Zwei Heimkinder, 600 Mails, ein Buch

Der stuckverzierte Raum des Schweizerischen Sozialarchivs ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das Publikum wartet gespannt auf den Beginn der Lesung. Im Mittelpunkt des Interesses stehen drei Personen: Diana Bach und Robi Minder, die in den 50er-Jahren in einem Kinderheim lebten, und Lisbeth Herger, die die bewegende Geschichte der beiden Heimkinder in einem Buch festhielt. Lebenslänglich. Briefwechsel zweier Heimkinder ist bereits Hergers drittes Buch im Verlag HIER UND JETZT. Das Werk ist ein Zeugnis der Schweizer Heimgeschichte. Es enthält Porträts von Bach und Minder, Tagebuch- und Quelleneinträge von damals sowie Ausschnitte aus den über 600 Mails, die die zwei in den letzten Jahren austauschten. „Eines Tages standen die beiden bei mir im Büro“, erzählt Herger.

Es folgen unzählige Stunden im Archiv, auf der Suche nach Zeitzeugnissen und zumindest ein bisschen Aufarbeitung. Die ist Bach und Minder nämlich sehr zu wünschen; auch sechzig Jahre später noch leiden sie an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die gefühlskalte, streng religiöse Führung des Heims weckte Ängste in den Kindern, die sie ein Leben lang verfolgten und ihnen einen normalen Alltag unmöglich machten. Bach, Minder und ihre Heimgenossen litten unter willkürlichen, ungerechtfertigten, teilweise auch grausamen Strafen. „Die Heimleiterin sieht alles – und noch viel mehr.“ Die kleine Diana entwickelte eine quälende Neurodermitis, doch anstelle einer Behandlung wurden ihre Arme in Kartonröhren gesteckt, um sie am Jucken zu hindern. Robi meinte überall Gespenster zu sehen; wo psychologische Hilfe, menschliche Wärme und Verständnis angebracht gewesen wären, gab es nur Schläge und harsche Worte.

Atemlos lauscht das Publikum den Zeugnissen dieses Schreckens. Herger ist es gelungen, die Erlebnisse der ehemaligen Heimkinder respektvoll und eindrücklich zu verewigen. Man kommt nicht umhin, Bach und Minder aufrichtige Bewunderung entgegenzubringen für ihren offenen Umgang mit den belastenden Ereignissen, die ihr ganzes Leben geprägt haben. „Es sind keine schönen Geschichten, aber sie müssen erzählt werden“, sagt Herger mit Nachdruck. Wie recht sie hat.

Die bösen Geister des Bündnerlandes

Am Freitagabend liest Anita Hansemann, die im Prättigau aufwuchs, in der Helferei aus ihrem Debütroman «Widerschein» vor. Die Lesung wird durch die Musikerin Elisabeth Sulser, welche ebenfalls in Graubünden aufgewachsen ist, mit verschiedenen Mittelalter- und Barockinstrumenten untermalt. Sulsers „Gämshorn“, welches eigentlich aus Kuhhorn hergestellt wird, passt zu  Hansemanns Roman – eine blumige Erzählung über Hansemanns Heimat, die innige Beziehung zwischen der rebellischen Mia und dem jenischen Jungen Viid sowie einer weissen Gämse, die die drei Zeitebenen des Romans verbindet.

Hansemanns Roman entführt die Zuhörenden mit Naturbeschreibungen, Detailreichtum und dialektalen Einflüssen in eine Welt, in welcher tote Raubvögel am Gartenzaun gegen böse Geister helfen, die Sagenwelt und Legenden der Alpen omnipräsent sind und die Bewohner den Launen der Natur – weissen Riesen und Gämsen – ausgeliefert sind.

