Der Bünzli spinnt auch

Dass ich überhaupt noch eine Karte für meinen spontanen Besuch beim Starautor Philippe Djian ergattern konnte, hatte mich überrascht. Noch überraschender gab dann dreimal so viele leere Plätze wie ich Minuten zu spät kam, nachdem ich fast noch im Cevi-Raum des riesigen Glockenhaus gelandet wäre. Gerade noch rechtzeitig zur ersten Frage der Moderatorin Ursula Bähler erreicht ich dann aber doch noch die riesige Turnhalle. Für viele Personen, so Bähler, stelle er, der bekannte Kultautor, nämlich ein mythisches Universum dar.  Ob er sich dessen bewusst sei?

«J’espère que j’ai un univers!», gibt Djian schmunzelnd zur Antwort. Er hoffe, dass er ein Universum habe – wie alle Menschen, fügt er hinzu. Ob er ein Kultautor sei, wisse er nicht, aber das sei für ihn auch gar nicht wichtig. Er fände es wichtiger, über den Platz der Literatur nachzudenken und über den der Schriftsteller, fasst Bähler etwas eckig den runden Bogen zusammen, den Dijon vom Universum über die Rolle des Autors in unserer Gesellschaft bis zu Situationen von «amour, passion et haine» geschlagen hatte.

«Ce n’était pas la meilleure chose à faire.» Der erste vorgelesene Satz aus seinem Roman Marlène lässt das Publikum aufhorchen, ein wohlwollendes, fast schnaubendes Kichern ist zu hören. Nun sind alle gespannt auf die Geschichte. Dijan liest weiter, vom «regard indifférent» einer seiner Hauptfiguren des Buches, deren Blick er wohl übernommen hat (oder umgekehrt). Die Sätze zeugen von einer feinen Alltagspoetik, der Inhalt tritt sympathisch in den Hintergrund.

Dass es ihm nicht um den Inhalt ginge, sagt Dijan gerne und immer wieder. Ihn interessiere auch nicht, wo oder wann genau die Geschichte stattfinde, vielmehr sei es ihm darum zu tun, seine Welt zu schreiben. Der Stil müsse sich dann dieser Welt anpassen. Nicht die Situationen seien dabei «extraordinaires», sondern die Figuren, welche die alltäglichen Situationen erst speziell erscheinen liessen. So auch die beiden Hauptfiguren des Romans, Dan und Richard, zwei befreundete Kriegsveteranen, die nach Hause zurückkehren und sich wieder im Leben zurechtfinden müssen. Die Geschichte handle nicht von zwei «frères d’armes», die der Krieg vereint hat, betont Dijan, sondern schlichtweg von zwei Freunden, die es schon früher waren und auch geblieben sind. Und dann kam der Krieg dazwischen.

Es gebe genau zwei Arten, mit der Heimkehrsituation umzugehen: Entweder man versuche, sich irgendwie anzupassen – «où bien on s’en fiche», man pfeift drauf. Die zwei Figuren entscheiden sich jeweils für eine Option. Einer der Freunde versucht, normal zu sein und sich wieder zu integrieren. Der andere nicht.

«Doch was ist schon normal», fragt Dijan. Die Normalität sei ein Gefängnis und der, der sich anpasse, sei in der Normalität gefangen. Der Nachbar, eine nicht zu unterschätzende Nebenfigur in Dijans Roman, sei genau solch ein Insasse. «Ein Bünzli», bringt Bähler uns Schweizern die Figur näher. Interessanter scheint da natürlich das Unangepasste, Verrückte. Die «folie» erscheint in Marlène als eine treibende Kraft – wenngleich Dijan auf Nachfrage die Unterstellung zurückweist, die Titelheldin selbst sei in gewissem Masse eine Verrückte.

Um die Grenze zwischen Normalität und Verrücktheit, zwischen Leben und Tod kreist das Gespräch fortan. An Tiefe gewinnt die Debatte, als Schauspieler Jürg Plüss aus Norma Cassaus Übersetzung  zu lesen beginnt. Zur Sprache kommt die «scheiss posttraumatische Störung», die eine der Frauen an ihrem Mann beklagt und daraufhin zugibt, dass, wenn es trotzdem noch etwas gäbe, das sie an ihm liebe, es seine Stimme sei.

Plüss hat ganz gewiss solch eine Stimme. Doch die Realität ist schnell wieder präsent: «Um ein Bürger wie alle anderen zu werden, genügt es nicht, seinen Müll zu trennen.» Das verstehen wir alle, die wir immer wieder stolz unser schön aufgestapeltes und wie ein Päckli zugeschnürtes Altpapier-Bündel an die Strasse stellen, nur um im nächsten Moment vom Gefühl heimgesucht zu werden, dass das doch nicht genügen könne, um dazuzugehören. «Pour vivre une certaine normalité, est-ce qu’il ne faut pas être dingue?» Der Bünzli-Nachbar spinnt also auch, halt auf seine Art. Normal ist nicht unbedingt normal und wir sehen die Welt sowieso nicht alle auf die gleiche Art und Weise. Das ist gut so, findet Djian – und erzählt die Geschichte seiner verrückt normalen, normal verrückten Welt weiter.

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