Mord & Totebeinli

An diesem Donnerstag Abend steigen wir hinab in die Tiefe, auf die Ebene der Toten. Nach einer kurzen Tramfahrt gehen wir zu Fuss eine vielbefahrene, hell erleuchtete Strasse entlang, bis der Torbogen des Friedhof Forums plötzlich vor uns aufragt. Dahinter erwartet uns eine andere Welt: In dichter Dunkelheit erstreckt sich der Friedhof. Wir entdecken einen Pfad aus Kerzen, der zu einer Treppe führt und steigen hinab in den Untergrund, zu Isabel Morf und ihren mörderischen Begleitern.

Die Zürcher Krimiautorin liest an diesem Abend zwei unveröffentlichte Kurzgeschichten. Die erste, Totebeinli, erzählt von einem ziemlich morbiden Leidmahl, bei dem das Publikum auch nicht leer ausgeht: Passend zum Thema darf es während der Lesung an den kleinen ‹Beinli› des entsprechenden Weihnachtsgebäcks knabbern. Isabel Morfs gutes Gespür für Atmosphäre bemerke ich an an diesem Abend immer wieder: Von der an eine Grabkammer erinnernden Location zu Witzen über den Halszither-Musiker Beat de Roche, der anfangs einfach nicht auftauchen will (natürlich möglich, dass er ermordet wurde) bis zu Morfs Poncho, der selbstverständlich immer zum Lesestoff passen muss (von schwarz passend zur Beerdigung in Kurzgeschichte Nr. 1 zu aschgrau in Nr. 2) ist alles perfekt inszeniert. Die Geschichten selbst sind zwar nicht allzu unheimlich aber dafür urkomisch und voll bissig schwarzem Humor. Vor allem als in Kurzgeschichte Nr. 2 plötzlich ein rachsüchtiges Aschehäufchen Vergeltungspläne gegen seine Mörderin namens Ehefrau ausheckt, gibt es einige Lacher. Das ist umso ironischer, da das Publikum an diesem Abend fast ausschliesslich aus Frauen besteht. Den Grund dafür vermag ich mir nicht wirklich zu erklären – solange an der Sache mit dem Aschehäufchen nicht doch etwas dran ist…

LEBENSLÄNGLICH

Im Publikum ist weder ein Räuspern noch die geringste Bewegung zu bemerken, als Lisbeth Herger im Sozialarchiv von den Schicksalen der beiden ehemaligen Heimkinder Diana Bach (*1948) und Robi Minder (*1949) erzählt. In höchster Stille hören wir ihren Ausführungen zu und sind dabei fassungslose, traurige und zugleich bewundernde Zuhörer.

Diana Bach und Robi Minder verbrachten ihre Kindheit in den 1950er-Jahren im streng religiös geführten Kinderheim Villa Wiesengrund. Dieser Ort, alles andere als Geborgenheit und Wärme spendend, erschwert das Leben der beiden Protagonisten enorm. Ihr Alltag ist geprägt von Angst, Willkür und Gewalt. Posttraumatische Belastungsstörungen begleiten sie bis heute. Fünf Jahrzehnte später treffen die beiden bei Archivrecherchen wieder aufeinander, beginnen miteinander zu schreiben und beschliessen dann gemeinsam, ihre Vergangenheit nach aussen zu tragen. Sie stossen auf die Autorin Lisbeth Herger, die sich beruflich dem biographischen Schreiben widmet, und bitten Sie, ihre Geschichte auf der Grundlage von zahlreichen Akten, Mailverkehr und mündlichen Erzählungen aufzuschreiben.

Es entsteht ein unglaublich ehrliches, berührendes Buch, in dem in einem ersten Teil von der Vergangenheit berichtet wird und in einem zweiten Teil anhand des heutigen Briefwechsels die lebenslänglichen Folgen aufzeigt sowie Fragen nach Wiedergutmachung verhandelt werden. Es ist bewundernswert, wie die beiden Persönlichkeiten den Schritt nach aussen gewagt haben und ein dunkles Kapitel der Schweizer Vergangenheit sichtbar machen. Bei der Lesung sind auch sie anwesend und bieten den Erzählungen mutig das Gesicht.

