Von Stimme und Verstummen

Ton statt Bild – so beginnt Lukas Hartmanns Lesung im Solothurner Landhaussaal. Durch den Raum schallt der Dreissigerjahre-Gassenhauer Ein Lied geht um die Welt. Aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit dringt diese Musik zu den Ohren des Publikums vor. Es dauert ein Weilchen, bis Ruhe herrscht und alle der Stimme lauschen. Es ist dieselbe Stimme, die auch im Zentrum von Hartmanns neuem historischen Roman Der Sänger steht. Hartmann erzählt darin aus dem Leben des bekannten Tenors Joseph Schmidt.

Im Verlauf der Dreissigerjahre verblasste Schmidts Bekanntheit zunehmend, ins Zentrum wurde ein ganz anderer biographischer Fakt gerückt: Schmidt war Jude. Auf der Flucht vor den Nazis legte Schmidt eine Odyssee durch Europa zurück; 1942 gelangte er schliesslich als «illegaler Flüchtling» in die Schweiz. Die Schweiz stellte sich allerdings nicht als der erhoffte sichere Hafen heraus: Im Internierungslager Girenbad starb Schmidt, mangelhaft medizinisch untersucht und betreut, noch im selben Jahr an Herzversagen.

Hört man Hartmann beim Lesen zu, könnte man meinen, man lausche einem Hörbuch – so ruhig, so nachdrücklich, so ausdrucksstark liest der Autor. Nur selten und flüchtig stellt er dafür Blickkontakt zum Publikum her. Ruhig sitzt er da, bis auf seine Lippen bewegt er sich kaum. Nicht sein Körper, sondern vielmehr seine Stimme nimmt Raum ein. Im Gespräch mit Moderatorin Gabrielle Alioth wird klar: Hartmann ist voll und ganz auf das konzentriert, was er gerade tut. Mühelos entspinnt sich ein Gespräch zwischen den beiden: Hartmann gibt lebendig Auskunft und geht dabei besonders auf die Historizität seines Romans ein. «Soweit ich sie herausfinden konnte, stimmen die Fakten», hält er fest. Hartmann, der unter anderem auch Geschichte studiert hat, erzählt davon, wie sich sein Bild von der geschilderten Zeit im Laufe seiner Recherchen verändert habe. Es sei inzwischen «weniger schwarz-weiss», es sei «grauer». Berührt habe in zum Beispiel der Umstand, dass durchaus auch spontane Hilfe aus der Zivilbevölkerung gekommen sei; etwa indem man den Geflüchteten von den rationierten Lebensmitteln abgegeben habe. Dass es aber natürlich auch in der Schweiz überzeugte Antisemiten gab, dürfte selbst den Allerletzten mit der Lektüre von Hartmanns Roman klar geworden sein.

Alioth hat bereits zu Beginn auf die Relevanz des Buches für alle Schweizer*innen hingewiesen, werde hier für einmal das Augenmerk auf die Schweiz zu Beginn der Vierzigerjahre gelegt. Auch macht Hartmann den Bezug zur Gegenwart stark: «Ähnliche Konflikte, ähnliche Polarisierungen» würden immer wieder auftreten. Gegen Ende liest Hartmann die Szene vor, in der die zwischenzeitlich verloren gegangene Stimme Schmidts ein letztes Mal zu ihm zurückkehrt, um dann für immer zu verstummen. Dieser Schwanengesang gibt Schmidt in Hartmanns Roman seine Eigenmächtigkeit, seine Würde, wieder und fördert eine rührende Bescheidenheit zu Tage. Nach dem Applaus ertönt leise Una furtiva lagrima aus den Lautsprechern. Ein guter Moment, um kurz innezuhalten und über den Umgang mit geflüchteten Menschen im Hier und Jetzt nachzudenken.

Le parole in volo. Ein filmisches Portrait des Poeten Fabio Pusterla

Die Solothurner Literaturtage zeigen nicht nur geschriebene, sondern auch kinematographische Werke. So widmet der Regisseur Francesco Ferri dem Tessiner Poeten Fabio Pusterla und seinem Alltag den Dokumentarfilm „Libellula gentile: Fabio Pusterla, il lavoro del poeta“ (2018), eine Produktion von ventura film in Koproduktion mit RSI Radiotelevisione svizzera.

