«Ein Drittel NZZ»

Die Bibliothek der Museumsgesellschaft am Limmatquai hortet seit 1834, was Zürichs Bildungsbürgertum liest. In die öffentliche Studierstube mit dem exquisiten Fensterblick und dem noch heute erahnbaren Flair eines Gentlemen‘s Club zog es schon Keller, Joyce, Lenin und Trotzki – ihre Benutzerausweise kursieren heute Nachmittag unter den Besuchern, kommentiert von Bibliotheksleiterin Mirjam Schreiber: «Wir wissen nicht genau, was James Joyce bei uns gemacht hat, aber wir sagen immer, er habe hier den Ulysses geschrieben.»

Die Raritäten, die Schreiber liebevoll mit Anekdoten spickt, umfassen Erstausgaben, Kuriositäten aus dem Schriftverkehr oder das Desiderienbuch für die Leserschaft, das auch mal eine virulente Debatte um die Anschaffung des «Blicks» vor sechzig Jahren dokumentiert. Beschwerden über die Beleuchtung des Lesesaals erhellen die Lebensverhältnisse der bibliophilen – und bereits ebenso eloquent-nörgeligen – Vorgängergenerationen: auf den Gestank der Talgkerzen und die unerträgliche Hitze der Gaslampen folgt der unzumutbare Lärm der Stromgeneratoren, die die ersten Glühbirnen speisen.

Versammlungsort für die Führungsbesucher ist das Debattierzimmer im dritten Stock. Auf den Wandvitrinen stehen ästhetisch verfeinerte Aschenbecher mit Schildchen, die ich zunächst für einen Teil der historischen Reliquien halte – tatsächlich darf hier aber diskutiert, gegessen, geraucht werden. Da weht er noch, der liberale Geist der 1830er Jahre, einer Zeit des Aufbruchs, der Verfassungsänderungen, der Zensuraufhebung für Zeitungen. Gut siebzig Jahre später werden sogar eine Frau und drei Fräuleins in der Leserschaft verbucht, darunter die «erste Schwimmerin Zürichs».

Nach der Einführung flüstern wir durch den Lesesaal, schlängeln in Einerkolonnen vorbei am altehrwürdigen Bücherbestand im Keller. Dass diese Lesegesellschaft als eine von wenigen in der Schweiz noch heute existiert, im Jahr 1999 sogar um das Literaturhaus erweitert werden konnte, verdankt sie auch der vorteilhaften Lage. Miete zu bezahlen wäre hier unmöglich, dank der Geschäfte im Erdgeschoss finanziert sie sich zu guten Teilen selbst. Auch die Mitgliederbeiträge sind annehmbar – falls man zum kulturellen one percent Zürichs gehören möchte, kostet das laut Mirjam Schreiber pro Jahr gerade mal «ein Drittel NZZ». Und die Mitglieder sind treu: «Gottfried Keller ist 1846 beigetreten», hier hält sie andächtig inne, «und als Mitglied gestorben». Ein Angebot, das man nach dieser Inaugenscheinnahme kaum ausschlagen kann.

Literatur als Erkältungsbad

Literatur ist eine einsame Angelegenheit, für den Schreibenden wie für den Lesenden. Dennoch weist sie eine soziale Komponente auf, die ebenso wesentlich ist: das Sprechen über sie, das die Leseerfahrung vertieft und – Stichwort Mundpropaganda – ihren Wirkungskreis erweitert. Dieser charmante Vorsatz motiviert am frühen Samstagabend das Blogteam des Schweizer Buchjahrs zur Frage: Wer sitzt da eigentlich auf der Shortlist des Buchpreises? Die Diskussion, geführt von den Studentinnen Selina Widmer und Shantala Hummler, begleitet und eingehegt vom bewährten Kritiker-Duo Steisohn, findet im weiträumigen Ambiente der Kunsthalle statt. «Die Hochhausspringerin», das Debüt der promovierten Filmwissenschaftlerin Julia von Lucadou, spaltet die Runde gleich zu Beginn: Sieht Selina Widmer in der üppigen Metaphorik eine Stärke des Romans, die allerdings auch den Suspense der Geschichte blockiert, und hebt Shantala Hummler die Triftigkeit mancher Details hervor, hält Theisohn dagegen: Zwar sei der Topos der Transparenz eine literarische Mode und der Roman eine Art Schössling von Dave Eggers «The Circle», gleichwohl findet er: «Transparenz macht nur Sinn, wenn es auch etwas zu zeigen gibt.»

