Wortmusik

«I read the news today oh boy, about a lucky man who made the grade…», erklingt es vom einsamen Plattenspieler auf der Bühne. Samtig weiche Klarinettenklänge ertönen von Michael Jaeger. Die Worte der Beatles mischen sich mit seiner Musik. Ich sehe mich um. Nur einige wenige haben sich zu dieser späten Stunde noch im «Karl» eingefunden, um der letzten Veranstaltung des Tages zu lauschen. Mir fällt auf, dass ich mit Abstand die jüngste Person im Publikum bin – ob ich auch die einzige im Saal bin, die nicht zur «Plattenspielergeneration» gehört? Meine Ge-Ge-Generation, so heisst auch das neuste Werk von Hugo Ramnek, aus dem er heute für uns lesen will. Darin hat er, wie er sagt, Texte zu bekannten Blues- und Rockscheiben geschrieben. Ausserdem speziell: Jeder, der sein Buch kauft, bekommt nicht nur die Texte, sondern zu jedem Text auch gleich noch einen Link, der auf den entsprechenden Song verweist. Auch im Pack mit dabei, eine Datei, bei dem der/die Leser/-in Ramneks Texte von ihm selbst laut gelesen erleben kann. Sieht so moderne Lyrik aus? Poesie, Musik und Performance in einem unter Einbezug moderner Technologien und Medien – das hört sich schon eher nach meiner Generation an. Ramneks Lesung spiegelt das Verfahren seines Buches gut wider: Text und Musik, Lesung und Performance verschwimmen vollkommen. Mal hüpfen die beiden Männer wie zwei junge Schwermetaller über die Bühne, dann wieder lauschen wir dem stillen Wortlaut von Ramneks Gedichten, untermalt vom Gesang von Jaegers Klarinette (oder ist es umgekehrt?). Ein einzigartiger Klang entsteht, von dem ich nicht mehr sagen kann, ob er Text oder Musik ist. «Sang sie? Sprach sie nicht? Las er? Sang er nicht?», liest Ramnek an einer Stelle. Oder singt er?

Tante Leguan geht ab

«Zehn, neun, acht, sieben, sechs und so weiter», zählt Matto Kämpf den Countdown zu seiner eigenen Show, während neben ihm die grossartige Sibylle Aeberli an der Gitarre abrockt. Drei, zwei, eins und los geht die Lesung. Es ist wirklich eine Lesung, denn heute geht’s im Helsinki nicht nur um Gitarreschrammeln, sondern auch um Kämpfs neustes Buch. «Tante Leguan» heisst das Oeuvre und handelt von den Leiden drei junger Kulturjournalisten, die für den «Idiot» die Feder schwingen. Oder eben auch nicht. Denn mit 35 sind die Journis zwar tatsächlich noch jung, doch fühlen sie sich alt und verbraucht (was in Anbetracht ihres Alkoholkonsums nicht erstaunt) und das locker flockige Schreiben von einst ist auch eher stockend und harzig.

Die Lesung ist nun schon in vollem Gange, Kämpf und Aeberli wechseln sich im Vortragen ab, in bestem Schweizerhochdeutsch, und entführen das Publikum in die triste Welt des Grossraumbüros.

Die drei Journis langweilen sich gehörig. Erst als eines Tages ein Brief mit der CD der chinesischen Punkband «Tante Leguan» in die Redaktion flattert, machen sich die drei auf die Spuren dieser ominösen Tante. Sie reisen nach China, spesengedeckt und unter dem Vorwand, eine Sommerreihe zum tiefgründigen Titel «Peking – Einst und Jetzt» herauszugeben. Die Reportagen dazu sind, nach Eigeneinschätzung «unter aller Sau», doch dem Chef ist’s egal und weitere Trips nach Neapel und Lyon werden den «Reiseverführern» finanziert.

Die Journis dinieren, philosophieren und fabulieren. Letzteres mit auffälliger Häufigkeit über Musik. Diese Musik kommt dann auch im Helsinki live zum Zuge. Meisterhaft authentisch wird der im Buch beschriebene schräge und oftmals einfach nur schlechte Sound live vertont, wobei sich Kämpf wie ein Quasimodo über sein Keyboard beugt und Aeberli an der Gitarre abgeht wie ein grosser Rockstar.