Rühmenswert ist auch die Herangehensweise der Autorin, die sich durch Berge von Akten gekämpft und umfangreiche Recherche betrieben hat, um ein möglichst treues Bild der beiden abgeben zu können. Dabei berichtet sie sachlich und bleibt nahe bei den Fakten. Trotzdem schafft sie es mit ihrer ruhigen Sprache, die Grausamkeit, den Schmerz und die Melancholie bemerkenswert nachzuzeichnen, ohne dabei beim Lesenden nur Mitleid erzeugen zu wollen. Lisbet Herger hat eine unglaubliche Gabe, sich in die Geschichten der ehemaligen Heimkinder hineinzuversetzen und ihnen mit grossem Respekt Gehör zu verleihen.

«educated guess» – Zürcher Geschichte in Romanform

Die freischaffende Richterswiler Historikerin Dr. Nicole Billeter präsentiert im Rahmen von «Zürich liest» in der Buchhandlung Bodmer am Donnerstag ihren neuen Roman «Wenn dein starker Arm es will».

In einer kurzen Einführung klärt die Autorin die Zuhörenden über ihre Schreibmotivation und die Quellenlage auf. Diese sei nicht umfangreich und basiere vor allem aus Zeitungen und Briefen, so Billeter, die von sich selbst als einer «puritanischen Historikerin» spricht. Sie fügt hinzu, dass es kaum möglich gewesen wäre ein reines Sachbuch über das Alltagsleben von Personen der «working class» zu schreiben und dass ihr Verlag ausserdem der Auffassung war, dass ein Sachbuch zu wenig gelesen würde. Die Romanform aber hätte ihr die Freiheit geboten, recherchierte Fakten in eine Form zu packen, die wenig theoretisch ist und dem Leser trotzdem einen Einblick in die Geschichte rund um den Landesgeneralstreik im Jahre 1918 am linken Zürichseeufer gibt. «Educated guess» nannte Billeter das Prinzip, nach dem ihr Roman aufgebaut ist.

Nach der Einführung lässt die Historikerin den Zuhörer mit der Lesung von fünf Textpassagen in zwei entgegengesetzte Welten eintauchen, die im Sommer und Herbst 1918 aneinandergeraten: Jene von Lina Reichmuth, einem Dienstmädchen, welche durch den befreundeten Fabrikarbeiter Jean über den Misstand der Arbeiterschicht aufgeklärt wird, und jene von Eduard Stucki, einem Fabrikpatron. Lina steht auf der Seite der hart arbeitenden und streikenden Unterschicht, oder wie es Billeter immer wieder ausdrückte, auf der Seite der «Sozis», während Eduard auf der Seite der bürgerlichen und wohlbegüterten Wirtschaftselite anzusiedeln ist. Mit einer überlegten Auswahl der Textpassagen führt Billeter ihre Hauptprotagonisten Lina und Eduard sowie die Nebenrolle des Fabrikarbeiters Jean, genannt «Schang», ein und gewährt damit einen kurzen Einblick in die enorme soziale Unrast, die zum Landesgeneralstreik führten.

Auch wenn Billeter mit ihrem Werk Zürcher Geschichte in Romanform präsentiert und wohl eher Unterhaltung als reine Wissensvermittlung anstrebt, konnte sie deutlich wahrnehmbar nicht ganz aus ihrer Rolle als Wissenschaftlerin heraustreten. Somit blieben die Eckpunkte der Handlungen im Roman «Wenn dein starker Arm es will» dann doch meistens mehr «educated» als «guess».

WOLKENBRUCH ohne Blitz und Donner

Wolkensbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse wurde verfilmt. Nach dem gefeierten Erfolg des Debütromans von Thomas Meyer 2012 ist dies kaum verwunderlich. So war auch die Vorpremiere im Rahmen von „Zürich liest“ seit Wochen ausgebucht. Für mich gab es leider keinen Platz mehr, weshalb ich nur den zweiten Teil dieser Veranstaltung beurteilen kann. Dieser verlief entgegen meiner Annahme ohne Regisseur Michael Steiner und Hauptdarsteller Joel Basman, wodurch der Fokus nur noch auf das Buch zu liegen kam und der Film ausgeklammert wurde. Somit war es eine klassische Lesung des Autors Thomas Meyers aus seinem Erfolgsroman in der Buchhandlung Orell Füssli.

