Die Novelle – ungefährlicher als ein Roman

In der Buchhandlung Bodmer stellt Hansjörg Schertenleib sein neues Buch vor – die Novelle Die Fliegengöttin. Nachdem er sich dafür bedankt hat, dass zur Abwechslung «ein richtiges Buch» vorgelesen werden darf, beginnt Schertenleib mit dem Anfang seiner Geschichte. Die Hauptfiguren Willem und Eilis sind seit über 50 Jahren verheiratet. Seit ihrer Alzheimer-Diagnose vor zwei Jahren kümmert sich Willem aufopferungsvoll um seine Frau. Die Geschichte erzählt von einer grossen Liebe zwischen zwei Menschen, die beide ihre Fehler gemacht haben und trotzdem immer füreinander da waren. Über dem einen Tag, der erzählt wird, schwebt das Versprechen, sich gegenseitig zu erlösen, falls einer von beiden ein Pflegefall wird. Dabei ist es zentral, dass die Geschichte in Irland spielt. In der Schweiz beispielsweise würde Willem diese Verantwortung von Exit abgenommen werden und somit die Spannung entfallen.

Den ersten Seiten der Novelle folgt ein Gespräch zwischen Schertenleib und seinem neuen Verleger Daniel Kampa, der zusammen mit der Lektorin ebenfalls anwesend ist und ihm immer noch erlaubt, seine Geschichten mit vielen Naturbeschreibungen anzureichern. Die Gattungsfrage macht den Anfang. Der sonst so freiheitsliebende Schertenleib sei froh über die Gattung als Leitplanke, denn allen Einschränkungen zum Trotz biete sie auch viele Freiheiten. Ausserdem sei ein dünnes Buch wie Die Fliegengöttin im Vergleich zu einem dicken Roman weniger schmerzhaft, sollte es bei der abendlichen Lektüre im Bett wieder einmal auf der Nase landen. Mit dieser Aussage trifft er auf grosse Zustimmung beim Publikum.

Nachdem Schertenleib eine weitere Stelle vorgelesen hat, folgt eine Fragerunde. Auch seine neue Heimat in Maine kommt zur Sprache. Dort schätzt Schertenleib besonders die unverbaute und weite Landschaft – das berühmte amerikanische Freiheitsgefühl -, die ihm in der Schweiz fehlt. Ausserdem ist er begeistert von den vielen Buchhandlungen. «Begegnungsorte wie die Buchhandlung Bodmer», die in jedem noch so kleinen Ort zu finden sind – eine Tatsache, die den Zuschauern ein hoffnungsvolles Lächeln oder wehmütiges «Ohh» entlockt. Neben einigen politischen Abschweifungen: «Jetzt ereifert er sich wieder, der Schertenleib», kommt er auch auf zukünftige Projekte zu sprechen. Seine Leser dürfen sich als nächstes – zur Überraschung aller – auf einen Krimi freuen; Schertenleib bekennt in dem Zusammenhang, selbst sehr gerne Krimis – besonders von Simenon, der ebenfalls seit neuestem im Kampa Verlag erscheint – und Thriller zu lesen. Während diesbezüglich der Schreibprozess bereits beendet ist, steht ein weiteres Projekt erst in den Kinderschuhen. Unter dem Arbeitstitel Ein Plädoyer für die Faulheit soll ein Buch entstehen, das dazu ermutigen soll, auch einmal unproduktiv zu sein und sich dem Hamsterrad zu entziehen. Mit folgenden Worten wird die Lesung schliesslich beendet: «Wer bereits heute damit anfangen möchte und sich zuhause mit einem guten Buch ins Bett legen will, hat die Möglichkeit Die Fliegengöttin zu erwerben und signieren zu lassen».

Ein Abend im Zeichen der Seelenpflege

Als ich mich auf den Weg zum Kulturstudio Felix Wicki begebe, weiss ich noch nicht, was mich an diesem Abend erwarten wird, doch als ich die versteckte Eingangstüre öffne, zeigt sich mir eine kleine Welt wie aus einer anderen Zeit.

In einem liebevoll eingerichteten Café erwarten mich zwei bezaubernde Damen, die mich herzlich willkommen heissen. Neben meiner nostalgischen Eintrittskarte erhalte ich eine kleine Kreidetafel, auf die ich meinen Namen schreibe, um damit meinen Platz im Theater im Untergeschosses zu reservieren – obwohl dies bei 7 Gästen auf 24 Plätze eigentlich nicht nötig wäre. Eingedeckt mit einem feinen Züriträumli (Zürcher Mandelgebäck) warte ich bei einem guten Gespräch, bis die Vorstellung beginnt.