Zwischen den längeren Lesungen versuchte die Moderatorin Gina Bucher jeweils mit ihren allerdings recht unspezifisch gehaltenen Fragen den etwas langatmigen Vortragsabend aufzulockern. Diese wurden jedoch nur oberflächlich beantwortet, weshalb die vorgelesenen Textpassagen mit ihrer verwirrenden Fülle von handelnden Personen und direkten Reden zusammenhangslos und schlecht gewählt wirkten. Statt sich über Hansemanns bildgewaltiges Schreiben und die gelungene und abwechslungsreiche musikalische Darbietung von Elisabeth Sulser zu unterhalten, blieben beim Verlassen der Helferei nur zwei Gesprächsthemen: Die vermutlich inzestuös bedingten Erkrankungen und Liebesgeschichten der Dorfbewohner im Prättigau und die Gemeinsamkeiten der weissen Gämse mit der alten Ziege von Mias krankem Bruder. Die Lesung bleibt uns damit leider nur als Widerschein* eines eigentlich empfehlenswerten und mitreissenden Debütromans in Erinnerung.

*Widerschein: Helligkeit, die durch reflektiertes Licht (z.B. vom Mond) entstanden ist, auch Abglanz

Von Jolanda Brennwald und Andrina Zumbühl 

Viel Freude mit Harry

Frühstückslesung im Odeon. Ein Protokoll:

8:30 Uhr: Zeitumstellung vergessen. Schockmoment.

10 Uhr: Wir sind eine halbe Stunde zu früh (siehe oben). Am Platz erwartet uns bereits ein Glas Orangensaft. Draussen Kälte und Regen. Immer wieder wollen Unwissende das Odeon betreten, doch nur wer reserviert hat, darf rein.

10:45 Uhr: Das Frühstück (reichhaltig, auch wenn wir zunächst ein Gipfeli zu wenig hatten) wird aufgetragen, die Stimmung unter den Anwesenden hebt sich sogleich.

11 Uhr: Jens Wawrczeck erzählt über das Buch. «Immer Ärger mir Harry» ist ein Roman von Jack Trevor Story, der eigentlich nur aufgrund seiner Verfilmung durch Alfred Hitchcock bekannt wurde. Alle kennen die Story, doch kaum jemand hat das Buch gelesen; in der englischen Originalsprache war es nur noch antiquarisch erhältlich, eine deutsche Übersetzung gab es nicht. Darum hat Wawrczeck seine Schulfreundin Miriam Mandelkow angeregt, eine solche anzufertigen, und hat selbst sogleich eine Hörbuchfassung davon produziert. Nun erscheint der Text auf Deutsch auch in Buchform beim Dörlemann Verlag.

11:15 Uhr: Wawrczeck liest vielstimmig und sehr unterhaltsam aus seiner Adaption vor. Wir hören die Story des mysteriösen Toten Harry, der eines Tages einfach im Wald auftaucht. In der Folge können sich die Bewohnerinnen und Bewohner des angrenzenden Orts kaum entscheiden, wer von ihnen Harry jetzt warum umgebracht hat. Es entspinnt sich ein komödiantischer Kriminalfall mit diversen Slapstickeinlagen und viel Kurzweil. Wir schmunzeln immer wieder.

11:45 Uhr: Das Esskoma macht sich bemerkbar. Noch eine Viertelstunde durchhalten.

12 Uhr: Zeit fürs Mittagessen. Auf geht’s.

Alexandra Wittmer und Simon Leuthold

Deutliche Stimmen im Sprachengewirr

Das zwölfköpfige Autorinnen und Musikerkollektiv «Bern ist überall» macht schon länger von sich reden. Dieses Jahr haben die Mitglieder sich Unterstützung aus dem Kosovo geschnappt und kurzerhand eine Tournee organisiert – durch den Kosovo und die Schweiz, CD-Produktion inklusive. Am frühen Samstagabend sind Blerina Rogova Gaxha, Antoine JaccoudShpëtim Selmani und Ariane von Graffenried, musikalisch unterstützt durch Adi Blum am Akkordeon zu Gast im sogar theater und performen zusammen.

Vielsprachigkeit und Vielstimmigkeit. Ganz im Zeichen davon steht die gut einstündige Performance der Fünfertruppe. Das Schöne daran: Jede und jeder von ihnen hat eigene Beiträge – und immer wieder spannen mehrere von ihnen zusammen, um gewisse Stücke gemeinsam vorzutragen. Dabei stellen sie unter Beweis: Das Ganze ist weit mehr als die Summe der Einzelteile. Wie wichtig diese Einzelteile indes sind, zeigt sich schon bald.