Nachdem sich Thomas Meyer gleich zu Beginn humorvoll über «schwachen» Applaus beschwerte und sein Buch zuhause vergessen hatte, wusste der Zuhörende, dieser Mann ist erfolgreich, hat schon zahlreiche Lesungen mit Wolkenbruchs wunderliche Reise… hinter sich und muss sich hier mit keiner Faser dem Publikum beweisen.
Zu Recht! Der Autor zeigte, dass er jede Zeile seines Romans inkorporiert hat und ihn dem Publikum spontan mit gekonnt ausgewählten Textstellen näherbringen kann. Anhand der Schlüsselstellen erzählte er vom jüdischen Motti Wolkenbruch, der an den Verkupplungsversuchen seiner „Mame“ mit einem jüdischen „Mejdl“ wenig Interesse zeigt. Stattdessen riecht der 23-jährige Motti die Freiheit und verliebt sich in seine Mitstudentin Laura. Das einzige Problem: als orthodoxer Jude ist jegliche körperliche Beziehung mit einer „Schikse“ (= nichtjüdische Frau) eine Sünde und daher strikt untersagt.

Thomas Meyer liest Mottis Reise mit viel dramaturgischem Gespür in der Stimme und sorgt vor allem mit der Nachahmung der jüdischen Mutter für Gelächter im Publikum. Das Erzähltheater unterbricht er hie und da mit humorvollem Wortspiel und Witz, sodass man sich teilweise beinahe an einer Comedyshow wähnt. Obschon dem Autor vor der Zuhörerschaft pudelwohl scheint, ist die Lesung nach kurzen 40 Minuten schon wieder vorbei. Als vertröstenden Ausblick deutet er auf die Weiterführung des Romans hin: Motti soll jüdischen Weltverschwörern zu Hilfe kommen. Wir sind gespannt.

Zum Abschluss nimmt Thomas Meyer die drei häufigsten ihm gestellten Fragen vorweg und liefert sogleich kurz und bündig die Antworten.

«Bin ich Jude?» – Ja, aber er sei nicht orthodox aufgewachsen.
«Ist der Roman autobiografisch?» – Ursprünglich sei es nicht seine Absicht gewesen und er hätte diese Frage verneint. Nachdem sich aber seine Mutter in der „Mame“ erkannt hat und ihn seine Therapeutin auf autobiografische Züge verwies, sei er sich dem nicht mehr so sicher.
«Wie reagieren orthodoxe Juden darauf?» – Ein richtig orthodoxer Jude gäbe in der Öffentlichkeit niemals zu, dieses Buch gelesen zu haben.

Interesse an weiteren Fragen aus dem Publikum zeigt er nicht. Dafür posiert er am Schluss liebend gerne für Fanfotos –  auch wir konnten nicht widerstehen.

Prost! oder besser gesagt: Amen.

„Gofferdammi gofferdammi  Härdöpfeli! Mäntig: Härdöpfeli. Zischtig: Härdöpfeli. Mittwuch: Härdöpfeli… Gofferdammi gofferdammi Härdöpfeli!“ rapt eine Kinderstimme aus den Lautsprechern im gut gefüllten Raum des JULL (Junges Literaturlabor) an der Bärengasse. Hier gibts keine Bären, dafür eine ganze Horde Kinder aus vier verschiedenen Schulhäusern der Stadt Zürich.

