Ein Abend im Zeichen der Seelenpflege

Als ich mich auf den Weg zum Kulturstudio Felix Wicki begebe, weiss ich noch nicht, was mich an diesem Abend erwarten wird, doch als ich die versteckte Eingangstüre öffne, zeigt sich mir eine kleine Welt wie aus einer anderen Zeit.

In einem liebevoll eingerichteten Café erwarten mich zwei bezaubernde Damen, die mich herzlich willkommen heissen. Neben meiner nostalgischen Eintrittskarte erhalte ich eine kleine Kreidetafel, auf die ich meinen Namen schreibe, um damit meinen Platz im Theater im Untergeschosses zu reservieren – obwohl dies bei 7 Gästen auf 24 Plätze eigentlich nicht nötig wäre. Eingedeckt mit einem feinen Züriträumli (Zürcher Mandelgebäck) warte ich bei einem guten Gespräch, bis die Vorstellung beginnt.

Die etwas kuriose Situation, als wir alle unsere Plätze eingenommen haben und auf die Vorstellung von Felix Wicki warten, spitzt sich noch dadurch zu, dass in der grosse Stille, an die man sich heutzutage gar nicht mehr gewohnt ist, sogar das Knurren der Mägen zu hören ist. Schliesslich geht das Licht an und der reformierte Pfarrer Felix Wicki, der das Kulturstudio selbst aufgebaut hat und mit seinen Schätzen – der Ertrag von jahrzehntelanger Sammlertätigkeit – eingerichtet hat, beginnt seine Vorstellung. Die «inwendig gelernten» Gedichte, die er «auswendig» vorträgt, werden dabei immer wieder durch Spieldosen-Melodien unterbrochen. Gemeinsam begeben wir uns auf eine lyrische Reise von Erich Kästner, über Hermann Hesse zu Joseph von Eichendorff. Zwischen den einzelnen Gedichten erzählt uns Wicki in ebenfalls lyrischer Sprache von seinem Verhältnis zur Lyrik und wie er dank den Gedichten in seinem Gedächtnis seine Zeit in der Armee überlebt hat: «Die Lyrik hilft das Leben zu meistern – sie verheisst, dass in den tiefen Schichten des Lebens etwas schlummert». Auch ein Limerick aus Wickis eigener Feder bekommen wir, wie vor einigen Jahren die Zuhörer des Radio SRF, zu hören und mit dem Abendlied von Matthias Claudius entlässt er uns nach einer guten Stunde in die Nacht, denn «der Mond ist aufgegangen»…

Mit einem wohligen Gefühl im Bauch und nachdem sich Wicki persönlich bei jedem Gast bedankt und verabschiedet hat, gehe ich wieder in die Nacht hinaus. Nun ist mir auch bewusst, wieso das Kulturstudio eine handyfreie Zone ist, denn die einzigartige Atmosphäre ist sowieso nicht medial zu erfassen.

Wenn sich Lyrik und Essen vereinen

Wir treten ein. «Sie haben vegetarisch bestellt, oder?» Ja, wir sind im Restaurant. Ein viergängiges Menu erwartet uns, das mit fünf Lesungen von Liebesgedichten verflochten wird.

Der Abend findet im Zürcher Restaurant Münsterhof statt, mit dem Thema Liebe, Erotik, Genuss – und Essen. Die Gäste sitzen an zwei langen Tischen. Doch als man Platz nimmt, bemerkt man ihn, an einem kleinen mit Büchern gedeckten Tisch an einer Ecke: René Grüninger, der die Gedichte leidenschaftlich vorlesen wird. Ein Gemälde aus dem 14. Jahrhundert, das an der Wand des Restaurantsaals hängt und die Themen Essen und Erotik zusammenbringt, hat ihn auf die Idee des Abends gebracht.