Ein Highlight ist dann auch, wo die beiden «80er Jahre spielen», mit den einfachen, doch grandiosen Requisiten von zwei Militärtaschenlampen, mit grünem und rotem Filter.
Das Publikum johlt – je länger die Show dauert, desto mehr – und die Bar wird rege besucht, wobei ein Zusammenhang vermutet wird. Mit einer Witzdichte von ca. 30 Lachern pro Minute ist dann auch die Schenkelklopfer-Falle unbestreitbar da, doch das ist dem Publikum egal. Soll sie doch zuschnappen, sind sich die Zuschauer einig, wir lassen uns gerne fangen. Die Stimmung ist nämlich prima und die Lesung ein voller Erfolg. Prost auf dich, liebe Tante Leguan!

Zwei Heimkinder, 600 Mails, ein Buch

Der stuckverzierte Raum des Schweizerischen Sozialarchivs ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das Publikum wartet gespannt auf den Beginn der Lesung. Im Mittelpunkt des Interesses stehen drei Personen: Diana Bach und Robi Minder, die in den 50er-Jahren in einem Kinderheim lebten, und Lisbeth Herger, die die bewegende Geschichte der beiden Heimkinder in einem Buch festhielt. Lebenslänglich. Briefwechsel zweier Heimkinder ist bereits Hergers drittes Buch im Verlag HIER UND JETZT. Das Werk ist ein Zeugnis der Schweizer Heimgeschichte. Es enthält Porträts von Bach und Minder, Tagebuch- und Quelleneinträge von damals sowie Ausschnitte aus den über 600 Mails, die die zwei in den letzten Jahren austauschten. „Eines Tages standen die beiden bei mir im Büro“, erzählt Herger.

Es folgen unzählige Stunden im Archiv, auf der Suche nach Zeitzeugnissen und zumindest ein bisschen Aufarbeitung. Die ist Bach und Minder nämlich sehr zu wünschen; auch sechzig Jahre später noch leiden sie an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die gefühlskalte, streng religiöse Führung des Heims weckte Ängste in den Kindern, die sie ein Leben lang verfolgten und ihnen einen normalen Alltag unmöglich machten. Bach, Minder und ihre Heimgenossen litten unter willkürlichen, ungerechtfertigten, teilweise auch grausamen Strafen. „Die Heimleiterin sieht alles – und noch viel mehr.“ Die kleine Diana entwickelte eine quälende Neurodermitis, doch anstelle einer Behandlung wurden ihre Arme in Kartonröhren gesteckt, um sie am Jucken zu hindern. Robi meinte überall Gespenster zu sehen; wo psychologische Hilfe, menschliche Wärme und Verständnis angebracht gewesen wären, gab es nur Schläge und harsche Worte.

Atemlos lauscht das Publikum den Zeugnissen dieses Schreckens. Herger ist es gelungen, die Erlebnisse der ehemaligen Heimkinder respektvoll und eindrücklich zu verewigen. Man kommt nicht umhin, Bach und Minder aufrichtige Bewunderung entgegenzubringen für ihren offenen Umgang mit den belastenden Ereignissen, die ihr ganzes Leben geprägt haben. „Es sind keine schönen Geschichten, aber sie müssen erzählt werden“, sagt Herger mit Nachdruck. Wie recht sie hat.

Ein Abend im Zeichen der Seelenpflege

Als ich mich auf den Weg zum Kulturstudio Felix Wicki begebe, weiss ich noch nicht, was mich an diesem Abend erwarten wird, doch als ich die versteckte Eingangstüre öffne, zeigt sich mir eine kleine Welt wie aus einer anderen Zeit.

In einem liebevoll eingerichteten Café erwarten mich zwei bezaubernde Damen, die mich herzlich willkommen heissen. Neben meiner nostalgischen Eintrittskarte erhalte ich eine kleine Kreidetafel, auf die ich meinen Namen schreibe, um damit meinen Platz im Theater im Untergeschosses zu reservieren – obwohl dies bei 7 Gästen auf 24 Plätze eigentlich nicht nötig wäre. Eingedeckt mit einem feinen Züriträumli (Zürcher Mandelgebäck) warte ich bei einem guten Gespräch, bis die Vorstellung beginnt.

