„Morgen geht es richtig los!“

Mit der feierlichen Eröffnung im Kaufleuten begann gestern die achte Ausgabe von Zürich liest. Nach den gross intendierten, männerlastigen Eröffnungsreden der letzten Jahre war es diesmal an  Julia Weber, einen neuen Ton zu setzen. Mit musikalischer und lyrischer Unterstützung von Bibi Vaplan gelang ein Auftakt, dessen Kür mit feinen Echos und poetischer Eigenständigkeit überzeugte. 

Im umgekehrten Schlaraffenland mochte sich wähnen, wer am Dienstagabend nach ausgiebigem Apéro (angekündigt war nur ein Glas Prosecco) im Festsaal des Kaufleuten landete. Nüchtern bestuhlt, hell erleuchtet. Unprätentiös ging es denn auch los mit Gruss- und Dankesworten der Veranstalter, der Präsidentin des Zürcher Buchhändler- und Verlegerverbands Janka Wüest und des Zürcher Kulturdirektors Peter Haerle.

Gerade als der Pflichtteil sich zu ziehen droht, bittet der heiter-gelassene Moderator und Co-Festivalleiter Martin Walker mit Bibi Vaplan die erste Künstlerin auf die Bühne. Ihre kraftvolle Performance eigener, auf Rätoromanisch verfasster Lieder gefällt. In die Tasten haut zeitgleich und gut hörbar auch die Zürcher Autorin Julia Weber, die an diesem Abend ihren sogenannten „Literaturdienst“ versieht: An der Hermes tippend, lässt sie den Blick durch den vollbesetzten Saal wandern auf der Suche nach Impressionen für ihre  erst noch zu verfassende Eröffnungsrede.

Während Bibi Vaplan ihre Lieder mit versonnenen Zwischenansagen über den Zusammenhang von Musik, Sprache und Herz, das Aussparen der eigenen Beziehungsthematik oder die geheime Poesie des Regens und kaputter Uhren anreichert, ist es langsam an der Zeit für die Literatur. In deren Zeichen das Festival, erkennbar gemacht von und für Lesemenschen, steht. Den Anfang macht abermals Bibi Vaplan, die einige Gedichte aus ihrem zweisprachigen Debütband E las culurs dals pleds/Und die Farben der Poesie liest. Die zunächst den Nachweis erbringen, dass tatsächlich niemand im Saal Vallader spricht – „sonst hätten Sie an dieser Stelle gelacht“ -, insgesamt aus dem Schatten der musikalischen Performance jedoch nicht ganz heraustreten können. Ob es daran liegt, dass die im Engadin aufgewachsene und an der ZHDK diplomierte Künstlerin nach eigenem Bekunden beim Schreiben „lustiger“ ist als beim Komponieren?

Dass sich höchstes ästhetisches Niveau und Humor nicht ausschliessen, stellt dann Julia Weber nachdrücklich unter Beweis. Während der erste Teil ihrer Eröffnungsrede „Liebe Kunst, mir geht gut, wie geht es dir?“ im heimischen Atelier verfertigt wurde und ein ebenso unbestechliches wie performativ anschauliches Plädoyer für „komplexe“ weibliche Schreibweisen jenseits des „Elfenbeinturms“ formuliert, übertrifft der zweite, vor Ort verfasste Teil den vorgeschriebenen noch: Prägnant, humorvoll, stilistisch über alle Register verfügend verwebt die für ihren Debütroman Immer ist alles schön vielfach ausgezeichnete Zürcherin die Impressionen des Abends zu einer Art Langgedicht, dass sie lakonisch-pointiert vorträgt. Dass und wie die von allen beobachteten Ereignisse in Webers Sprache ein poetisches Eigenleben gewinnen, gehört zu den Triumphen des Abends. Die Erleichterung der Büchermenschen über diese spät, aber umso wuchtiger zuteil gewordene literarische Erfahrung  füllt den Saal. Martin Walkers nach langem Applaus nachgeschobene Versicherung, morgen gehe es „dann richtig los“, mutete da wie ein charmanter Treppenwitz an. War es doch gerade losgegangen, richtig „richtig“. Und für alle, die nicht dabei sein konnten, ist heute ohnehin schon morgen.