Ein abgeschiedenes Zimmer in einem Schweizer Haus

Josefstrasse 106. Ein unscheinbarer Durchgang führt in den Hinterhof, rechts abbiegen… und hier ist es: das 1998 von Peter Brunner und Doris Aebi in der damaligen Kantine des Hauses gegründete sogar theater. Vor dem Eingang des mint-grünen Hauses inhaliert der eine oder die andere noch kurz eine Zigi  – oder bloss die nasskalte End-Oktoberluft? Es ist frisch hier draussen und das wohlig warme Interieur lockt – deshalb ab ins Innere zu Kosovë is everywhere.

Nach der donnerstäglichen Lesung von Dominic Oppliger im stockdunklen Raum mit Nachttischlampe (so bleibt auch das weisseste Notizbuch zwangsläufig leer..) nun schon zum zweiten Mal eine herzliche Begrüssung der Co-Leiterin Tamaris Mayer. Die Literaturveranstalterin Mayer, die von 2011 – 2015 zürich liest mitgegründet und aufgebaut hat und beim Luzerner Verlag Der gesunde Menschenversand  (spezialisiert auf Publikationen von Spoken Word und Bühnentexten) tätig ist, hat in diesem Sommer gemeinsam mit der Regisseurin Ursina Greuel die Verantwortung des beliebten Kleintheaters an der Josefstrasse 106 übernommen. Es ist der erste Leitungswechsel in seiner bereits 20-jährigen Geschichte! Eine Schande, dass ich als mehrjährige Kreis-5-Bewohnerin nicht schon früher den Weg hierhin gefunden habe, denk ich mir… Denn die Atmosphäre ist sehr laid-back und sympathisch, man fühlt sich sofort willkommen im sogar theater. Weder zu gross noch zu klein ist das Lokal, die hauseigene, offene Bar lädt nach der Vorstellung zum Diskutieren und Verweilen ein, und die mal leicht erhobene, mal gar nicht vorhandene Bühne sagt: hier will man Sprache nicht auf den Sockel stellen, sondern direkt und ohne Schnickschnack vermitteln.

Mit vier Autor*innen und einem Musiker ist das Spoken-Word-Ensemble Bern ist überall angereist, im Gepäck Ausschnitte aus ihrem neuesten Projekt Kosovë is everywhere. Ein Dialog zwischen der literarischen Welt des Kosovo und der Schweiz soll in Gang gebracht werden, kündigt das Programmheft an. Doch gelingt dies in der 75-minütigen Präsentation tatsächlich? Die einzeln, im Duo oder im lautstarken Chor vorgetragenen Texte von Antoine Jaccoud, Blerina Rogova Gaxha, Shpëtim Selmani und Ariane von Graffenried führen jedenfalls die Bandbreite aktuellen literarischen Schaffens in den Schweizer Landessprachen Französisch und (Schweizer-)deutsch sowie in Albanisch eindrücklich vor. Die fremdsprachigen Texte sind untertitelt, was vom Publikum ein aufmerksames Mitlesen- und hören erfordert. Oder man konzentriert sich ganz auf die unterschiedliche Musikalität und den Rhythmus der Sprachen und lässt sich vom mal leiseren und nachdenklicheren, mal lauteren und fordernderen Stimmen-Teppich berieseln.

Doch trotz der pointierten, scharfsinnigen Beiträge der Autoren entfaltet der angekündigte Dialog zwischen der literarischen Welt des Kosovo und der Schweiz nicht sein ganzes Potential. Zu platt und oberflächlich, wenn auch sehr unterhaltsam wirken Antoine Jaccouds Beschreibungen von Tattoos und Piercings auf der runzeligen Haut exjugoslawischer Grosis und Grossväter in einem Schweizer Altersheim im Jahre 2063 neben den scharfen, politisch motivierten Sprach-Kreationen von Shpëtim Selmani oder der nachdenklich stimmenden Poesie von Blerina Rogova Gaxha. Ansätze eines fruchtbaren Austauschs zeigen sich immer dann, wenn die einzelnen Sprachen direkt miteinander konfrontiert werden und gleichzeitig erklingen. Denn im allgemeinen Stimmengemurmel scheint sich noch immer die aktuelle Beziehung der Schweiz mit ihrer inoffiziellen fünften Landessprache zu widerspiegeln. Es bleibt also zu hoffen, dass der in Gang gebrachte Dialog weitergeführt und vertieft und der albanischen Kulturproduktion auch in der Schweiz vermehrt eine Bühne gegeben wird. Kosovë is everywhere ist ein wichtiger Anfang für einen sprachübergreifenden Austausch, soll Kosovo in Zukunft kein „abgeschiedenes Zimmer in einem Schweizer Haus“ (Shpëtim Selmani) mehr bleiben.