Die etwas kuriose Situation, als wir alle unsere Plätze eingenommen haben und auf die Vorstellung von Felix Wicki warten, spitzt sich noch dadurch zu, dass in der grosse Stille, an die man sich heutzutage gar nicht mehr gewohnt ist, sogar das Knurren der Mägen zu hören ist. Schliesslich geht das Licht an und der reformierte Pfarrer Felix Wicki, der das Kulturstudio selbst aufgebaut hat und mit seinen Schätzen – der Ertrag von jahrzehntelanger Sammlertätigkeit – eingerichtet hat, beginnt seine Vorstellung. Die «inwendig gelernten» Gedichte, die er «auswendig» vorträgt, werden dabei immer wieder durch Spieldosen-Melodien unterbrochen. Gemeinsam begeben wir uns auf eine lyrische Reise von Erich Kästner, über Hermann Hesse zu Joseph von Eichendorff. Zwischen den einzelnen Gedichten erzählt uns Wicki in ebenfalls lyrischer Sprache von seinem Verhältnis zur Lyrik und wie er dank den Gedichten in seinem Gedächtnis seine Zeit in der Armee überlebt hat: «Die Lyrik hilft das Leben zu meistern – sie verheisst, dass in den tiefen Schichten des Lebens etwas schlummert». Auch ein Limerick aus Wickis eigener Feder bekommen wir, wie vor einigen Jahren die Zuhörer des Radio SRF, zu hören und mit dem Abendlied von Matthias Claudius entlässt er uns nach einer guten Stunde in die Nacht, denn «der Mond ist aufgegangen»…

Mit einem wohligen Gefühl im Bauch und nachdem sich Wicki persönlich bei jedem Gast bedankt und verabschiedet hat, gehe ich wieder in die Nacht hinaus. Nun ist mir auch bewusst, wieso das Kulturstudio eine handyfreie Zone ist, denn die einzigartige Atmosphäre ist sowieso nicht medial zu erfassen.

Die bösen Geister des Bündnerlandes

Am Freitagabend liest Anita Hansemann, die im Prättigau aufwuchs, in der Helferei aus ihrem Debütroman «Widerschein» vor. Die Lesung wird durch die Musikerin Elisabeth Sulser, welche ebenfalls in Graubünden aufgewachsen ist, mit verschiedenen Mittelalter- und Barockinstrumenten untermalt. Sulsers „Gämshorn“, welches eigentlich aus Kuhhorn hergestellt wird, passt zu  Hansemanns Roman – eine blumige Erzählung über Hansemanns Heimat, die innige Beziehung zwischen der rebellischen Mia und dem jenischen Jungen Viid sowie einer weissen Gämse, die die drei Zeitebenen des Romans verbindet.

Hansemanns Roman entführt die Zuhörenden mit Naturbeschreibungen, Detailreichtum und dialektalen Einflüssen in eine Welt, in welcher tote Raubvögel am Gartenzaun gegen böse Geister helfen, die Sagenwelt und Legenden der Alpen omnipräsent sind und die Bewohner den Launen der Natur – weissen Riesen und Gämsen – ausgeliefert sind.

Zwischen den längeren Lesungen versuchte die Moderatorin Gina Bucher jeweils mit ihren allerdings recht unspezifisch gehaltenen Fragen den etwas langatmigen Vortragsabend aufzulockern. Diese wurden jedoch nur oberflächlich beantwortet, weshalb die vorgelesenen Textpassagen mit ihrer verwirrenden Fülle von handelnden Personen und direkten Reden zusammenhangslos und schlecht gewählt wirkten. Statt sich über Hansemanns bildgewaltiges Schreiben und die gelungene und abwechslungsreiche musikalische Darbietung von Elisabeth Sulser zu unterhalten, blieben beim Verlassen der Helferei nur zwei Gesprächsthemen: Die vermutlich inzestuös bedingten Erkrankungen und Liebesgeschichten der Dorfbewohner im Prättigau und die Gemeinsamkeiten der weissen Gämse mit der alten Ziege von Mias krankem Bruder. Die Lesung bleibt uns damit leider nur als Widerschein* eines eigentlich empfehlenswerten und mitreissenden Debütromans in Erinnerung.