Zuerst stehen die Jüngsten auf der Bühne, die Schüler aus dem Schulhaus Schanzengraben. Sie bringen das Publikum mit ihren im Botanischen Garten geschriebenen Texten aus „Löwenmaul und Augentrost packen aus“ zum Lachen. In den Monologen stellen sich die Eselsgurke, das Sommerblutströpfchen, der Mönchspfeffer, der Narcissus Poeticus und viele weitere Pflanzen vor. Der Narcissus mag seinen Namen nicht, es gäbe keinen Namen, der seine Schönheit beschreibe. Er findet es auch unangebracht, dass der hässliche Stadtvogel seine Blätter als Klo benutzt. Der Huflattich unterbricht ihn: „Ich bin ja nur ein gewöhnlicher Huflattich, aber du bist ein arrogantes, aufgeblasenes Schwein!“ Spätestens als der kleinste Junge der Gruppe, der verzweifelt sein Notizblatt gesucht und sich dafür theatralisch entschuldigt hat, mit weit aufgerissenen Augen seinen Einwurf bringt, prusten alle los. „Der Gärtner kommt mit dem Kuhmist und sagt: Du musst wachsen, du musst wachsen! So ein Mist!“.

Auch die nächste Klasse überzeugt mit frischen Texten, was in Anbetracht des Themas erstaunt. Sie haben sich nämlich im Rahmen des Reformationsjubiläums mit Zwingli und seinem Herz befasst. Ihre Texte kreisen mutig um die blutige Schlacht bei Kappel um 1531, bei der angeblicherweise Zwinglis Herz gefunden wurde. Eine Schülerin wolle noch zum FCZ Match heute, deshalb machen sie jetzt ohne grosse Reden dazwischen weiter, meint Richard Reich mit verständnisvoller Miene, der die Schüler beim Schreiben und auch heute Abend begleitet. Es geht also zügig los, der spanische Ritter schwingt schon das Schwert und ruft: „Zwingli olé, Zwingli hola!“ Der Ritter Joachim will Zwingli das Herz aus der Brust herausreissen. Das Herz schlägt – toc toc, toc toc – und rollt schlussendlich zum toten Zwingli zurück. Der Held im Hintergrund bringt die schönste Zeile: „Prost! oder besser gesagt: Amen.“

Die Reformation geht weiter mit Gion Mathias Caveltys Schützlingen aus dem Gymi Unterstrass. „Viel Spass!“, wünscht Cavelty dem Publikum. „Falls man das Protestanten wünschen darf.“ Hier ist er der Star und die Schüler altersbedingt schon nicht mehr ganz so frei und wild wie die von vorher. Ihre Texte tragen ernste Namen wie „Die Hexenjagd“ oder „Das Schicksal der Überlebenden“.

Zum Schluss tritt die Klasse vom Schulhaus Feld auf. Sie lesen ihren mit Suzanne Zahnd vorbereiteten Text über die Liebe und darüber, wie Mathe und Musik zu beherrschen einem das Leben erleichtert, da es Sprachen sind, die alle verstehen.

Ein Special Guest wird noch angekündigt, gleich aber wieder abgesagt – er sei beim Zahnarzt. Hier brauchte aber auch gar keiner einen Special Guest, die Kinder waren genug special und ihre Texte teils wirklich herrlich.

Zwei Philosophen im Schnee auf dem Dachstock der Mühle

Wenn Arno Camenisch zu lesen beginnt, ist alle Aufmerksamkeit bei ihm. Nicht nur wegen des berüchtigten „Camenisch-Sounds“, auch sein intensiver Blick in die Zuschauerreihen zieht einem in den Bann.

Unterstützt von Roman Nowka an der E-Gitarre, trägt der Bündner Schriftsteller sein neustes Werk „Der letzte Schnee“ im gemütlichen Dachstock der Oberen Mühle in Dübendorf vor und erweckt seine Figuren zum Leben. Der Roman erzählt von einem kleinen Bügellift in den Bündner Bergen. Dort arbeiten tagein, tagaus Paul und Georg und warten auf den Schnee, die Skifahrer und das Vergehen der Zeit. Dabei fabulieren sie über die Vergangenheit, den Klimawandel und das Leben. Und wenn Camenisch erzählt, klingt es wirklich, als wären die beiden am Nabel der Welt. Auf sein Buch schaut Camenisch nur um zu blättern, den Rest rezitiert er frei – ich bin beeindruckt. Da ist ihm auch verziehen, dass er einmal kurz den Faden verliert. Auch weil er dabei so nett über sich selber lachen kann.