Wortmusik

«I read the news today oh boy, about a lucky man who made the grade…», erklingt es vom einsamen Plattenspieler auf der Bühne. Samtig weiche Klarinettenklänge ertönen von Michael Jaeger. Die Worte der Beatles mischen sich mit seiner Musik. Ich sehe mich um. Nur einige wenige haben sich zu dieser späten Stunde noch im «Karl» eingefunden, um der letzten Veranstaltung des Tages zu lauschen. Mir fällt auf, dass ich mit Abstand die jüngste Person im Publikum bin – ob ich auch die einzige im Saal bin, die nicht zur «Plattenspielergeneration» gehört? Meine Ge-Ge-Generation, so heisst auch das neuste Werk von Hugo Ramnek, aus dem er heute für uns lesen will. Darin hat er, wie er sagt, Texte zu bekannten Blues- und Rockscheiben geschrieben. Ausserdem speziell: Jeder, der sein Buch kauft, bekommt nicht nur die Texte, sondern zu jedem Text auch gleich noch einen Link, der auf den entsprechenden Song verweist. Auch im Pack mit dabei, eine Datei, bei dem der/die Leser/-in Ramneks Texte von ihm selbst laut gelesen erleben kann. Sieht so moderne Lyrik aus? Poesie, Musik und Performance in einem unter Einbezug moderner Technologien und Medien – das hört sich schon eher nach meiner Generation an. Ramneks Lesung spiegelt das Verfahren seines Buches gut wider: Text und Musik, Lesung und Performance verschwimmen vollkommen. Mal hüpfen die beiden Männer wie zwei junge Schwermetaller über die Bühne, dann wieder lauschen wir dem stillen Wortlaut von Ramneks Gedichten, untermalt vom Gesang von Jaegers Klarinette (oder ist es umgekehrt?). Ein einzigartiger Klang entsteht, von dem ich nicht mehr sagen kann, ob er Text oder Musik ist. «Sang sie? Sprach sie nicht? Las er? Sang er nicht?», liest Ramnek an einer Stelle. Oder singt er?

Schreiben und Denken in der Kunsthalle

Im Rahmen des «Wochenendes über Schrift» findet in der Kunsthalle am Sonntag Nachmittag eine Reihe von Kurzvorträgen über das Verhältnis zwischen Schreiben und Denken statt. Dabei geben WissenschaftlerInnen Einblicke in ihren aktuellen Forschung. Am spannendsten ist der Vortrag der Germanistin Christa Dürscheid über den Einfluss der Schreibwerkzeuge auf das Schreiben im heutigen Zeitalter. Sie erwähnt mit Humor wie die Autokorrektur auf dem Smartphone «dir» durch «Bier» ersetzt und so einen spielerischen Umgang mit der Sprache ermöglicht. Die Linguistin zeigt auch, wie die immer häufigere Verwendung von Emojis anstelle von ganzen Wörtern dazu führt, dass unser digitales Schreiben immer mehr aus Bildern und immer weniger aus Buchstaben besteht. Die Zuhörer sind u.a. auch eingeladen, nach China, Japan, Nordafrika oder noch Indien zeitlich in Gedanken zu reisen. Es stellt sich z.B. heraus, dass Schrift in ihren Anfängen nicht nur der Kommunikation diente, wie man aus heutiger Perspektive annehmen könnte, sondern in den unterschiedlichen Kulturräumen zu rituellen, wirtschaftlichen oder noch verwaltungstechnischen Zwecken eingesetzt wurde. Vieles mehr wird in den 30 minütigen Vorträgen präzise angesprochen, aber es stellt sich die Frage, ob der Fokus nicht mehr auf die Vermittlung hätte gesetzt werden können: Wörter wie «logographisch» oder «phonographisch» – um nur einige zu nennen – hätten eine genauere Erklärung verdient. Es hätte ausserdem auf teilweise komplizierte Detaillierungen zugunsten der besseren Veranschaulichung verzichtet werden können. Nach zwei Stunden ununterbrochener Vorträge ist man froh, sich mit einer klassischen indianischen Performanz erholen zu dürfen. Der nächste Schritt der Veranstaltung ist interaktiv gedacht: An fünf Stationen, die im Saal verteilt sind, darf man selber experimentieren, Ansichtskarten auf japanisch schreiben, Memory spielen und noch viel mehr. Die Wissenschaftler sind sehr zugänglich, beantworten unsere Fragen und lassen sich auf spontane Gespräche ein. Eben: Wissenschaft kann auch Spass machen.