Ganz links auf der Bühne steht Antoine Jaccoud. Seine Texte, mehrheitlich englisch oder französisch, trägt er mit leiser Stimme und einem leisen Schmunzeln im Gesicht vor. Er ist der fein lakonische Polemiker des Abends: «We got to heaven, but there were no virgins there. Not a single one. We waited for a while, maybe they were late, but they didn’t come.»

Rechts neben ihm Blerina Rogova Gaxha. Auch sie mit feiner Stimme, aber mit viel persönlicher anmutenden Texten. Mal über ein «Ich», mal über andere Menschen: «Lieber Gott, vergib mir. Ich will sterben zwischen ihren Beinen. – Ali sang über die Liebe».

Ariane von Graffenried, rechts von ihr, deckt mit ihren Texten ein breites Spektrum an Themen ab. Ihr «unique selling point» ist ganz klar die Vielsprachigkeit: «I mim Gring dräit aus im Chreis, à la télé louft Kosova RTK eis».

Shpëtim Selmani ist – zumindest nach seinen Texten zu Urteilen – der politischste der vier. Mit wilder Frisur und Brille redet er über die kosovarische Regierung, über das Heilige – über das, was ihm daran lieb und fremd ist. Sein vielleicht schönstes Bild des Abends: «Kosovo ist ein Holzapfel, der im geröteten Hals eines Deutschen feststeckt.»

Ein Abend der deutlichen Stimmen und der vielen Sprachen also, bei dem die Sprachbarriere zuweilen sogar bereichernd wirkt. Blerina Gaxha und Shpëtim Selmani tragen ihre Texte auf Albanisch vor. Zwar gibt es Übertitel, die das Verständnis erleichtern, doch es gibt noch einen anderen Effekt: Bei einer Sprache, deren Wörter man nicht versteht, achtet man sich beim Zuhören gezwungenermassen viel mehr auf Rhythmen, Reime und die Melodie.

«Rotwein steht für den Tod, Weisswein steht für das Leben»

Am Anfang und im Titel der Veranstaltung in der Bar des Hotels Greulich steht die Frage «Was soll das alles?». Zu Gast sind Vanessa Sonder und Patrizia Hausheer, zwei Philosophinnen, die miteinander viel getrunken und ein Buch über ihre Gespräche dabei geschrieben haben. Und tatsächlich wird sich die Frage danach, was das alles soll, an diesem Abend noch ein paarmal stellen. Doch der Reihe nach.

Nach eigener Angabe haben die Autorinnen sechs der sieben Kapitel des Buches in «höchstens leicht angetrunkenem Zustand» verfasst. Diese Kapitel drehen sich um Themen wie den Sinn des Lebens, Liebe, Tod, Sterben oder Selbstverwirklichung. Das siebte Kapitel trägt den Titel «Rausch».

Die Kapitel beginnen jeweils mit einem literarischen Teil, der auf das Gespräch zwischen den beiden Autorinnen hinführt. Das eigentliche Gespräch ist dann jeweils als Dialog konzipiert – und folgt damit einer uralten Tradition, mitsamt der damit verbundenen Probleme.

Obwohl die Dialoge eine mündliche Gesprächssituation simulieren wollen, merkt man ihnen ihre Schriftlichkeit stark an: Wer sagt mal eben im Café an der Ecke einen Satz, der so beginnt: «Wie der französische Philosoph Badiou sagt, und damit greift er eine Tradition auf, die seit Aristoteles besteht, …»? Und vor allem: Wenn zwei Philosophinnen auf Augenhöhe diskutieren, wo ist die Notwendigkeit, diese Tradition extra zu erläutern? Bargespräche in angeheitertem Zustand haben – wir alle wissen das – einen gewissen Zauber. Doch durch die starke Verschriftlichung, die wohl dem Publikum beim Verstehen helfen soll, scheint von diesem Zauber einiges verloren zu gehen. Die Distanz wird zu gross, die Unmittelbarkeit fehlt.