*Widerschein: Helligkeit, die durch reflektiertes Licht (z.B. vom Mond) entstanden ist, auch Abglanz

Von Jolanda Brennwald und Andrina Zumbühl 

Unübersetzbar, sagen Sie?

Was heisst «croque-mitaine» ins Deutsche? Darf man Eigennamen übersetzen? Wie übersetzt man Geräusche und Rhythmus?
Dies sind einige der Fragen, die im Gespräch der zwei Übersetzerinnen Camille Luscher (Max Frisch, Arno Camenisch) und Lydia Dimitrow (Bruno Pellegrino, Isabelle Flükiger) am Freitag Abend im KOSMOS gestellt wurden. Konkrete Beispiele aus den Vorlagen ihrer eigenen Übersetzungen dienen als Basis für die Diskussion. Zusammen mit ihnen wird das Publikum eingeladen, konkrete Lösungen für angeblich «unübersetzbare» Wörter vorzuschlagen. Eine einzige Regel ist Camille Luscher bei dieser Aufgabe wichtig: «kein Dogmatismus». Und es geht los. Im Publikum schlägt jemand ein Wort vor, Lydia Dimitrow schreibt es auf und lächelt: «Vielleicht findet sich einer ihrer Vorschläge in meiner Übersetzung wieder».
Schnell stellt sich aber heraus, dass vieles hinter der Wahl eines bestimmten Wortes steckt. Was man im ersten Augenblick für eine angemessene wortwörtliche Übersetzung hielt, stellt sich als problematisch heraus, sobald man weitere Aspekte wie Klang, Konnotation oder noch Rhythmus berücksichtigt. Beeindruckend ist dabei vor allem, wie genau Camille Luscher und Lydia Dimitrow bei der Wahl eines Wortes vorgehen: Nichts scheint dabei dem Zufall überlassen zu sein.
Gleichzeitig wissen die zwei Übersetzerinnen zu überzeugen, dass Übersetzen ein Schöpfungsakt ist. Denn es heisst oft den Mut haben, eine gewagte Entscheidung zu treffen, indem man z.B. der wortnahen Übersetzung entgeht, um eine bestimmte Wirkung beim Zielpublikum zu erzeugen. Die zwei Übersetzerinnen gehören zu einer Generation, die sich nicht mehr scheut, ihre Autorschaft bei den eigenen Übersetzungen zu beanspruchen. Camille Luscher bringt es auf den Punkt: «Je gesuchter das Original ist, desto freier ist der Übersetzer». Sie fügt hinzu: «Ich übersetzte, um zu schreiben». Übersetzen bedeutet auf einmal kein blosses Transkribieren, sondern richtiges Schreiben.
Mit einem neu erworbenen Respekt für diese allzuoft unterschätzte Tätigkeit begibt man sich wieder nach Hause. Literarisches Übersetzen hat sicher viel mehr mit Literatur gemeinsam als mit google translate und ist auf jeden Fall ein Gewinn für das Original.

Nachts, da tanzen die Schatten

Eisige Winde pfeifen um die Türme des Grossmünsters, als wir kurz vor zehn Uhr abends frierend in die Krypta der Kirche herabsteigen. Eine steinerne Statue von Karl dem Grossen ziert den ansonsten kargen Raum. Fast meine ich, seinen Blick im Nacken zu spüren, als ich auf einem der etwas wackeligen Holzstühle Platz nehme. Zahlreiche Kerzen flackern im Gewölbe. Die Atmosphäre könnte nicht passender sein für die bevorstehende Veranstaltung; der Berliner Lyriker Norbert Hummelt wird nämlich aus seinem Gedichtband Fegefeuer lesen. Durch eine amüsante Anekdote in der Einführung erfahren wir, dass sich gleich nebenan der Putzraum befindet. Wie passend, schliesslich ist das Purgatorium ein Ort der Reinigung.