 

 

 

«Ein Drittel NZZ»

Die Bibliothek der Museumsgesellschaft am Limmatquai hortet seit 1834, was Zürichs Bildungsbürgertum liest. In die öffentliche Studierstube mit dem exquisiten Fensterblick und dem noch heute erahnbaren Flair eines Gentlemen‘s Club zog es schon Keller, Joyce, Lenin und Trotzki – ihre Benutzerausweise kursieren heute Nachmittag unter den Besuchern, kommentiert von Bibliotheksleiterin Mirjam Schreiber: «Wir wissen nicht genau, was James Joyce bei uns gemacht hat, aber wir sagen immer, er habe hier den Ulysses geschrieben.»

Die Raritäten, die Schreiber liebevoll mit Anekdoten spickt, umfassen Erstausgaben, Kuriositäten aus dem Schriftverkehr oder das Desiderienbuch für die Leserschaft, das auch mal eine virulente Debatte um die Anschaffung des «Blicks» vor sechzig Jahren dokumentiert. Beschwerden über die Beleuchtung des Lesesaals erhellen die Lebensverhältnisse der bibliophilen – und bereits ebenso eloquent-nörgeligen – Vorgängergenerationen: auf den Gestank der Talgkerzen und die unerträgliche Hitze der Gaslampen folgt der unzumutbare Lärm der Stromgeneratoren, die die ersten Glühbirnen speisen.

Versammlungsort für die Führungsbesucher ist das Debattierzimmer im dritten Stock. Auf den Wandvitrinen stehen ästhetisch verfeinerte Aschenbecher mit Schildchen, die ich zunächst für einen Teil der historischen Reliquien halte – tatsächlich darf hier aber diskutiert, gegessen, geraucht werden. Da weht er noch, der liberale Geist der 1830er Jahre, einer Zeit des Aufbruchs, der Verfassungsänderungen, der Zensuraufhebung für Zeitungen. Gut siebzig Jahre später werden sogar eine Frau und drei Fräuleins in der Leserschaft verbucht, darunter die «erste Schwimmerin Zürichs».

Nach der Einführung flüstern wir durch den Lesesaal, schlängeln in Einerkolonnen vorbei am altehrwürdigen Bücherbestand im Keller. Dass diese Lesegesellschaft als eine von wenigen in der Schweiz noch heute existiert, im Jahr 1999 sogar um das Literaturhaus erweitert werden konnte, verdankt sie auch der vorteilhaften Lage. Miete zu bezahlen wäre hier unmöglich, dank der Geschäfte im Erdgeschoss finanziert sie sich zu guten Teilen selbst. Auch die Mitgliederbeiträge sind annehmbar – falls man zum kulturellen one percent Zürichs gehören möchte, kostet das laut Mirjam Schreiber pro Jahr gerade mal «ein Drittel NZZ». Und die Mitglieder sind treu: «Gottfried Keller ist 1846 beigetreten», hier hält sie andächtig inne, «und als Mitglied gestorben». Ein Angebot, das man nach dieser Inaugenscheinnahme kaum ausschlagen kann.

Tante Leguan geht ab

«Zehn, neun, acht, sieben, sechs und so weiter», zählt Matto Kämpf den Countdown zu seiner eigenen Show, während neben ihm die grossartige Sibylle Aeberli an der Gitarre abrockt. Drei, zwei, eins und los geht die Lesung. Es ist wirklich eine Lesung, denn heute geht’s im Helsinki nicht nur um Gitarreschrammeln, sondern auch um Kämpfs neustes Buch. «Tante Leguan» heisst das Oeuvre und handelt von den Leiden drei junger Kulturjournalisten, die für den «Idiot» die Feder schwingen. Oder eben auch nicht. Denn mit 35 sind die Journis zwar tatsächlich noch jung, doch fühlen sie sich alt und verbraucht (was in Anbetracht ihres Alkoholkonsums nicht erstaunt) und das locker flockige Schreiben von einst ist auch eher stockend und harzig.