Als die Lesung beginnt, herrscht die reinste Stille im Raum, alle hören aufmerksam zu. Durch den Abend nimmt uns René Grüninger auf eine literarische Reise mit, auf der man Else Lasker-Schüler, Bertolt Brecht, Jacques Prévert und vielen anderen begegnet. Die Gedichte folgen aufeinander, manchmal melancholisch, manchmal explizit erotisch. Während der Lesung ist die Stimmung intim, bei jedem evoziert das Vorgelesene etwas anderes. Hände berühren sich, Knie treffen sich, Augen schließen sich. Hinten in der Küche fällt ein Messer zu Boden, wie um wachzurufen, dass bald der nächste Gang folgt. Tatsächlich dauern diese Runden nur zehn bis fünfzehn Minuten. Um die literarischen Klammern zu schließen, äußert sich René Grüninger humorvoll über diese Abwechslung von literarischen Entremets und kulinarischen Gängen: «Und jetzt, sind Sie wieder hungrig? Klatschen wir, damit der nächste Gang kommt!» Jedoch bleibt René Grüninger auf der Insel der Literatur und isst nicht mit. Er erklärt lächelnd, dass er schon gegessen habe, und liest für sich, in Vorbereitung auf die nächste Lesung.

Nach den literarischen Entremets wird die Stimmung gesellig, man spricht miteinander. «Haben Sie sich den Namen des ersten Dichters notiert?», werde ich gefragt. Tatsächlich ist der schöne Moment der Lesung flüchtig: Die Namen der Gedichte werden nur mündlich genannt. Die Begeisterten probieren vor dem nächsten Gang, diese Flüchtigkeit in Namen und Worten festzuhalten.

So verläuft der Abend: Erich Fried, Kurt Tucholsky, Sappho und sogar die Bibel treffen sich mit Tartar, Selleriesuppe und Gemüsestrudel, und die Begegnung fruchtet: wir kehren erfreut nach Hause, mit beglücktem Magen und geschärften Sinnen.

Nachts, da tanzen die Schatten

Eisige Winde pfeifen um die Türme des Grossmünsters, als wir kurz vor zehn Uhr abends frierend in die Krypta der Kirche herabsteigen. Eine steinerne Statue von Karl dem Grossen ziert den ansonsten kargen Raum. Fast meine ich, seinen Blick im Nacken zu spüren, als ich auf einem der etwas wackeligen Holzstühle Platz nehme. Zahlreiche Kerzen flackern im Gewölbe. Die Atmosphäre könnte nicht passender sein für die bevorstehende Veranstaltung; der Berliner Lyriker Norbert Hummelt wird nämlich aus seinem Gedichtband Fegefeuer lesen. Durch eine amüsante Anekdote in der Einführung erfahren wir, dass sich gleich nebenan der Putzraum befindet. Wie passend, schliesslich ist das Purgatorium ein Ort der Reinigung.

Die Lesung beginnt mit einem dumpfen Paukenschlag, ausgelöst vom Perkussionisten Lucas Niggli. Das Geräusch hallt durch die Krypta und lässt auch die letzten geflüsterten Unterhaltungen im Publikum verstummen. Nigglis Klangspiele werden sich im Laufe der folgenden Stunde mit Hummelts Gedichten abwechseln und eine einzigartige Stimmung erzeugen. Schlagzeug, Pauke, Stöcke – Niggli hat eine grosse Auswahl an verschiedenen Perkussionsinstrumenten dabei und vermag ihnen düstere, geisterhafte Töne zu entlocken. Mal erinnern sie an die stürmische See, mal an Gewitter und Peitschenhiebe; immer wieder meint man, gequälte Schreie zu vernehmen. Das Kerzenlicht malt flackernde Schatten an die Wand; unweigerlich muss ich an die Folterknechte der Hölle denken.

Hummelts sonore Stimme wird durch die Bauweise der Krypta zusätzlich verstärkt. Seine Gedichte begleiten den Erzähler durch die oft schmerzhaften Erinnerungen an dessen sich dem Ende neigenden Leben. Er sinnt verlorenem Glück und seiner Jugend nach. Fegefeuer ist eine Sammlung kleiner Qualen; trotzdem wirkt der Erzähler nicht verbittert und die Gedichte friedlich. In Hummelts Werk steckt viel Melancholie, und sie nachzuvollziehen ist ein Leichtes. Der Rhythmus der beiden Darbietungen erzeugt gemeinsam eine Klanggewalt, die das Publikum in ihren Bann zieht und nach der viel zu kurzen Stunde mit begeistertem Applaus quittiert wird. Die Fragerunde fällt aus; niemand scheint sich zu trauen, die ungewöhnliche Stimmung im Raum mit einer profanen Frage zu zerstören. Also geht es zurück in die eisige Nachtluft, um eine wunderbar unheimliche Erfahrung reicher.