Die Lesung beginnt mit einem dumpfen Paukenschlag, ausgelöst vom Perkussionisten Lucas Niggli. Das Geräusch hallt durch die Krypta und lässt auch die letzten geflüsterten Unterhaltungen im Publikum verstummen. Nigglis Klangspiele werden sich im Laufe der folgenden Stunde mit Hummelts Gedichten abwechseln und eine einzigartige Stimmung erzeugen. Schlagzeug, Pauke, Stöcke – Niggli hat eine grosse Auswahl an verschiedenen Perkussionsinstrumenten dabei und vermag ihnen düstere, geisterhafte Töne zu entlocken. Mal erinnern sie an die stürmische See, mal an Gewitter und Peitschenhiebe; immer wieder meint man, gequälte Schreie zu vernehmen. Das Kerzenlicht malt flackernde Schatten an die Wand; unweigerlich muss ich an die Folterknechte der Hölle denken.

Hummelts sonore Stimme wird durch die Bauweise der Krypta zusätzlich verstärkt. Seine Gedichte begleiten den Erzähler durch die oft schmerzhaften Erinnerungen an dessen sich dem Ende neigenden Leben. Er sinnt verlorenem Glück und seiner Jugend nach. Fegefeuer ist eine Sammlung kleiner Qualen; trotzdem wirkt der Erzähler nicht verbittert und die Gedichte friedlich. In Hummelts Werk steckt viel Melancholie, und sie nachzuvollziehen ist ein Leichtes. Der Rhythmus der beiden Darbietungen erzeugt gemeinsam eine Klanggewalt, die das Publikum in ihren Bann zieht und nach der viel zu kurzen Stunde mit begeistertem Applaus quittiert wird. Die Fragerunde fällt aus; niemand scheint sich zu trauen, die ungewöhnliche Stimmung im Raum mit einer profanen Frage zu zerstören. Also geht es zurück in die eisige Nachtluft, um eine wunderbar unheimliche Erfahrung reicher.

«Wäschenummer 41». Bodo Kirchhoff im Literaturhaus

Das Leben des deutschen Autors Bodo Kirchhoff ist nicht arm an dramatischen Wendungen. Dass er ausgerechnet für seine im gesamten Oeuvre höchstens im hinteren Mittelfeld angesiedelte Novelle „Widerfahrnis“ den Deutschen Buchpreis gewann, gehört dabei zu den verschmerzbaren Erfahrungen. Schwerer wiegen da schon die frühe Trennung von den Eltern, die traumatischen, teils übergriffigen Erfahrungen im Internat oder das ewige Ringen um die „Versöhnung von Sexualität und Sprache“, die der einstige Lacan-Schüler in seinen immer dicker werdenden Büchern mit so wuchtigen Titeln wie „Verlangen und Melancholie“, „Die Liebe in groben Zügen“ oder eben dem neuen Riesenroman „Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre“ voranzutreiben sucht.

Diesen stellt er an diesem verregneten Samstagabend im fast ausverkauften Literaturhaus vor. Den vielen Verletzungen, um die es gehen wird, steht eine äusserst vitale Performance entgegen. Kirchhoff liest derart im Vollbesitz seiner stimmlichen und theatralen Kräfte, dass das eher gesetzte Publikum einige Momente braucht, um Gelesenes und Leseakt zusammenzubringen. Das Eis brechen schliesslich die geteilten Erinnerungen an „Ernte 23“ oder „Roth-Händle“, an VW Käfer mit geteilter Rückscheibe, den Sehnsuchtsort Italien, vergilbte Jukeboxtitel, Kämme in der Badehose oder damit modellierte Entenschwanzfrisuren im Schwarzwälder Freibad der 1960er Jahre. Da sind die harten Schnitte allerdings längst gelesen; von der unglücklichen Schauspielermutter mit Wiener Wurzeln und dem kriegsversehrten, ökonomisch strauchelnden Vater über den übergriffigen Kantor im  Internat („Wäschenummer 41“) bis zum eigenen Verfallen an die Worte, die zugleich fangen und trennen, konstruiert der „Roman der früheren Jahre“ ein detailstarkes Porträt des Künstlers als allzu jungem Mann.