Die Lesung ist nun schon in vollem Gange, Kämpf und Aeberli wechseln sich im Vortragen ab, in bestem Schweizerhochdeutsch, und entführen das Publikum in die triste Welt des Grossraumbüros.

Die drei Journis langweilen sich gehörig. Erst als eines Tages ein Brief mit der CD der chinesischen Punkband «Tante Leguan» in die Redaktion flattert, machen sich die drei auf die Spuren dieser ominösen Tante. Sie reisen nach China, spesengedeckt und unter dem Vorwand, eine Sommerreihe zum tiefgründigen Titel «Peking – Einst und Jetzt» herauszugeben. Die Reportagen dazu sind, nach Eigeneinschätzung «unter aller Sau», doch dem Chef ist’s egal und weitere Trips nach Neapel und Lyon werden den «Reiseverführern» finanziert.

Die Journis dinieren, philosophieren und fabulieren. Letzteres mit auffälliger Häufigkeit über Musik. Diese Musik kommt dann auch im Helsinki live zum Zuge. Meisterhaft authentisch wird der im Buch beschriebene schräge und oftmals einfach nur schlechte Sound live vertont, wobei sich Kämpf wie ein Quasimodo über sein Keyboard beugt und Aeberli an der Gitarre abgeht wie ein grosser Rockstar.

Ein Highlight ist dann auch, wo die beiden «80er Jahre spielen», mit den einfachen, doch grandiosen Requisiten von zwei Militärtaschenlampen, mit grünem und rotem Filter.
Das Publikum johlt – je länger die Show dauert, desto mehr – und die Bar wird rege besucht, wobei ein Zusammenhang vermutet wird. Mit einer Witzdichte von ca. 30 Lachern pro Minute ist dann auch die Schenkelklopfer-Falle unbestreitbar da, doch das ist dem Publikum egal. Soll sie doch zuschnappen, sind sich die Zuschauer einig, wir lassen uns gerne fangen. Die Stimmung ist nämlich prima und die Lesung ein voller Erfolg. Prost auf dich, liebe Tante Leguan!

Ein Abend im Zeichen der Seelenpflege

Als ich mich auf den Weg zum Kulturstudio Felix Wicki begebe, weiss ich noch nicht, was mich an diesem Abend erwarten wird, doch als ich die versteckte Eingangstüre öffne, zeigt sich mir eine kleine Welt wie aus einer anderen Zeit.

In einem liebevoll eingerichteten Café erwarten mich zwei bezaubernde Damen, die mich herzlich willkommen heissen. Neben meiner nostalgischen Eintrittskarte erhalte ich eine kleine Kreidetafel, auf die ich meinen Namen schreibe, um damit meinen Platz im Theater im Untergeschosses zu reservieren – obwohl dies bei 7 Gästen auf 24 Plätze eigentlich nicht nötig wäre. Eingedeckt mit einem feinen Züriträumli (Zürcher Mandelgebäck) warte ich bei einem guten Gespräch, bis die Vorstellung beginnt.

Die etwas kuriose Situation, als wir alle unsere Plätze eingenommen haben und auf die Vorstellung von Felix Wicki warten, spitzt sich noch dadurch zu, dass in der grosse Stille, an die man sich heutzutage gar nicht mehr gewohnt ist, sogar das Knurren der Mägen zu hören ist. Schliesslich geht das Licht an und der reformierte Pfarrer Felix Wicki, der das Kulturstudio selbst aufgebaut hat und mit seinen Schätzen – der Ertrag von jahrzehntelanger Sammlertätigkeit – eingerichtet hat, beginnt seine Vorstellung. Die «inwendig gelernten» Gedichte, die er «auswendig» vorträgt, werden dabei immer wieder durch Spieldosen-Melodien unterbrochen. Gemeinsam begeben wir uns auf eine lyrische Reise von Erich Kästner, über Hermann Hesse zu Joseph von Eichendorff. Zwischen den einzelnen Gedichten erzählt uns Wicki in ebenfalls lyrischer Sprache von seinem Verhältnis zur Lyrik und wie er dank den Gedichten in seinem Gedächtnis seine Zeit in der Armee überlebt hat: «Die Lyrik hilft das Leben zu meistern – sie verheisst, dass in den tiefen Schichten des Lebens etwas schlummert». Auch ein Limerick aus Wickis eigener Feder bekommen wir, wie vor einigen Jahren die Zuhörer des Radio SRF, zu hören und mit dem Abendlied von Matthias Claudius entlässt er uns nach einer guten Stunde in die Nacht, denn «der Mond ist aufgegangen»…

Mit einem wohligen Gefühl im Bauch und nachdem sich Wicki persönlich bei jedem Gast bedankt und verabschiedet hat, gehe ich wieder in die Nacht hinaus. Nun ist mir auch bewusst, wieso das Kulturstudio eine handyfreie Zone ist, denn die einzigartige Atmosphäre ist sowieso nicht medial zu erfassen.