Kryptische Reise in die Vergangenheit

Draussen war es mittlerweile stockdunkel geworden und der eiskalte Wind liess einen vor Kälte erzittern, bis sich endlich die Tore des Grossmünsters öffneten. In die Krypta hinabgestiegen, setzte sich ein etwas modriger Geruch in der Nase fest, der vermutlich von der Feuchtigkeit herrührte. Die Zuschauer, von denen niemand seine Jacke ablegte, warteten bei Kerzenschein gebannt auf das, was auf sie zukommen wird.

Nach einer kurzen Einleitung begann die Lesung mit einem musikalischen Einstieg durch Lucas Niggli, der «gestern Abend noch in Venedig gespielt hatte». Der Schweizer Schlagzeuger und Komponist stand während der Lesung in einem Zwiegespräch mit Norbert Hummelts Lyrik. Der deutsche Dichter aus Berlin las aus seinem letzten Gedichtband Fegefeuer vor. Er führte die Zuhörer durch Kindheitserinnerungen und erzählte von Glück und Erlösung. Obwohl es teilweise schwierig war, sich auf die einzelnen Worte zu konzentrieren und den Sinn der Gedichte zu erschliessen, lauschte man gerne den sorgfältig ausgewählten Zeilen und den bedachten Einsätzen Nigglis. Immer wieder gelang es ihm, mit unheimlichen und aussergewöhnlichen Klängen Gänsehaut zu erzeugen und Melodien zu spielen, die wie Gelächter aus der Hölle klangen und einem kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen liessen.

So lebte die Lesung von Hummelt eindeutig von der einzigartigen Atmosphäre, von der sie umgeben war. Die Krypta des Grossmünsters mit ihren zahlreichen Wölbungen und Säulen bot mit ihrer interessanten Architektur und der Kälte eine ganz besondere Stimmung, die den Abend prägen sollte. Nur von Kerzenschein beleuchtet, bildeten sich an den Wänden unheimliche Schatten, die sich im Rhythmus des Schlagzeuges an den Säulen entlangschlängelten und die Hummelts Dichtung zum Leben erweckten. Dabei sassen die Zuhörer neben den alten Gräbern der Stadtheiligen. Und wo könnte man Zürcherischer lesen als in der Krypta des Grossmünsters, dem ältesten Teil der Kirche in der Altstadt von Zürich, neben fast unsichtbaren Wandmalereien der Stadtpatrone Felix und Regula.

Für uns bei «Zürich liest»:
Laura Barberio

Gerade noch hat sich Laura Barberio für ihre Bachelorarbeit mit Kleists Werken auseinandergesetzt. Zum Start in den Master in Germanistik und Kommunikationswissenschaft & Medienforschung möchte sie sich nun mit Büchern befassen, auf welchen sich noch nicht der Staub der Zeit festgesetzt hat.

So freut sie sich, das erste Mal als Bloggerin in den gegenwärtigen Literaturbetrieb abzutauchen und mittendrin zu sein, wenn Zürich liest  – und das an den wundersamsten Orten. Sie ist gespannt auf die lyrischen Ausflüge in der Krypta des Grossmünsters und das rhythmisierte Spiel mit Sprache bei Musik von historischen Spieldosen. Wie fühlt es sich an, wenn man im Tram zur Abwechslung nicht selbst in die Lektüre versunken ist, sondern einem spannenden Krimi lauschen darf. Und wie entsteht überhaupt so ein Buch? Dies hofft sie im Workshop vom Rotpunktverlag zu erfahren. Ihre Reise durch das literarische Zürich beendet sie mit einer Lesung von Hansjörg Schertenleib zu seiner neuen Novelle Die Fliegengöttin – eine Erzählung über die Liebe der Vergessenden.