Zwischen den Leseblöcken diskutieren die Autorinnen mit der Moderatorin über die Entstehung und den Zweck ihres Buchs, und sie gehen auf einzelne Themenbereiche aus dem Buch noch zusätzlich ein. Sonder und Hausheer betonen wiederholt, dass ihnen Themen, die nah am Leben liegen, besonders wichtig gewesen seien; Themen, die auch abseits des Philosophiestudiums von Bedeutung sind. Darum eben Tod, Liebe, Leben und so weiter. Ihr Anspruch sei es aber gewesen, zu solchen Themen nicht einfach ein weiteres Ratgeberwerk zu produzieren, sondern ihr Publikum zum Weiterdenken anzuregen.

Schade daran ist, dass ihre Reflexionen leider gar oft nach Gemeinplätzen tönen  («Das Leben ist ein stetes Abschiednehmen von sich selbst»), und dass auch die Diskussionsteile dazwischen zuweilen gar beliebig anmuten. So überrascht auch die Frage, die dem Publikum nach einer Stunde am meisten unter den Nägeln brennt, nicht mehr besonders: «Trinkt ihr lieber Rotwein oder Weisswein?». Die Frage, was das alles sollte, wird indes nicht wirklich beantwortet.

Alexandra Wittmer und Simon Leuthold

Polnisches Intermezzo

Lwiw, Lwow, Lwów, oder Lemberg. Die heute in der Ukraine liegende Stadt hat unzählige Male zwischen polnischer, österreichisch-ungarischer, sowjetischer und ukrainischer Herrschaft gewechselt. Hier spielt sich eine typische sowjetische Familiengeschichte ab: Die Frauen haben mit dem täglichen Leben zu kämpfen, die Männer sind abwesend – weil entweder gestorben, dauernd beschäftigt, Alkoholiker oder in Resignation versunken. In Żanna Słoniowskas polnischem Debütroman haben wir es mit vier Frauen aus vier Generationen zu tun. Diese leben zusammen in einem Haus – wohntechnisch hatte man in der Sowjetunion keine grosse Wahl, erklärt Słoniowska. Auf der einen Seite sei dieser Alltag von einer allgegenwärtigen Nähe und gleichzeitig von einem Unbehagen durchzogen.

Die Geschichte sei im engen Dialog mit polnischen Menschen entstanden. Es ging ihr darum, sie schreibend verstehen zu lernen. Sich selbst habe sie die Frage nach ihrer nationalen Identität erst nach dem Auszug aus Lemberg, der multikulturellen Stadt, gestellt. Auf die Frage von Moderatorin Monika Schäfer, was es denn mit den Wunden der verschiedenen Frauenfiguren auf sich habe, erwidert Słoniowska, dass es sich nicht um Wunden handle, sondern viel eher um Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden – und um den Kampf ums Künstlerdasein.

Auf den in polnischer Sprache vorgelesenen Textausschnitt folgt ein Raunen des Publikums. Verstehen tun’s zwar die wenigsten, aber dem Klang zu lauschen ist auch ein Erlebnis. Später bekommen wir noch eine Passage von Schauspieler Marco Michel gelesen, der sich darum bemüht, Schäfers Hustenanfall mit eiskaltem Weiterlesen zu überbrücken. Dass die Zeit dann schon um ist und wir nichts mehr von der Autorin selbst hören, ist schade. Aber eigentlich ist es ja schön, wenn die Lesung aufhört, wenn man noch mehr hören möchte.

Nachts, da tanzen die Schatten

Eisige Winde pfeifen um die Türme des Grossmünsters, als wir kurz vor zehn Uhr abends frierend in die Krypta der Kirche herabsteigen. Eine steinerne Statue von Karl dem Grossen ziert den ansonsten kargen Raum. Fast meine ich, seinen Blick im Nacken zu spüren, als ich auf einem der etwas wackeligen Holzstühle Platz nehme. Zahlreiche Kerzen flackern im Gewölbe. Die Atmosphäre könnte nicht passender sein für die bevorstehende Veranstaltung; der Berliner Lyriker Norbert Hummelt wird nämlich aus seinem Gedichtband Fegefeuer lesen. Durch eine amüsante Anekdote in der Einführung erfahren wir, dass sich gleich nebenan der Putzraum befindet. Wie passend, schliesslich ist das Purgatorium ein Ort der Reinigung.