Der zweite besprochene Roman, «Die Überwindung der Schwerkraft», Heinz Helles Drittling, ruft dagegen nur wenig Einwände hervor. Zwar erweist sich Hummler als kenntnisreiche Cover-Kritikerin (die Gestaltung des Helle-Romans gelinge mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms «in ein paar Minuten») – inhaltlich und sprachlich ist die Runde durchweg angetan. Theisohn etabliert ein Drei-Stufen-Modell für Helles bisheriges Werk: Erstling «missraten», Nachfolger «solide», vom dritten nun ist er endlich «überzeugt». Steier erläutert die Parallele zu Bärfuss: Der abwesende Koala ist hier der tote Bruder des Erzählers und repräsentiert die Epoche vor den digital natives, stirbt ohne Smartphone, iPad usw: «Das ist noch alte Schule», bilanziert er. Der Roman, finden alle Anwesenden, sei zwar kein «Stream of Consciousness», aber durchgeplaudert, ein Suff-Talk jammernder Männer über die Schrecken des 20. Jahrhunderts («Das 21. Jahrhundert hat ihn nicht so fertiggemacht»).

Auch das dritte besprochene Buch ist ein Debüt-Roman: «Hier ist noch alles möglich», von Gianna Molinari. Hummler stellt den Roman um eine junge Frau und einen Wolf sehr detailliert vor, der in der Tendenz eine eher positive Resonanz erfährt. Durchweg Anerkennung findet Vincenzo Todiscos Roman «Das Eidechsenkind». Todisco, der bislang nur auf Italienisch publiziert hat, schreibt hier erstmals in deutscher Sprache eine, wenn man so will, Secondo-Geschichte. Theisohn beweist seine Marvelisierung, indem er zum «Eidechsenkind» flugs Spiderman assoziiert, Shantala Hummler wiederum erkennt eine vor allem poetologische Nähe Melinda Nadj Abonjis «Schildkrötensoldat». In Verbindung mit Molinaris «Wolf» macht die Vokabel der «Animalisierung» der Schweizer Literatur die Runde, die Theisohn, der sich zu diesem Thema selbst zitiert, mit einem Selbstkommentar beschliesst: «Isso.»

Zuletzt knöpfen sich die Fantastic Four auf der Bühne Peter Stamms neuen Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» vor. «Endlich traut er sich mal was», wird würdigend anerkannt, dennoch mündet das Gespräch in ein ernüchtertes Urteil: «Ein typischer Stamm.» Steier erkennt ein «Stimmungssfumato», «von Stamm durch die Fischerorgel gedreht», und Selina Widmer fragt vorsichtig, aber bestimmt: «Ich weiss nicht, wie es euch mit den Frauen ging, aber …» Ihr stossen die idolisierten Frauenfiguren Stamms auf. Die Runde nickt beifällig: Nach Theisohn fehle noch immer «die vulgäre, schlagkräftige Barfrau». Dennoch, lesen könne man das, schliesst Steier, das sei «Literatur als Erkältungsbad».

Fünf Bücher, vier Kritiker – das Missverhältnis erklärt sich durch den kurzfristigen Ausfall Tom Kummers, der der Gruppe, die sich in der Gemeinschaft vom Leiden an schlechter Literatur therapierte, sicher gut getan hätte. Es wurde ein Format, das trotz aller Freiheiten leider in erster Linie für Soliloquys genutzt wurde. Steier, der Barracuda im Aquarium des Schweizer Literaturbetriebs, der nie Luft zu holen scheint, münzte die eigene Lust am Parlieren elegant und selbstkritisch um in eine Deskription von Helles Roman («ein Redestrom wie jetzt meiner»), gelegentlich zärtlich unterbrochen von Philipp Theisohn («Ich will ja nicht stören, aber ..»). Ausgesprochen unterhaltsam, etwas mehr scripted reality käme der Veranstaltung aber doch zugute. Literatur muss nicht zwangsläufig in Einsamkeit münden, jedenfalls nicht für die Lesenden: Gegen Ende drängt Steier zur Bar, das Publikum beugt sich seiner auctoritas.