Deutliche Stimmen im Sprachengewirr

Das zwölfköpfige Autorinnen und Musikerkollektiv «Bern ist überall» macht schon länger von sich reden. Dieses Jahr haben die Mitglieder sich Unterstützung aus dem Kosovo geschnappt und kurzerhand eine Tournee organisiert – durch den Kosovo und die Schweiz, CD-Produktion inklusive. Am frühen Samstagabend sind Blerina Rogova Gaxha, Antoine JaccoudShpëtim Selmani und Ariane von Graffenried, musikalisch unterstützt durch Adi Blum am Akkordeon zu Gast im sogar theater und performen zusammen.

Vielsprachigkeit und Vielstimmigkeit. Ganz im Zeichen davon steht die gut einstündige Performance der Fünfertruppe. Das Schöne daran: Jede und jeder von ihnen hat eigene Beiträge – und immer wieder spannen mehrere von ihnen zusammen, um gewisse Stücke gemeinsam vorzutragen. Dabei stellen sie unter Beweis: Das Ganze ist weit mehr als die Summe der Einzelteile. Wie wichtig diese Einzelteile indes sind, zeigt sich schon bald.

Ganz links auf der Bühne steht Antoine Jaccoud. Seine Texte, mehrheitlich englisch oder französisch, trägt er mit leiser Stimme und einem leisen Schmunzeln im Gesicht vor. Er ist der fein lakonische Polemiker des Abends: «We got to heaven, but there were no virgins there. Not a single one. We waited for a while, maybe they were late, but they didn’t come.»

Rechts neben ihm Blerina Rogova Gaxha. Auch sie mit feiner Stimme, aber mit viel persönlicher anmutenden Texten. Mal über ein «Ich», mal über andere Menschen: «Lieber Gott, vergib mir. Ich will sterben zwischen ihren Beinen. – Ali sang über die Liebe».

Ariane von Graffenried, rechts von ihr, deckt mit ihren Texten ein breites Spektrum an Themen ab. Ihr «unique selling point» ist ganz klar die Vielsprachigkeit: «I mim Gring dräit aus im Chreis, à la télé louft Kosova RTK eis».

Shpëtim Selmani ist – zumindest nach seinen Texten zu Urteilen – der politischste der vier. Mit wilder Frisur und Brille redet er über die kosovarische Regierung, über das Heilige – über das, was ihm daran lieb und fremd ist. Sein vielleicht schönstes Bild des Abends: «Kosovo ist ein Holzapfel, der im geröteten Hals eines Deutschen feststeckt.»

Ein Abend der deutlichen Stimmen und der vielen Sprachen also, bei dem die Sprachbarriere zuweilen sogar bereichernd wirkt. Blerina Gaxha und Shpëtim Selmani tragen ihre Texte auf Albanisch vor. Zwar gibt es Übertitel, die das Verständnis erleichtern, doch es gibt noch einen anderen Effekt: Bei einer Sprache, deren Wörter man nicht versteht, achtet man sich beim Zuhören gezwungenermassen viel mehr auf Rhythmen, Reime und die Melodie.

Wenn sich Lyrik und Essen vereinen

Wir treten ein. «Sie haben vegetarisch bestellt, oder?» Ja, wir sind im Restaurant. Ein viergängiges Menu erwartet uns, das mit fünf Lesungen von Liebesgedichten verflochten wird.

Der Abend findet im Zürcher Restaurant Münsterhof statt, mit dem Thema Liebe, Erotik, Genuss – und Essen. Die Gäste sitzen an zwei langen Tischen. Doch als man Platz nimmt, bemerkt man ihn, an einem kleinen mit Büchern gedeckten Tisch an einer Ecke: René Grüninger, der die Gedichte leidenschaftlich vorlesen wird. Ein Gemälde aus dem 14. Jahrhundert, das an der Wand des Restaurantsaals hängt und die Themen Essen und Erotik zusammenbringt, hat ihn auf die Idee des Abends gebracht.