Die mehrfach zitierte Referenz ist Proust, zu denken wäre im Kontext der letzten Romane aber vor allem an Kirchhoffs Generationsgenossen Hanns Josef Ortheil, der ein ähnlich skrupulös-reflektiertes autofiktionales Projekt verfolgt. Vom frühen Motiv des kontaktlosen, mutter- und grossmutternahen Kindes bis zur späteren Auseinandersetzung mit Lacan liessen sich einige Parallelen finden. Nicht um Parallelen, sondern um Intensität ist es Kirchhoff allerdings an diesem Abend zu tun. Als Fixpunkt erweist sich dabei die ungewollte, aber wohl rettende Trennung von den Eltern, die Kirchhoff und seine Schwester in „Projekte der Vollendung“ als Bannung der erfahrenen Flüchtigkeit getrieben habe: Die Schwester ins Projekt des perfekten, immer noch zu optimierenden Hauses, den Sohn in die Konstruktion des gültigen Romans. Aus der kindlichen Ahnung, Erinnerungen derart konservieren zu müssen, dass sie bis zum „nächsten Treffen an Weihnachten reichen“, ist im Falle Kirchhoffs ein gültiges, in seiner Gänze erst noch zu erschliessendes Werk gewonnen. Wer den ersten Schritt dazu machen mag, ist mit dem – erstmals – alle Facetten von Kirchhoffs Schreiben bündelnden, wunderbaren Freundschaftsroman „Eros und Asche“ von 2007 wohl am besten beraten. Dass Kirchhoffs im Publikumsgespräch noch einmal thematisierte „Kraft“ eine in vielen Kämpfen eher gewonnene denn geschwächte ist, lässt sich hier am ehesten verstehen. Erfahren lässt es sich an diesem Abend aber auch so.

Kryptische Reise in die Vergangenheit

Draussen war es mittlerweile stockdunkel geworden und der eiskalte Wind liess einen vor Kälte erzittern, bis sich endlich die Tore des Grossmünsters öffneten. In die Krypta hinabgestiegen, setzte sich ein etwas modriger Geruch in der Nase fest, der vermutlich von der Feuchtigkeit herrührte. Die Zuschauer, von denen niemand seine Jacke ablegte, warteten bei Kerzenschein gebannt auf das, was auf sie zukommen wird.

Nach einer kurzen Einleitung begann die Lesung mit einem musikalischen Einstieg durch Lucas Niggli, der «gestern Abend noch in Venedig gespielt hatte». Der Schweizer Schlagzeuger und Komponist stand während der Lesung in einem Zwiegespräch mit Norbert Hummelts Lyrik. Der deutsche Dichter aus Berlin las aus seinem letzten Gedichtband Fegefeuer vor. Er führte die Zuhörer durch Kindheitserinnerungen und erzählte von Glück und Erlösung. Obwohl es teilweise schwierig war, sich auf die einzelnen Worte zu konzentrieren und den Sinn der Gedichte zu erschliessen, lauschte man gerne den sorgfältig ausgewählten Zeilen und den bedachten Einsätzen Nigglis. Immer wieder gelang es ihm, mit unheimlichen und aussergewöhnlichen Klängen Gänsehaut zu erzeugen und Melodien zu spielen, die wie Gelächter aus der Hölle klangen und einem kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen liessen.

So lebte die Lesung von Hummelt eindeutig von der einzigartigen Atmosphäre, von der sie umgeben war. Die Krypta des Grossmünsters mit ihren zahlreichen Wölbungen und Säulen bot mit ihrer interessanten Architektur und der Kälte eine ganz besondere Stimmung, die den Abend prägen sollte. Nur von Kerzenschein beleuchtet, bildeten sich an den Wänden unheimliche Schatten, die sich im Rhythmus des Schlagzeuges an den Säulen entlangschlängelten und die Hummelts Dichtung zum Leben erweckten. Dabei sassen die Zuhörer neben den alten Gräbern der Stadtheiligen. Und wo könnte man Zürcherischer lesen als in der Krypta des Grossmünsters, dem ältesten Teil der Kirche in der Altstadt von Zürich, neben fast unsichtbaren Wandmalereien der Stadtpatrone Felix und Regula.

Malerei, Musik und die Ermordung des Commendatore

Zürich liest schenkt dem Übersetzen die Beachtung, die es verdient. Gestern Abend sprach die renommierte literarische Übersetzerin Ursula Gräfe über die Fallstricke, Probleme und Freuden, die das Übersetzen von Haruki Murakamis zweibändigem Roman Die Ermordung des Commendatore mit sich bringt. Die Agentur des Autors gestattete freilich keine öffentliche Lesung aus dem Original – was zu verschmerzen war. Verstanden hätten es vermutlich ohnehin nur die wenigsten.

