits wieder auf dem Weg in den Fernen Osten. Freitag besucht sie Murakami übersetzen – Ursula Gräfe über die Arbeit an «Die Ermordung des Commendatore». Wie hat Gräfe die Übersetzungsprobleme, die sich zwischen zwei so verschiedene Sprache unbedingt hervorzeigen, überwunden?