Als die Lesung beginnt, herrscht die reinste Stille im Raum, alle hören aufmerksam zu. Durch den Abend nimmt uns René Grüninger auf eine literarische Reise mit, auf der man Else Lasker-Schüler, Bertolt Brecht, Jacques Prévert und vielen anderen begegnet. Die Gedichte folgen aufeinander, manchmal melancholisch, manchmal explizit erotisch. Während der Lesung ist die Stimmung intim, bei jedem evoziert das Vorgelesene etwas anderes. Hände berühren sich, Knie treffen sich, Augen schließen sich. Hinten in der Küche fällt ein Messer zu Boden, wie um wachzurufen, dass bald der nächste Gang folgt. Tatsächlich dauern diese Runden nur zehn bis fünfzehn Minuten. Um die literarischen Klammern zu schließen, äußert sich René Grüninger humorvoll über diese Abwechslung von literarischen Entremets und kulinarischen Gängen: «Und jetzt, sind Sie wieder hungrig? Klatschen wir, damit der nächste Gang kommt!» Jedoch bleibt René Grüninger auf der Insel der Literatur und isst nicht mit. Er erklärt lächelnd, dass er schon gegessen habe, und liest für sich, in Vorbereitung auf die nächste Lesung.

Nach den literarischen Entremets wird die Stimmung gesellig, man spricht miteinander. «Haben Sie sich den Namen des ersten Dichters notiert?», werde ich gefragt. Tatsächlich ist der schöne Moment der Lesung flüchtig: Die Namen der Gedichte werden nur mündlich genannt. Die Begeisterten probieren vor dem nächsten Gang, diese Flüchtigkeit in Namen und Worten festzuhalten.

So verläuft der Abend: Erich Fried, Kurt Tucholsky, Sappho und sogar die Bibel treffen sich mit Tartar, Selleriesuppe und Gemüsestrudel, und die Begegnung fruchtet: wir kehren erfreut nach Hause, mit beglücktem Magen und geschärften Sinnen.

Wortmüll entsorgen

Bei diesem grauslichen Wetter wird man von der feucht-warmen Restaurant-Luft im Karl wie von einer kuschligen Decke empfangen. In dieser gemütlichen Atmosphäre hat Dirk Hülstrunk sein Büro aufgebaut. Ein einfacher Pult, bestehend aus zwei Restaurant-Tischen, bestückt mit einer roten Lampe und einer kärglichen Zimmerpflanze. Dahinter zwei Stellwände, an denen mehrere Kärtchen mit rot durchstrichenen Worten prangen.

Dirk Hülstrunk befreit uns von «überflüssigen Worten». Bei ihm können wir unseren «persönlichen Wortmüll» entsorgen. Und wie man sieht, machen  Besucher*innen von Zürich liest fleissig Gebrauch von dieser Möglichkeit: Hass – durchgestrichen, einige – durchgestrichen, Tussi – durchgestrichen,  nämlich – durchgestrichen.

Mit dem Wort prüfungsrelevant beteilige ich mich am gemeinsamen Worte-Entsorgen. Mit Unterschrift und Stempel bestätige ich meinen Beitrag. Endlich bin ich von den nervenden Nachfragen «Ist das prüfungsrelevant?» zahlreicher Kommiliton*innen, die scheinbar ihr gesamtes Interesse am Stoff nach der Antwort auf diese Frage richten, erlöst. Ein befreiendes Gefühl. Zum Austausch bekomme ich gratis ein Wort als Ersatz zurück. Ganz frisch und unverbraucht lacht mir das Kunstwort Felifädön von der ausgeteilten Karteikarte entgegen. Was ich damit anstelle, steht mir frei.

Hülstrunks «Büro für überflüssige Worte» regt zum Nachdenken an. Können wir uns zusammen mit dem Wortmüll auch von unliebsamen Tatsachen verabschieden? Wäre die Welt besser dran ohne gewisse Worte? Gibt es überhaupt überflüssige Worte? All diese Fragen lassen uns über Sprache diskutieren und regen dazu an, das eigene Reden zu überdenken. In unserem von Informationen überfluteten Alltag und in der oft bürokratisch durchorganisierten Schweiz keine schlechte Idee.