Kryptische Reise in die Vergangenheit

Draussen war es mittlerweile stockdunkel geworden und der eiskalte Wind liess einen vor Kälte erzittern, bis sich endlich die Tore des Grossmünsters öffneten. In die Krypta hinabgestiegen, setzte sich ein etwas modriger Geruch in der Nase fest, der vermutlich von der Feuchtigkeit herrührte. Die Zuschauer, von denen niemand seine Jacke ablegte, warteten bei Kerzenschein gebannt auf das, was auf sie zukommen wird.

Nach einer kurzen Einleitung begann die Lesung mit einem musikalischen Einstieg durch Lucas Niggli, der «gestern Abend noch in Venedig gespielt hatte». Der Schweizer Schlagzeuger und Komponist stand während der Lesung in einem Zwiegespräch mit Norbert Hummelts Lyrik. Der deutsche Dichter aus Berlin las aus seinem letzten Gedichtband Fegefeuer vor. Er führte die Zuhörer durch Kindheitserinnerungen und erzählte von Glück und Erlösung. Obwohl es teilweise schwierig war, sich auf die einzelnen Worte zu konzentrieren und den Sinn der Gedichte zu erschliessen, lauschte man gerne den sorgfältig ausgewählten Zeilen und den bedachten Einsätzen Nigglis. Immer wieder gelang es ihm, mit unheimlichen und aussergewöhnlichen Klängen Gänsehaut zu erzeugen und Melodien zu spielen, die wie Gelächter aus der Hölle klangen und einem kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen liessen.

So lebte die Lesung von Hummelt eindeutig von der einzigartigen Atmosphäre, von der sie umgeben war. Die Krypta des Grossmünsters mit ihren zahlreichen Wölbungen und Säulen bot mit ihrer interessanten Architektur und der Kälte eine ganz besondere Stimmung, die den Abend prägen sollte. Nur von Kerzenschein beleuchtet, bildeten sich an den Wänden unheimliche Schatten, die sich im Rhythmus des Schlagzeuges an den Säulen entlangschlängelten und die Hummelts Dichtung zum Leben erweckten. Dabei sassen die Zuhörer neben den alten Gräbern der Stadtheiligen. Und wo könnte man Zürcherischer lesen als in der Krypta des Grossmünsters, dem ältesten Teil der Kirche in der Altstadt von Zürich, neben fast unsichtbaren Wandmalereien der Stadtpatrone Felix und Regula.

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