Die etwas kuriose Situation, als wir alle unsere Plätze eingenommen haben und auf die Vorstellung von Felix Wicki warten, spitzt sich noch dadurch zu, dass in der grosse Stille, an die man sich heutzutage gar nicht mehr gewohnt ist, sogar das Knurren der Mägen zu hören ist. Schliesslich geht das Licht an und der reformierte Pfarrer Felix Wicki, der das Kulturstudio selbst aufgebaut hat und mit seinen Schätzen – der Ertrag von jahrzehntelanger Sammlertätigkeit – eingerichtet hat, beginnt seine Vorstellung. Die «inwendig gelernten» Gedichte, die er «auswendig» vorträgt, werden dabei immer wieder durch Spieldosen-Melodien unterbrochen. Gemeinsam begeben wir uns auf eine lyrische Reise von Erich Kästner, über Hermann Hesse zu Joseph von Eichendorff. Zwischen den einzelnen Gedichten erzählt uns Wicki in ebenfalls lyrischer Sprache von seinem Verhältnis zur Lyrik und wie er dank den Gedichten in seinem Gedächtnis seine Zeit in der Armee überlebt hat: «Die Lyrik hilft das Leben zu meistern – sie verheisst, dass in den tiefen Schichten des Lebens etwas schlummert». Auch ein Limerick aus Wickis eigener Feder bekommen wir, wie vor einigen Jahren die Zuhörer des Radio SRF, zu hören und mit dem Abendlied von Matthias Claudius entlässt er uns nach einer guten Stunde in die Nacht, denn «der Mond ist aufgegangen»…

Mit einem wohligen Gefühl im Bauch und nachdem sich Wicki persönlich bei jedem Gast bedankt und verabschiedet hat, gehe ich wieder in die Nacht hinaus. Nun ist mir auch bewusst, wieso das Kulturstudio eine handyfreie Zone ist, denn die einzigartige Atmosphäre ist sowieso nicht medial zu erfassen.

Kryptische Reise in die Vergangenheit

Draussen war es mittlerweile stockdunkel geworden und der eiskalte Wind liess einen vor Kälte erzittern, bis sich endlich die Tore des Grossmünsters öffneten. In die Krypta hinabgestiegen, setzte sich ein etwas modriger Geruch in der Nase fest, der vermutlich von der Feuchtigkeit herrührte. Die Zuschauer, von denen niemand seine Jacke ablegte, warteten bei Kerzenschein gebannt auf das, was auf sie zukommen wird.

Nach einer kurzen Einleitung begann die Lesung mit einem musikalischen Einstieg durch Lucas Niggli, der «gestern Abend noch in Venedig gespielt hatte». Der Schweizer Schlagzeuger und Komponist stand während der Lesung in einem Zwiegespräch mit Norbert Hummelts Lyrik. Der deutsche Dichter aus Berlin las aus seinem letzten Gedichtband Fegefeuer vor. Er führte die Zuhörer durch Kindheitserinnerungen und erzählte von Glück und Erlösung. Obwohl es teilweise schwierig war, sich auf die einzelnen Worte zu konzentrieren und den Sinn der Gedichte zu erschliessen, lauschte man gerne den sorgfältig ausgewählten Zeilen und den bedachten Einsätzen Nigglis. Immer wieder gelang es ihm, mit unheimlichen und aussergewöhnlichen Klängen Gänsehaut zu erzeugen und Melodien zu spielen, die wie Gelächter aus der Hölle klangen und einem kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen liessen.

So lebte die Lesung von Hummelt eindeutig von der einzigartigen Atmosphäre, von der sie umgeben war. Die Krypta des Grossmünsters mit ihren zahlreichen Wölbungen und Säulen bot mit ihrer interessanten Architektur und der Kälte eine ganz besondere Stimmung, die den Abend prägen sollte. Nur von Kerzenschein beleuchtet, bildeten sich an den Wänden unheimliche Schatten, die sich im Rhythmus des Schlagzeuges an den Säulen entlangschlängelten und die Hummelts Dichtung zum Leben erweckten. Dabei sassen die Zuhörer neben den alten Gräbern der Stadtheiligen. Und wo könnte man Zürcherischer lesen als in der Krypta des Grossmünsters, dem ältesten Teil der Kirche in der Altstadt von Zürich, neben fast unsichtbaren Wandmalereien der Stadtpatrone Felix und Regula.

Für uns bei «Zürich liest»:
Laura Barberio

Gerade noch hat sich Laura Barberio für ihre Bachelorarbeit mit Kleists Werken auseinandergesetzt. Zum Start in den Master in Germanistik und Kommunikationswissenschaft & Medienforschung möchte sie sich nun mit Büchern befassen, auf welchen sich noch nicht der Staub der Zeit festgesetzt hat.

So freut sie sich, das erste Mal als Bloggerin in den gegenwärtigen Literaturbetrieb abzutauchen und mittendrin zu sein, wenn Zürich liest  – und das an den wundersamsten Orten. Sie ist gespannt auf die lyrischen Ausflüge in der Krypta des Grossmünsters und das rhythmisierte Spiel mit Sprache bei Musik von historischen Spieldosen. Wie fühlt es sich an, wenn man im Tram zur Abwechslung nicht selbst in die Lektüre versunken ist, sondern einem spannenden Krimi lauschen darf. Und wie entsteht überhaupt so ein Buch? Dies hofft sie im Workshop vom Rotpunktverlag zu erfahren. Ihre Reise durch das literarische Zürich beendet sie mit einer Lesung von Hansjörg Schertenleib zu seiner neuen Novelle Die Fliegengöttin – eine Erzählung über die Liebe der Vergessenden.