Die Lesung beginnt mit einem dumpfen Paukenschlag, ausgelöst vom Perkussionisten Lucas Niggli. Das Geräusch hallt durch die Krypta und lässt auch die letzten geflüsterten Unterhaltungen im Publikum verstummen. Nigglis Klangspiele werden sich im Laufe der folgenden Stunde mit Hummelts Gedichten abwechseln und eine einzigartige Stimmung erzeugen. Schlagzeug, Pauke, Stöcke – Niggli hat eine grosse Auswahl an verschiedenen Perkussionsinstrumenten dabei und vermag ihnen düstere, geisterhafte Töne zu entlocken. Mal erinnern sie an die stürmische See, mal an Gewitter und Peitschenhiebe; immer wieder meint man, gequälte Schreie zu vernehmen. Das Kerzenlicht malt flackernde Schatten an die Wand; unweigerlich muss ich an die Folterknechte der Hölle denken.

Hummelts sonore Stimme wird durch die Bauweise der Krypta zusätzlich verstärkt. Seine Gedichte begleiten den Erzähler durch die oft schmerzhaften Erinnerungen an dessen sich dem Ende neigenden Leben. Er sinnt verlorenem Glück und seiner Jugend nach. Fegefeuer ist eine Sammlung kleiner Qualen; trotzdem wirkt der Erzähler nicht verbittert und die Gedichte friedlich. In Hummelts Werk steckt viel Melancholie, und sie nachzuvollziehen ist ein Leichtes. Der Rhythmus der beiden Darbietungen erzeugt gemeinsam eine Klanggewalt, die das Publikum in ihren Bann zieht und nach der viel zu kurzen Stunde mit begeistertem Applaus quittiert wird. Die Fragerunde fällt aus; niemand scheint sich zu trauen, die ungewöhnliche Stimmung im Raum mit einer profanen Frage zu zerstören. Also geht es zurück in die eisige Nachtluft, um eine wunderbar unheimliche Erfahrung reicher.

«Wäschenummer 41». Bodo Kirchhoff im Literaturhaus

Das Leben des deutschen Autors Bodo Kirchhoff ist nicht arm an dramatischen Wendungen. Dass er ausgerechnet für seine im gesamten Oeuvre höchstens im hinteren Mittelfeld angesiedelte Novelle „Widerfahrnis“ den Deutschen Buchpreis gewann, gehört dabei zu den verschmerzbaren Erfahrungen. Schwerer wiegen da schon die frühe Trennung von den Eltern, die traumatischen, teils übergriffigen Erfahrungen im Internat oder das ewige Ringen um die „Versöhnung von Sexualität und Sprache“, die der einstige Lacan-Schüler in seinen immer dicker werdenden Büchern mit so wuchtigen Titeln wie „Verlangen und Melancholie“, „Die Liebe in groben Zügen“ oder eben dem neuen Riesenroman „Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre“ voranzutreiben sucht.

Diesen stellt er an diesem verregneten Samstagabend im fast ausverkauften Literaturhaus vor. Den vielen Verletzungen, um die es gehen wird, steht eine äusserst vitale Performance entgegen. Kirchhoff liest derart im Vollbesitz seiner stimmlichen und theatralen Kräfte, dass das eher gesetzte Publikum einige Momente braucht, um Gelesenes und Leseakt zusammenzubringen. Das Eis brechen schliesslich die geteilten Erinnerungen an „Ernte 23“ oder „Roth-Händle“, an VW Käfer mit geteilter Rückscheibe, den Sehnsuchtsort Italien, vergilbte Jukeboxtitel, Kämme in der Badehose oder damit modellierte Entenschwanzfrisuren im Schwarzwälder Freibad der 1960er Jahre. Da sind die harten Schnitte allerdings längst gelesen; von der unglücklichen Schauspielermutter mit Wiener Wurzeln und dem kriegsversehrten, ökonomisch strauchelnden Vater über den übergriffigen Kantor im  Internat („Wäschenummer 41“) bis zum eigenen Verfallen an die Worte, die zugleich fangen und trennen, konstruiert der „Roman der früheren Jahre“ ein detailstarkes Porträt des Künstlers als allzu jungem Mann.