Die Lesung ist immer wieder gespickt mit eigenen kleinen Anekdoten und untermalt von den Lachern aus dem Publikum. Als Zugabe gibt es noch einige mehrsprachige Spoken Word-Texte zu hören. Dabei erfahren wir auch gerade noch, was Camenisch im letzten Jahr gelernt hat – unter anderem, dass Omeletten mit Konfi was Gutes sind und dass Kühe ihren Darm besser entleeren können, wenn es regnet. Wieder was gelernt.

Aus dem Tagebuch eines Aschehäufchens

Es dunkelte schon themengerecht ein, als wir beim Friedhof Sihlfeld ankamen. Vor allem die Männertoilette war alles andere als einladend. Eine steile, enge Treppe führte hinab zu einem Raum, der durch neonblaues Licht erleuchtet war. Erinnerte an einen Horrorfilm, nun war ich auf jeden Fall so richtig eingestimmt für die Lesung im Friedhof-Forum, das sich direkt unter der Erde befindet.

Der Kellerraum war restlos gefüllt. Die Leute beschäftigten sich gerne mit dem Makaberen, das sei ein Bedürfnis, sagte mir Christine Süssmann, seit 2012 verantwortlich für Kultur und Kommunikation im Friedhof-Forum der Stadt Zürich. Heute lud das Forum zur Lesung mit der Schweizer Autorin Isabel Morf, inklusive musikalischer Begleitung durch Beat de Roche an der Emmenthaler Halszither. Das Instrument ist notabene für traditionelle Ländlermusik konzipiert, der Musiker gefiel heute aber durch Adaptionen von Kurt Weils Moritat von Mackie Messer, dem Godfather-Thema oder Nancy Sinatras „Bang, Bang“.

Ab der ersten Minute war klar, dass es hier nicht darum ging, dem Publikum einen Schrecken einzujagen. Der Fokus lag viel mehr auf Galgenhumor und Amüsement, jedoch mit der richtigen Prise Ernsthaftigkeit, die beim Tod immer mitschwingt.

Item, die Autorin hatte zwei unveröffentlichte Friedhofsstorys im Köcher und trug sie mit viel dramaturgischem Gespür vor. In beiden Kurzerzählungen ging es um Familienfehden, Geld und Rache. Das erstaunt eigentlich nicht weiter. Die zweite Geschichte war an Originalität aber kaum zu überbieten und spielte nicht auf, sondern unter der Erde: Ein Aschehäufchen in einer Urne, einst ein kräftig gebauter Schreiner, sinniert darüber, wie er sich an seiner Ex-Frau/Witwe rächen kann, weil sie ihn wegen des lieben Geldes hinterrücks ermordete. Die Moral der beiden Geschichten mit vielen unerwarteten Wendungen: «Alles kommt zurück im Leben».

Und so war es dann doch eine sehr lebendige Veranstaltung an einem Ort, der eigentlich anderes vermuten lässt.

 

Der Bünzli spinnt auch

Dass ich überhaupt noch eine Karte für meinen spontanen Besuch beim Starautor Philippe Djian ergattern konnte, hatte mich überrascht. Noch überraschender gab dann dreimal so viele leere Plätze wie ich Minuten zu spät kam, nachdem ich fast noch im Cevi-Raum des riesigen Glockenhaus gelandet wäre. Gerade noch rechtzeitig zur ersten Frage der Moderatorin Ursula Bähler erreicht ich dann aber doch noch die riesige Turnhalle. Für viele Personen, so Bähler, stelle er, der bekannte Kultautor, nämlich ein mythisches Universum dar.  Ob er sich dessen bewusst sei?

«J’espère que j’ai un univers!», gibt Djian schmunzelnd zur Antwort. Er hoffe, dass er ein Universum habe – wie alle Menschen, fügt er hinzu. Ob er ein Kultautor sei, wisse er nicht, aber das sei für ihn auch gar nicht wichtig. Er fände es wichtiger, über den Platz der Literatur nachzudenken und über den der Schriftsteller, fasst Bähler etwas eckig den runden Bogen zusammen, den Dijon vom Universum über die Rolle des Autors in unserer Gesellschaft bis zu Situationen von «amour, passion et haine» geschlagen hatte.