Die Novelle – ungefährlicher als ein Roman

In der Buchhandlung Bodmer stellt Hansjörg Schertenleib sein neues Buch vor – die Novelle Die Fliegengöttin. Nachdem er sich dafür bedankt hat, dass zur Abwechslung «ein richtiges Buch» vorgelesen werden darf, beginnt Schertenleib mit dem Anfang seiner Geschichte. Die Hauptfiguren Willem und Eilis sind seit über 50 Jahren verheiratet. Seit ihrer Alzheimer-Diagnose vor zwei Jahren kümmert sich Willem aufopferungsvoll um seine Frau. Die Geschichte erzählt von einer grossen Liebe zwischen zwei Menschen, die beide ihre Fehler gemacht haben und trotzdem immer füreinander da waren. Über dem einen Tag, der erzählt wird, schwebt das Versprechen, sich gegenseitig zu erlösen, falls einer von beiden ein Pflegefall wird. Dabei ist es zentral, dass die Geschichte in Irland spielt. In der Schweiz beispielsweise würde Willem diese Verantwortung von Exit abgenommen werden und somit die Spannung entfallen.

Den ersten Seiten der Novelle folgt ein Gespräch zwischen Schertenleib und seinem neuen Verleger Daniel Kampa, der zusammen mit der Lektorin ebenfalls anwesend ist und ihm immer noch erlaubt, seine Geschichten mit vielen Naturbeschreibungen anzureichern. Die Gattungsfrage macht den Anfang. Der sonst so freiheitsliebende Schertenleib sei froh über die Gattung als Leitplanke, denn allen Einschränkungen zum Trotz biete sie auch viele Freiheiten. Ausserdem sei ein dünnes Buch wie Die Fliegengöttin im Vergleich zu einem dicken Roman weniger schmerzhaft, sollte es bei der abendlichen Lektüre im Bett wieder einmal auf der Nase landen. Mit dieser Aussage trifft er auf grosse Zustimmung beim Publikum.

Nachdem Schertenleib eine weitere Stelle vorgelesen hat, folgt eine Fragerunde. Auch seine neue Heimat in Maine kommt zur Sprache. Dort schätzt Schertenleib besonders die unverbaute und weite Landschaft – das berühmte amerikanische Freiheitsgefühl -, die ihm in der Schweiz fehlt. Ausserdem ist er begeistert von den vielen Buchhandlungen. «Begegnungsorte wie die Buchhandlung Bodmer», die in jedem noch so kleinen Ort zu finden sind – eine Tatsache, die den Zuschauern ein hoffnungsvolles Lächeln oder wehmütiges «Ohh» entlockt. Neben einigen politischen Abschweifungen: «Jetzt ereifert er sich wieder, der Schertenleib», kommt er auch auf zukünftige Projekte zu sprechen. Seine Leser dürfen sich als nächstes – zur Überraschung aller – auf einen Krimi freuen; Schertenleib bekennt in dem Zusammenhang, selbst sehr gerne Krimis – besonders von Simenon, der ebenfalls seit neuestem im Kampa Verlag erscheint – und Thriller zu lesen. Während diesbezüglich der Schreibprozess bereits beendet ist, steht ein weiteres Projekt erst in den Kinderschuhen. Unter dem Arbeitstitel Ein Plädoyer für die Faulheit soll ein Buch entstehen, das dazu ermutigen soll, auch einmal unproduktiv zu sein und sich dem Hamsterrad zu entziehen. Mit folgenden Worten wird die Lesung schliesslich beendet: «Wer bereits heute damit anfangen möchte und sich zuhause mit einem guten Buch ins Bett legen will, hat die Möglichkeit Die Fliegengöttin zu erwerben und signieren zu lassen».

