Ein Leuchtturm im Kinderbuchmeer

Es kam mir vor wie damals in der Schule: Wenige Minuten vor Beginn füllte sich der Raum mit den Kindern. Dabei handelte es sich mehrheitlich um Schüler*innen der 6. Klasse aus der Zürcher Schule Chriesiweg. Die Mädchen und Jungen bildeten zusammen mit erwachsenen Kinder- und Jugendliteraturexperten die Fachjury, welche die Shortlist aus einer Auswahl von 40 Büchern zusammenstellte und vor kurzem nun die Gewinnerin des Preises kürte: Kirsten Boie mit Ein Sommer in Sommerby.

Die Bestsellerautorin ist eine Koryphäe in der Kinder- und Jugendbuchszene und hat bereits über 100 Bücher veröffentlicht – und war heute zum ersten Mal überhaupt in Zürich, wie sie vor ihrer Lesung verriet. In ihrem neusten Buch erzählt die Norddeutsche von drei Stadtkindern, die notgedrungen einen Sommer bei ihrer Oma in der Abgelegenheit verbringen müssen. Martha, die Älteste von den dreien, muss schon bald mit Schrecken feststellen: Hier gibt es weder WLAN, noch Internet, geschweige denn Handy- oder Festnetz. Und auch die Grossmutter ist vom Überraschungsbesuch vorerst nicht wirklich angetan. Wie das wohl herauskommen wird?

Vor der eigentlichen Preisverleihung sprach Ulrike Allmann, Vorsteherin der Fachstelle Bibliotheken der Bildungsdirektion Kanton Zürich, zu Klein und Gross im Publikum. Der Zürcher Kinderbuchpreis sei ein Indikator für wertvolle Kinderliteratur und böte Orientierung im dichten Kinderbuchmarkt für Eltern oder Lehrer*innen, die gerne vorlesen würden, aber nicht wissen, was. Somit ist der Preis auch ein Instrument der Leseförderung. Neueste Studien haben nämlich gezeigt, dass das Vorlesen – und zwar idealerweise ab dem dritten Monat bis zur Ende der Primarstufe – positive Auswirkungen auf die Lesekompetenz habe.

Während die Autorin aus ihrem Buch vorlas, dachte ich mir: Eigentlich könnte man die Vorlese-Altersgrenze auch auf 25 Jahre erhöhen.

Aus dem Tagebuch eines Aschehäufchens

Es dunkelte schon themengerecht ein, als wir beim Friedhof Sihlfeld ankamen. Vor allem die Männertoilette war alles andere als einladend. Eine steile, enge Treppe führte hinab zu einem Raum, der durch neonblaues Licht erleuchtet war. Erinnerte an einen Horrorfilm, nun war ich auf jeden Fall so richtig eingestimmt für die Lesung im Friedhof-Forum, das sich direkt unter der Erde befindet.

Der Kellerraum war restlos gefüllt. Die Leute beschäftigten sich gerne mit dem Makaberen, das sei ein Bedürfnis, sagte mir Christine Süssmann, seit 2012 verantwortlich für Kultur und Kommunikation im Friedhof-Forum der Stadt Zürich. Heute lud das Forum zur Lesung mit der Schweizer Autorin Isabel Morf, inklusive musikalischer Begleitung durch Beat de Roche an der Emmenthaler Halszither. Das Instrument ist notabene für traditionelle Ländlermusik konzipiert, der Musiker gefiel heute aber durch Adaptionen von Kurt Weils Moritat von Mackie Messer, dem Godfather-Thema oder Nancy Sinatras „Bang, Bang“.

Ab der ersten Minute war klar, dass es hier nicht darum ging, dem Publikum einen Schrecken einzujagen. Der Fokus lag viel mehr auf Galgenhumor und Amüsement, jedoch mit der richtigen Prise Ernsthaftigkeit, die beim Tod immer mitschwingt.

Item, die Autorin hatte zwei unveröffentlichte Friedhofsstorys im Köcher und trug sie mit viel dramaturgischem Gespür vor. In beiden Kurzerzählungen ging es um Familienfehden, Geld und Rache. Das erstaunt eigentlich nicht weiter. Die zweite Geschichte war an Originalität aber kaum zu überbieten und spielte nicht auf, sondern unter der Erde: Ein Aschehäufchen in einer Urne, einst ein kräftig gebauter Schreiner, sinniert darüber, wie er sich an seiner Ex-Frau/Witwe rächen kann, weil sie ihn wegen des lieben Geldes hinterrücks ermordete. Die Moral der beiden Geschichten mit vielen unerwarteten Wendungen: «Alles kommt zurück im Leben».

Und so war es dann doch eine sehr lebendige Veranstaltung an einem Ort, der eigentlich anderes vermuten lässt.

 

Für uns bei «Zürich liest»:
Thomas Büeler

Bei Zürich liest betritt Thomas Büeler als Blogger Neuland.

Und dieses Neuland hat zwei Seiten. Einerseits begibt er sich in die düsteren Gebiete, genauer gesagt: in den Untergrund und lauscht den Schauergeschichten von Isabel Morf im Friedhof Forum. Da ist aber auch eine Sonnenseite, wo Kinder lachen und spiel…äh lesen. Passend dazu verfolgt er die Verleihung des Zürcher Kinderbuchpreises. Das scheint jetzt auf den ersten Blick nicht so ganz zusammenzupassen. Wobei, als Kind mochte er Gruselgeschichten auch schon.

Thomas Büeler studiert Germanistik und Geschichte in Zürich und absolviert parallel dazu die Ausbildung zum Lehrdiplom für Maturitätsschulen. Nebenbei arbeitet er in der Migros.