«Ce n’était pas la meilleure chose à faire.» Der erste vorgelesene Satz aus seinem Roman Marlène lässt das Publikum aufhorchen, ein wohlwollendes, fast schnaubendes Kichern ist zu hören. Nun sind alle gespannt auf die Geschichte. Dijan liest weiter, vom «regard indifférent» einer seiner Hauptfiguren des Buches, deren Blick er wohl übernommen hat (oder umgekehrt). Die Sätze zeugen von einer feinen Alltagspoetik, der Inhalt tritt sympathisch in den Hintergrund.

Dass es ihm nicht um den Inhalt ginge, sagt Dijan gerne und immer wieder. Ihn interessiere auch nicht, wo oder wann genau die Geschichte stattfinde, vielmehr sei es ihm darum zu tun, seine Welt zu schreiben. Der Stil müsse sich dann dieser Welt anpassen. Nicht die Situationen seien dabei «extraordinaires», sondern die Figuren, welche die alltäglichen Situationen erst speziell erscheinen liessen. So auch die beiden Hauptfiguren des Romans, Dan und Richard, zwei befreundete Kriegsveteranen, die nach Hause zurückkehren und sich wieder im Leben zurechtfinden müssen. Die Geschichte handle nicht von zwei «frères d’armes», die der Krieg vereint hat, betont Dijan, sondern schlichtweg von zwei Freunden, die es schon früher waren und auch geblieben sind. Und dann kam der Krieg dazwischen.

Es gebe genau zwei Arten, mit der Heimkehrsituation umzugehen: Entweder man versuche, sich irgendwie anzupassen – «où bien on s’en fiche», man pfeift drauf. Die zwei Figuren entscheiden sich jeweils für eine Option. Einer der Freunde versucht, normal zu sein und sich wieder zu integrieren. Der andere nicht.

«Doch was ist schon normal», fragt Dijan. Die Normalität sei ein Gefängnis und der, der sich anpasse, sei in der Normalität gefangen. Der Nachbar, eine nicht zu unterschätzende Nebenfigur in Dijans Roman, sei genau solch ein Insasse. «Ein Bünzli», bringt Bähler uns Schweizern die Figur näher. Interessanter scheint da natürlich das Unangepasste, Verrückte. Die «folie» erscheint in Marlène als eine treibende Kraft – wenngleich Dijan auf Nachfrage die Unterstellung zurückweist, die Titelheldin selbst sei in gewissem Masse eine Verrückte.

Um die Grenze zwischen Normalität und Verrücktheit, zwischen Leben und Tod kreist das Gespräch fortan. An Tiefe gewinnt die Debatte, als Schauspieler Jürg Plüss aus Norma Cassaus Übersetzung  zu lesen beginnt. Zur Sprache kommt die «scheiss posttraumatische Störung», die eine der Frauen an ihrem Mann beklagt und daraufhin zugibt, dass, wenn es trotzdem noch etwas gäbe, das sie an ihm liebe, es seine Stimme sei.

Plüss hat ganz gewiss solch eine Stimme. Doch die Realität ist schnell wieder präsent: «Um ein Bürger wie alle anderen zu werden, genügt es nicht, seinen Müll zu trennen.» Das verstehen wir alle, die wir immer wieder stolz unser schön aufgestapeltes und wie ein Päckli zugeschnürtes Altpapier-Bündel an die Strasse stellen, nur um im nächsten Moment vom Gefühl heimgesucht zu werden, dass das doch nicht genügen könne, um dazuzugehören. «Pour vivre une certaine normalité, est-ce qu’il ne faut pas être dingue?» Der Bünzli-Nachbar spinnt also auch, halt auf seine Art. Normal ist nicht unbedingt normal und wir sehen die Welt sowieso nicht alle auf die gleiche Art und Weise. Das ist gut so, findet Djian – und erzählt die Geschichte seiner verrückt normalen, normal verrückten Welt weiter.