Deutliche Stimmen im Sprachengewirr

Das zwölfköpfige Autorinnen und Musikerkollektiv «Bern ist überall» macht schon länger von sich reden. Dieses Jahr haben die Mitglieder sich Unterstützung aus dem Kosovo geschnappt und kurzerhand eine Tournee organisiert – durch den Kosovo und die Schweiz, CD-Produktion inklusive. Am frühen Samstagabend sind Blerina Rogova Gaxha, Antoine JaccoudShpëtim Selmani und Ariane von Graffenried, musikalisch unterstützt durch Adi Blum am Akkordeon zu Gast im sogar theater und performen zusammen.

Vielsprachigkeit und Vielstimmigkeit. Ganz im Zeichen davon steht die gut einstündige Performance der Fünfertruppe. Das Schöne daran: Jede und jeder von ihnen hat eigene Beiträge – und immer wieder spannen mehrere von ihnen zusammen, um gewisse Stücke gemeinsam vorzutragen. Dabei stellen sie unter Beweis: Das Ganze ist weit mehr als die Summe der Einzelteile. Wie wichtig diese Einzelteile indes sind, zeigt sich schon bald.

Ganz links auf der Bühne steht Antoine Jaccoud. Seine Texte, mehrheitlich englisch oder französisch, trägt er mit leiser Stimme und einem leisen Schmunzeln im Gesicht vor. Er ist der fein lakonische Polemiker des Abends: «We got to heaven, but there were no virgins there. Not a single one. We waited for a while, maybe they were late, but they didn’t come.»

Rechts neben ihm Blerina Rogova Gaxha. Auch sie mit feiner Stimme, aber mit viel persönlicher anmutenden Texten. Mal über ein «Ich», mal über andere Menschen: «Lieber Gott, vergib mir. Ich will sterben zwischen ihren Beinen. – Ali sang über die Liebe».

Ariane von Graffenried, rechts von ihr, deckt mit ihren Texten ein breites Spektrum an Themen ab. Ihr «unique selling point» ist ganz klar die Vielsprachigkeit: «I mim Gring dräit aus im Chreis, à la télé louft Kosova RTK eis».

Shpëtim Selmani ist – zumindest nach seinen Texten zu Urteilen – der politischste der vier. Mit wilder Frisur und Brille redet er über die kosovarische Regierung, über das Heilige – über das, was ihm daran lieb und fremd ist. Sein vielleicht schönstes Bild des Abends: «Kosovo ist ein Holzapfel, der im geröteten Hals eines Deutschen feststeckt.»

Ein Abend der deutlichen Stimmen und der vielen Sprachen also, bei dem die Sprachbarriere zuweilen sogar bereichernd wirkt. Blerina Gaxha und Shpëtim Selmani tragen ihre Texte auf Albanisch vor. Zwar gibt es Übertitel, die das Verständnis erleichtern, doch es gibt noch einen anderen Effekt: Bei einer Sprache, deren Wörter man nicht versteht, achtet man sich beim Zuhören gezwungenermassen viel mehr auf Rhythmen, Reime und die Melodie.

Von der Hochhausspringerin bis zum Eidechsenkind

In der Kunsthalle wurde am Samstagabend die Shortlist des diesjährigen Schweizer Buchpreises diskutiert. Christoph Steier, Philipp Theisohn, Selina Widmer und Shantala Hummler vom Schweizer Buchjahr sitzen bereit, um jedes nominierte Buch zu bewerten und ihre Gedanken dazu zu äußern.

Das Debüt „Die Hochhausspringerin“ der Schriftstellerin Julia von Lucadou wird als erstes betrachtet. Selina Widmer findet das Buch lesenswert, da man in der Geschichte der Hochleistungssportlerin Riva auf viele aktuelle Entwicklungen hingewiesen wird. Außerdem gelinge es dem Text, starke Bilder beim Leser auszulösen, welche zum Weiterlesen antreiben. Doch Christoph Steier fragt sich, wie weit ist Riva von unserer Welt entfernt? Handelt es sich dabei nicht um eine Dystopie? Philipp Theisohn sieht in dem Buch vieles, was schon gewesen ist. In Deutschland wurde das Buch gefeiert. In der Schweiz wurde es bis zu seiner Nominierung nicht wirklich wahrgenommen. Er betont, dass es viele vorherigen Bücher gäbe, welche sich mit der Selbstoptimierung, wie bei Riva, und der allumfassenden Transparenz, auseinandergesetzt haben. Shantala greift auf, dass „Die Hochhausspringerin“ viele sprachliche Innovationen beinhaltet. Es gebe viele Details, welche das Buch lesenswert machen.