Die mehrfach zitierte Referenz ist Proust, zu denken wäre im Kontext der letzten Romane aber vor allem an Kirchhoffs Generationsgenossen Hanns Josef Ortheil, der ein ähnlich skrupulös-reflektiertes autofiktionales Projekt verfolgt. Vom frühen Motiv des kontaktlosen, mutter- und grossmutternahen Kindes bis zur späteren Auseinandersetzung mit Lacan liessen sich einige Parallelen finden. Nicht um Parallelen, sondern um Intensität ist es Kirchhoff allerdings an diesem Abend zu tun. Als Fixpunkt erweist sich dabei die ungewollte, aber wohl rettende Trennung von den Eltern, die Kirchhoff und seine Schwester in „Projekte der Vollendung“ als Bannung der erfahrenen Flüchtigkeit getrieben habe: Die Schwester ins Projekt des perfekten, immer noch zu optimierenden Hauses, den Sohn in die Konstruktion des gültigen Romans. Aus der kindlichen Ahnung, Erinnerungen derart konservieren zu müssen, dass sie bis zum „nächsten Treffen an Weihnachten reichen“, ist im Falle Kirchhoffs ein gültiges, in seiner Gänze erst noch zu erschliessendes Werk gewonnen. Wer den ersten Schritt dazu machen mag, ist mit dem – erstmals – alle Facetten von Kirchhoffs Schreiben bündelnden, wunderbaren Freundschaftsroman „Eros und Asche“ von 2007 wohl am besten beraten. Dass Kirchhoffs im Publikumsgespräch noch einmal thematisierte „Kraft“ eine in vielen Kämpfen eher gewonnene denn geschwächte ist, lässt sich hier am ehesten verstehen. Erfahren lässt es sich an diesem Abend aber auch so.

«Es passieren Dinge» auf dem Zürichberg und dem Zürichsee

Draussen ist es kalt und regnerisch. Als ich das Schiff bereits 20 Minuten vor Beginn der Veranstaltung betrete, bin ich bei weitem nicht die erste an Bord. Dankbar nehme ich die Tasse Kaffee entgegen, welche mir sogleich angeboten wird. Im überdachten und beheizten Schiff ist es angenehm warm. Die meisten Passagiere sprechen über die Lesungen und Veranstaltungen, welche sie schon besucht haben oder noch besuchen möchten. Die Angebote des verbleibenden Wochenendes sind zahlreich, die Zeit jedoch ist begrenzt. Ein effizientes Zeitmanagement scheint gefragt zu sein.

Die Tische sind weiss eingedeckt und der Apero steht bereit, als das Schiff vom Theatersteg ablegt. Im Zentrum steht ein erhöhter Tisch mit zwei Stühlen. Hier sitzen Verena Rossbacher und Christine Lötscher. Letztere übernimmt die Moderation der Lesung zu Rossbachers neustem Roman. In «Ich war Diener im Hause Hobbs» berichtet Christian, ehemals Diener der Anwaltsfamilie Hobbs, im Rückblick über seine Anstellung bei der wohlhabenden Familie vom Zürichberg. Dabei lässt er seine Gedanken auch zurück in seine Jugendzeit schweifen, welche er im österreichischen Feldkirch verbracht hat. Rossbacher ist ebenfalls in Österreich geboren, lebte dann lange Zeit in Zürich und ist inzwischen in Berlin zuhause. Als Studentin arbeitete Rossbacher selber als Hausmädchen in einer wohlhabenden Familie des Zürichbergs. Die Anstellung als Diener sei also auch in der heutigen Zeit nicht unüblich. Rossbacher spricht von einer «Parallelwelt», welche man im normalen Alltag gar nicht richtig wahrnehme. Aus der Literatur kenne man die «Dienerperspektive» durchaus. Während ihrer Zeit als Dienstmädchen habe sie beispielsweise Robert Walsers Der Gehülfe gelesen.