Ursula Gräfe sitzt bereits eine Viertelstunde vor Beginn in ihrem Sessel. Sie schaut neugierig ins Publikum, wir schauen neugierig zurück. Allen – inklusive Gräfe selbst – scheinen voll Begeisterung auf das zu warten, was der Abend bringen wird. Die Lichter werden abgeblendet, Applaus setzt ein. Jetzt geht’s los.

Gräfe gibt eine kurze Zusammenfassung des Künstlerromans, der Malerei, Musik und Literatur miteinander verknüpft. Im Zentrum steht ein typischer Murakami-Charakter: ein Porträtmaler, 36 Jahre alt, zufrieden mit seinem Leben – bis seine Frau ihn verlässt und er keine Unterkunft mehr hat. Ein Freund biete ihm daher das ehemalige Haus seines Vaters an, der auch ein Maler war. Dort vernimmt der neue Gast zunächst seltsame Geräusche, wird fortan dann immer tiefer in die Mysterien dieses Ortes hineingezogen und stösst schlussendlich auf ein Bild des alten Malers mit dem Titel «Die Ermordung des Commendatore». Gräfe führt aus, dass es sich bei diesen Schauerelementen nicht allein um eine besondere Spielart des magischen Realismus handle, sondern dass sich diese sich auch der japanischen Erzählkultur verdanken, auf der Murakami stilistisch aufbaut. Freilich zeichne sich dieser Stil durch seine Deutlichkeit aus, er sei gleichwohl nicht oberflächlich oder gar ungebildet. So sei das Sujet des Romans bei genauer Betrachtung mit dem literarischen Topos Don Giovannis verbunden, der ebenfalls einen alten Commendatore ersteche.

Die Klarheit von Murakamis Stil komme der Aufgabe der Übersetzerin natürlich sehr entgegen, so Gräfe, mache es aber zugleich zu einem Gebot, seine Texte in der Übersetzung nicht zu salopp klingen zu lassen. Die erhitzten Diskussionen, die sich über solchen Fragen entwickeln können, verdeutlicht Gräfe anhand eines Einspielers aus dem Literarischen Quartett, das sich angesichts von Murakamis Roman Gefährliche Geliebte zu Kategorisierungen von «nicht literarisch anschaulich» und «literarisches Fastfood» bis hin zu «von ungewöhnlicher Zartheit» versteigt. Gräfe behauptet, dass in jeder dieser Einschätzungen eine Wahrheit zu finden sei, das verdanke sich dem hybriden Charakter von Murakamis Sprache. (Glücklicherweise handelte es sich in diesem Fall nicht um ihre eigene Übersetzung.) Interessant wird es im Falle einer Neu-Übersetzung, die Gräfe übernommen hat, nämlich die von Südlich der Grenze, westlich der Sonne. Im Unterschied zur alten Übersetzung, die sich von der amerikanischen Ausgabe ableitete, ist Gräfe vom japanischen Original ausgegangen: Die japanische und die deutsche Sprache erschienen ihr näher zueinander zu stehen als die englische. Freilich liest sie andere, bereits erschienene Übersetzungen ebenfalls auch immer parallel.

Eine «Verdeutschung» des Romans sei dabei naturgemäss nicht zu umgehen, «gelungen» sei eine Übersetzung jedoch dann – so Gräfe auf meine Frage hin -, wenn die deutschen LeserInnen das gleiche Gefühl beim Lesen vermittelt bekämen wie die japanischen. Bisweilen wird das nur durch Kompensationsleistungen möglich: Vielleicht geht irgendwo etwas verloren, vielleicht wird irgendwo anders etwas gewonnen. Zum Schluss merkt Gräfe noch an, dass sie beim Übersetzen die gleiche Erfahrung wie die späteren LeserInnen machen möchte; deswegen lese sie das Buch nicht erst einmal durch, sondern fange einfach von vorne an.

Insgesamt war dies eine eindrucksvolle, zukunftsträchtige Veranstaltung, die zurecht mit viel Applaus bedacht wurde. Möge man der Kreativität der ÜbersetzerInnen auch in Zukunft in Zürich die Beachtung schenken, die sie verdient.