Im Gegensatz zu dem Roman von Julia von Lucadou ist „Die Überwindung der Schwerkraft“ von Heinz Helle, eher ein technikfernes Buch. Steier beschreibt es als Überlebensbuch mit wunderbarer Hypotaxe. Auch Selina fand Helles Buch überzeugend. Es zieht einen in einen Strom, welcher einen tatsächlich nahe geht. Derselben Meinung ist auch Shantala, sie findet, dass die Themen berühren und dem Leser gut nahe gebracht werden. Doch sie fragt sich, ob der Protagonist an persönlichen oder doch etwa an politischen und sozialen Problemen scheitert. Philipp Theisohn findet Helles Etwicklung stark. Es beschäftigt sich mit dem deutschen Diskurs und handelt um Schuld und Verantwortung.

Ein weiteres Debüt auf der Liste des Schweizer Buchpreises ist „Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari. Shantala beschreibt den starken Minimalismus des Buches. Theisohn ordnet den Text als abstrakten Text ein, wahrscheinlich der abstrakteste auf der Liste der nominierten Bücher. Es handelt sich dabei um literarische Imagination. Shantala erläutert, dass das Buch viele existenzielle Fragen stellt, doch keine Antworten gibt.

Es macht die Imagination stark. Wie auch Philipp Theisohn betont, alles was geschieht, geschieht potenziell.

 

Anders ist das in „Das Eidechsenkind“ von Vincenzo Todisco. Es ist sein erster deutschsprachiger Roman und handelt von einem Kind, welches aus Ripa in die Schweiz umzieht. Doch dies geschieht unangemeldet. Das Kind darf sich nicht bemerkbar machen und entwickelt besondere Fähigkeiten. Das Erlernen und der Alltag des Kindes werden neutral erzählt. Theisohn findet, dass es kaum emphatische Elemente gibt. Der Text sei ein überraschender Text mit einem schönen Erzählkosmos. Hinzufügt er, dass der Text bei weitem das Thema der Schweizer Sozialgeschichte überschreitet. Es beinhaltet alles, aber doch irgendwie mehr. Auch Steier sieht „Das Eidechsenkind“ als Überraschung der Liste. Es weist eine große poetische Qualität auf. Shantala unterstreicht die Aussagen, denn sie findet den Text sehr berührend.

Das letzte Buch auf der Liste ist „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ von Peter Stamm. Der Roman knüpft an seinen ersten Roman an und ist, wie Theisohn findet, schlank geschrieben. Er betont, dass Stamm sich etwas traut und mit der Autofiktion spielt. Christoph Steier sieht Stamms Text wie alle anderen Texte von Stamm. Selina denkt auch, der Text sei nichts Neues. Trotzdem wollte sie den Roman zu Ende lesen. Dabei stört sie sich aber vor allem an den Frauenfiguren. Auch die anderen sind sich einig, die Umsetzung der Frauenfiguren sei langweilig. Hinsichtlich möglicher fehlender Kandidatinnen und Kandidaten sind sich einig: Die Liste sei gut so, wie sie ist. Für die Kritiker des Schweizer Buchpreises 2018 spezial sind die Bücher von Todisco und Helle literarisch gesehen die Favoriten. Aber auch Stamm werde wohl ins nähere Rennen kommen.

Meze mit Herz

Eine Kochbuchpräsentation in der Buchhandlung Mille et deux feuilles

Vom Libanon in die Türkei, nach Griechenland, Kreta und Zypern – Gabi Kopp reist auf den Spuren von Meze-Kulturen von Küche zu Küche, besucht Köche und Köchinnen und sammelt Rezepte. Sie ist Kochbuchautorin und Illustratorin und verbindet in ihrem neuen Buch beide Leidenschaften. In einer Fotopräsentation nimmt sie uns mit in Meze-Welten und lässt uns so an den Etappen ihrer Reise teilhaben. Meze sind in kleinen Portionen und mehreren Gängen servierte, kalte oder warme Gerichte. Der Titel des Buches, Meze ohne Grenzen, bezieht sich einerseits auf die Vielzahl der Rezepte, andererseits auf die Koch-Inspirationen aus unterschiedlichen Ländern. Zu den bekannteren Speisen gehören etwa Hummus, Baba Ganoush, gefüllte Weinblätter und Tartar.