Ausdrucksstark liest Verena Rossbacher Passagen aus ihrem Roman vor, während das Schiff gemütlich über den Zürichsee tuckert. Die Passagiere nippen an ihrem Weisswein und lachen ob der Ausdrucksweisen und Beschreibungen des Ich-Erzählers Christian. Trotz des tragischen Anfangs des Romans (ein Toter) sowie einer Portion Familiendrama, Täuschung und Verheimlichung, ist die Geschichte sehr humorvoll erzählt. Humor ist für Verena Rossbacher ein bedeutender Bestandteil dieses Romans. Christine Lötscher spricht von einer «emotionalen Achterbahnfahrt», welche die Leser während der Lektüre erleben. An Rossbachers neustes Buch müsse man mit scharfem Auge und wachem Kopf herangehen. Nicht alles ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. So spielt Rossbacher denn auch mit unterschiedlichen Genres. Aber zu viel soll dann doch noch nicht verraten werden. «Es passieren Dinge», sagt Christine Lötscher, worauf die Passagiere lachen. Das Schiff legt an und wir sind wieder in der Realität angelangt. Ich hätte Verena Rossbacher gerne noch etwas länger zugehört.

Nächster Halt Mord

Zürich, Extrafahrten-Haltestelle am Bellevue. Direkt gegenüber das Opernhaus, das in den wolkenverhangenen Himmel ragt. Es ist Schauplatz des ersten Tatorts in Severin Schwendeners neuem Buch Schatten und Spiel, dem dritten Teil seiner Zürcher-Krimi-Trilogie. Es wirkt fast inszeniert, als neben uns ein Auto hält mit – wirklich wahr! – einem angeschnallten Skelett auf der Rückbank. Nun sind wir bereit für Schwendeners Mörder-Tram. Wir fahren los, ohne wirkliches Ziel. Abgesehen von Schwendeners selbsterklärter Hoffnung, dass irgendein Fahrgast am Ende sein Buch kaufen wird.

Als Einstieg wird die Hauptfigur des Krimis vorgestellt: Thomas K. Hilvert, Kommandant der Stadtpolizei Zürich. Ihm zur Seite steht sein Assistent Jaun – ein klassisches Ermittlerduo, das Zürich vom zurückgekehrten Serienmörder befreien soll. Die Figuren bleiben also grösstenteils die gleichen, wie in den vorangegangen Bänden der Trilogie. Genauso nahtlos reiht sich Schwendeners Buch in die Krimi-Tradition ein und bedient sich deren Schemata.

Während der Fahrt räumt Schwendener auf mit der romantischen Vorstellung des Autorendaseins. Er schreibt eben nicht von der Muse geküsst im Lehnstuhl bei Kerzenlicht, sondern bedient sich systematischer Vorgehensweisen, die er sich beim Biologiestudium an der ETH aneignete. Auch inhaltlich greift Schwendener auf seine Arbeitserfahrungen bei der Zürcher Biosicherheit zurück, wenn er zum Beispiel den Mörder Drohbriefe mit ominösem weissen Pulver verschicken lässt. Früher verhasste Mindmaps werden nun zum unausweichlichen Arbeitsinstrument. Daraus entsteht eine von A bis Z durchgeplante Handlung, aus der wir einen weiteren Ausschnitt zu hören bekommen.

Nun liest der Autor aus Sicht des Mörders, auch dies ein altbekanntes Mittel zur Spannungssteigerung. Während das Tram langsam den Escher-Wyss-Platz überquert, werden uns die ersten beiden weiblichen Figuren der heutigen Lesung vorgestellt: Oberstaatsanwältin Greta Hertig, die offenbar den falschen Typen geheiratet hat und Reporterin Céline Allensbach, die mit ihrer journalistischen Spürnase Geheimnisse aufdeckt. Eine Frau, die mit dem Dasein im Schatten ihres reichen Mannes zu kämpfen hat und eine aufgeweckte Journalistin – auch das, zumindest auf den ersten Blick, eher eindimensionale Figurenzeichnungen.

Nächster Halt, Endstation Bellevue. Unsere Krimifahrt ist zu Ende. Schwendeners Krimi zeichnet sich aus durch gut durchdachte Handlungsstränge und braucht sich in der zurzeit blühenden Schweizer Krimilandschaft nicht zu verstecken. Zwar hat er den Krimi nicht neu erfunden, sein Lesepublikum wird er aber mit dem dritten Teil seiner Trilogie bestimmt nicht enttäuschen.

Von Fabienne Suter, Laura Barberio und Olivia Meier.