Neben den vertiefenden Einblicken in die Meze-Kulturen waren für Gabi Kopp auch die unterschiedlichen Begegnungen bereichernd. So beinhaltet ihr über dreihundertseitiges Buch nicht nur einen unglaublichen Rezeptereichtum sondern erzählt in kleinen Porträts auch von den Menschen und den Orten dahinter. Die Autorin spricht beispielsweise von Oum Ali, von ihrer besonderen Kebbeh-Zubereitungsart und wie sie diese verfeinert hat und davon wie die Köchin inzwischen ein eigenes Geschäft führt. Beeindruckend ist, wie der Pitabrotbäcker den Teig auswirft! Von dieser Technik ist die Autorin genauso begeistert wie das Publikum: sie zeigt uns die Bildabfolge des Wurfes gleich zwei Mal. Der Teig fliegt und nimmt beinahe die Grösse eines Lakens an. Was in allen Portraits aber gleichermassen spürbar ist, ist die Hingabe, die grosse Kunstfertigkeit der Köche und Köchinnen und die Liebe zum Kochen – die gleichzeitig wohl wichtigste Zutat.

Denn, so Gabi Kopp, Meze bedeute vor allem: zusammen sein. Teilen. Und für einen Augenblick alle Sorgen vergessen. Im Anschluss an die Präsentation dürfen wir von Gabi Kopps Entdeckungen probieren und teilen unter anderem Pitabrot, Randenhummus, ein libanesisches Hummus, Lammköfte und Teigtaschen mit Lauch-Karotten-Füllung.

«Rotwein steht für den Tod, Weisswein steht für das Leben»

Am Anfang und im Titel der Veranstaltung in der Bar des Hotels Greulich steht die Frage «Was soll das alles?». Zu Gast sind Vanessa Sonder und Patrizia Hausheer, zwei Philosophinnen, die miteinander viel getrunken und ein Buch über ihre Gespräche dabei geschrieben haben. Und tatsächlich wird sich die Frage danach, was das alles soll, an diesem Abend noch ein paarmal stellen. Doch der Reihe nach.

Nach eigener Angabe haben die Autorinnen sechs der sieben Kapitel des Buches in «höchstens leicht angetrunkenem Zustand» verfasst. Diese Kapitel drehen sich um Themen wie den Sinn des Lebens, Liebe, Tod, Sterben oder Selbstverwirklichung. Das siebte Kapitel trägt den Titel «Rausch».

Die Kapitel beginnen jeweils mit einem literarischen Teil, der auf das Gespräch zwischen den beiden Autorinnen hinführt. Das eigentliche Gespräch ist dann jeweils als Dialog konzipiert – und folgt damit einer uralten Tradition, mitsamt der damit verbundenen Probleme.

Obwohl die Dialoge eine mündliche Gesprächssituation simulieren wollen, merkt man ihnen ihre Schriftlichkeit stark an: Wer sagt mal eben im Café an der Ecke einen Satz, der so beginnt: «Wie der französische Philosoph Badiou sagt, und damit greift er eine Tradition auf, die seit Aristoteles besteht, …»? Und vor allem: Wenn zwei Philosophinnen auf Augenhöhe diskutieren, wo ist die Notwendigkeit, diese Tradition extra zu erläutern? Bargespräche in angeheitertem Zustand haben – wir alle wissen das – einen gewissen Zauber. Doch durch die starke Verschriftlichung, die wohl dem Publikum beim Verstehen helfen soll, scheint von diesem Zauber einiges verloren zu gehen. Die Distanz wird zu gross, die Unmittelbarkeit fehlt.

Zwischen den Leseblöcken diskutieren die Autorinnen mit der Moderatorin über die Entstehung und den Zweck ihres Buchs, und sie gehen auf einzelne Themenbereiche aus dem Buch noch zusätzlich ein. Sonder und Hausheer betonen wiederholt, dass ihnen Themen, die nah am Leben liegen, besonders wichtig gewesen seien; Themen, die auch abseits des Philosophiestudiums von Bedeutung sind. Darum eben Tod, Liebe, Leben und so weiter. Ihr Anspruch sei es aber gewesen, zu solchen Themen nicht einfach ein weiteres Ratgeberwerk zu produzieren, sondern ihr Publikum zum Weiterdenken anzuregen.

Schade daran ist, dass ihre Reflexionen leider gar oft nach Gemeinplätzen tönen  («Das Leben ist ein stetes Abschiednehmen von sich selbst»), und dass auch die Diskussionsteile dazwischen zuweilen gar beliebig anmuten. So überrascht auch die Frage, die dem Publikum nach einer Stunde am meisten unter den Nägeln brennt, nicht mehr besonders: «Trinkt ihr lieber Rotwein oder Weisswein?». Die Frage, was das alles sollte, wird indes nicht wirklich beantwortet.

Alexandra Wittmer und Simon Leuthold

Wenn sich Lyrik und Essen vereinen

Wir treten ein. «Sie haben vegetarisch bestellt, oder?» Ja, wir sind im Restaurant. Ein viergängiges Menu erwartet uns, das mit fünf Lesungen von Liebesgedichten verflochten wird.

Der Abend findet im Zürcher Restaurant Münsterhof statt, mit dem Thema Liebe, Erotik, Genuss – und Essen. Die Gäste sitzen an zwei langen Tischen. Doch als man Platz nimmt, bemerkt man ihn, an einem kleinen mit Büchern gedeckten Tisch an einer Ecke: René Grüninger, der die Gedichte leidenschaftlich vorlesen wird. Ein Gemälde aus dem 14. Jahrhundert, das an der Wand des Restaurantsaals hängt und die Themen Essen und Erotik zusammenbringt, hat ihn auf die Idee des Abends gebracht.

Als die Lesung beginnt, herrscht die reinste Stille im Raum, alle hören aufmerksam zu. Durch den Abend nimmt uns René Grüninger auf eine literarische Reise mit, auf der man Else Lasker-Schüler, Bertolt Brecht, Jacques Prévert und vielen anderen begegnet. Die Gedichte folgen aufeinander, manchmal melancholisch, manchmal explizit erotisch. Während der Lesung ist die Stimmung intim, bei jedem evoziert das Vorgelesene etwas anderes. Hände berühren sich, Knie treffen sich, Augen schließen sich. Hinten in der Küche fällt ein Messer zu Boden, wie um wachzurufen, dass bald der nächste Gang folgt. Tatsächlich dauern diese Runden nur zehn bis fünfzehn Minuten. Um die literarischen Klammern zu schließen, äußert sich René Grüninger humorvoll über diese Abwechslung von literarischen Entremets und kulinarischen Gängen: «Und jetzt, sind Sie wieder hungrig? Klatschen wir, damit der nächste Gang kommt!» Jedoch bleibt René Grüninger auf der Insel der Literatur und isst nicht mit. Er erklärt lächelnd, dass er schon gegessen habe, und liest für sich, in Vorbereitung auf die nächste Lesung.

Nach den literarischen Entremets wird die Stimmung gesellig, man spricht miteinander. «Haben Sie sich den Namen des ersten Dichters notiert?», werde ich gefragt. Tatsächlich ist der schöne Moment der Lesung flüchtig: Die Namen der Gedichte werden nur mündlich genannt. Die Begeisterten probieren vor dem nächsten Gang, diese Flüchtigkeit in Namen und Worten festzuhalten.

So verläuft der Abend: Erich Fried, Kurt Tucholsky, Sappho und sogar die Bibel treffen sich mit Tartar, Selleriesuppe und Gemüsestrudel, und die Begegnung fruchtet: wir kehren erfreut nach Hause, mit beglücktem Magen und geschärften Sinnen.

Wortmüll entsorgen

Bei diesem grauslichen Wetter wird man von der feucht-warmen Restaurant-Luft im Karl wie von einer kuschligen Decke empfangen. In dieser gemütlichen Atmosphäre hat Dirk Hülstrunk sein Büro aufgebaut. Ein einfacher Pult, bestehend aus zwei Restaurant-Tischen, bestückt mit einer roten Lampe und einer kärglichen Zimmerpflanze. Dahinter zwei Stellwände, an denen mehrere Kärtchen mit rot durchstrichenen Worten prangen.

Dirk Hülstrunk befreit uns von «überflüssigen Worten». Bei ihm können wir unseren «persönlichen Wortmüll» entsorgen. Und wie man sieht, machen  Besucher*innen von Zürich liest fleissig Gebrauch von dieser Möglichkeit: Hass – durchgestrichen, einige – durchgestrichen, Tussi – durchgestrichen,  nämlich – durchgestrichen.

Mit dem Wort prüfungsrelevant beteilige ich mich am gemeinsamen Worte-Entsorgen. Mit Unterschrift und Stempel bestätige ich meinen Beitrag. Endlich bin ich von den nervenden Nachfragen «Ist das prüfungsrelevant?» zahlreicher Kommiliton*innen, die scheinbar ihr gesamtes Interesse am Stoff nach der Antwort auf diese Frage richten, erlöst. Ein befreiendes Gefühl. Zum Austausch bekomme ich gratis ein Wort als Ersatz zurück. Ganz frisch und unverbraucht lacht mir das Kunstwort Felifädön von der ausgeteilten Karteikarte entgegen. Was ich damit anstelle, steht mir frei.

Hülstrunks «Büro für überflüssige Worte» regt zum Nachdenken an. Können wir uns zusammen mit dem Wortmüll auch von unliebsamen Tatsachen verabschieden? Wäre die Welt besser dran ohne gewisse Worte? Gibt es überhaupt überflüssige Worte? All diese Fragen lassen uns über Sprache diskutieren und regen dazu an, das eigene Reden zu überdenken. In unserem von Informationen überfluteten Alltag und in der oft bürokratisch durchorganisierten Schweiz keine schlechte Idee.

 

Polnisches Intermezzo

Lwiw, Lwow, Lwów, oder Lemberg. Die heute in der Ukraine liegende Stadt hat unzählige Male zwischen polnischer, österreichisch-ungarischer, sowjetischer und ukrainischer Herrschaft gewechselt. Hier spielt sich eine typische sowjetische Familiengeschichte ab: Die Frauen haben mit dem täglichen Leben zu kämpfen, die Männer sind abwesend – weil entweder gestorben, dauernd beschäftigt, Alkoholiker oder in Resignation versunken. In Żanna Słoniowskas polnischem Debütroman haben wir es mit vier Frauen aus vier Generationen zu tun. Diese leben zusammen in einem Haus – wohntechnisch hatte man in der Sowjetunion keine grosse Wahl, erklärt Słoniowska. Auf der einen Seite sei dieser Alltag von einer allgegenwärtigen Nähe und gleichzeitig von einem Unbehagen durchzogen.

Die Geschichte sei im engen Dialog mit polnischen Menschen entstanden. Es ging ihr darum, sie schreibend verstehen zu lernen. Sich selbst habe sie die Frage nach ihrer nationalen Identität erst nach dem Auszug aus Lemberg, der multikulturellen Stadt, gestellt. Auf die Frage von Moderatorin Monika Schäfer, was es denn mit den Wunden der verschiedenen Frauenfiguren auf sich habe, erwidert Słoniowska, dass es sich nicht um Wunden handle, sondern viel eher um Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden – und um den Kampf ums Künstlerdasein.

Auf den in polnischer Sprache vorgelesenen Textausschnitt folgt ein Raunen des Publikums. Verstehen tun’s zwar die wenigsten, aber dem Klang zu lauschen ist auch ein Erlebnis. Später bekommen wir noch eine Passage von Schauspieler Marco Michel gelesen, der sich darum bemüht, Schäfers Hustenanfall mit eiskaltem Weiterlesen zu überbrücken. Dass die Zeit dann schon um ist und wir nichts mehr von der Autorin selbst hören, ist schade. Aber eigentlich ist es ja schön, wenn die Lesung aufhört, wenn man noch mehr hören möchte.