Le Giornate Letterarie di Soletta presentano non solo opere letterarie, ma anche opere cinematografiche. Il regista Francesco Ferri dedica a Fabio Pusterla, noto poeta ticinese, e alla sua quotidianità il documentario „Libellula gentile: Fabio Pusterla, il lavoro del poeta“ (2018) una produzione di ventura film in coproduzione con RSI Radiotelevisione svizzera.

Dem Publikum präsentiert sich ein intimes 73 minütiges Portrait von Fabio Pusterlas kreativem poetischen Schaffensprozess. Er hat als Dichter, Übersetzer und Essayist bereits ein beeindruckendes und vielfach prämiertes Œuvre geschaffen. Mit einer Kamera und einem Live-Mikrophon ausgestattet folgt der Regisseur dem Poeten, dessen unverfälschter Alltagsroutine er sich behutsam und respektvoll annähert.

Per 73 minuti il pubblico assiste al lavoro del poeta e al processo creativo della parola. La figura poliedrica di Pusterla – come poeta, traduttore e critico letterario – ha creato molteplici produzioni letterarie, il cui valore è stato riconosciuto da numerosissimi premi. A dirigere la camera c’è solo il regista e un fonico per l’audio in presa diretta: è questa la modalità con cui la cinepresa si avvicina il più possibile alla quotidianità del poeta, immortalandone l’autenticità, senza però essere invasiva.

Die Dokumentation bietet dem Publikum aber nicht etwa eine Selbstdarstellung des Poeten selber – nein – sie begleitet seine Suche nach einem authentischen sprachlichen Ausdruck. Diese Sprache ist es, womit Fabio Pusterla seit Jahren eine tiefgründige und innige Beziehung zu seinen Lesern und Leserinnen zu schaffen vermag. Das Schreiben einer solchen Sprache sei eine grausame und unbarmherzige Kunst, welche ihm viel abverlangen würde – vielleicht zu viel. Wer diesen Weg einschlägt, so sagt Fabio Pusterla, muss bereit sein, sich vielen Prüfungen zu stellen.

La cinepresa non restituisce la rappresentazione di un’immagine del poeta stesso, bensì documenta la sua ricerca per trovare un linguaggio autentico che gli permette, da anni, di instaurare un rapporto profondo e intimo con i lettori e le lettrici. Come dice Fabio Pusterla: „Il linguaggio artistico è crudele e impietoso: chiede molto, forse troppo. Chi si incammina su questo sentiero dovrà essere pronto ad affrontare molte prove.“

Francesco Ferri porträtiert einen Dichter, dessen Worte zwar auf Papier fixiert sind, aber in den Gedanken des Lesers und der Leserin wie eine Libelle weiterfliegen.

Francesco Ferri ha provato a fornire un ritratto di un poeta, le cui parole, pur essendo fissate sulla carta, continuano a volare nella mente del lettore e della lettrice, come una libellula.

 

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Jolanda Brennwald & Marica Iannuzzi

Mutig, mutig

Ein seitlich geöffneter Anhänger ist die Bühne, auf Festbänken sitzt das erwartungsvolle Publikum, Skepsis spiegelt sich auf den Gesichtern. Niemand weiss, was von den Lesungen auf der Offenen Bühne erwartet werden darf. Ob die Autor*innen denn auch wirklich Talent haben?

Mut haben sie auf jeden Fall. Sich vor den Besucher*innen zu exponieren, die den ganzen Tag von Lesungen und Podiumsdiskussionen verwöhnt werden und von den Texten auf der Offenen Bühne nicht weniger erwarten, strapaziert die Nerven doch ganz schön. Die Temperaturen von bis zu 28 Grad tragen auch nicht gerade zum persönlichen Wohlbefinden bei.

Die Schreiberlinge meistern die Herausforderung jedoch mit Bravur. Von bibliografischen Erzählungen über humorvolle Gedichte bis hin zu einzigartigen Wortexperimenten – im breiten Angebot der Texte findet sich so ziemlich alles, was in 30 Minuten Bühnenzeit präsentiert werden kann.

Auch vorgetragen wird mit grossem Elan, mal mit mehr Witz, mal mit stark ironischem Unterton. Sich auf die Lesungen auf der Offenen Bühne einzulassen, ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Und wer weiss, vielleicht traut sich sogar jemand bis auf die Bühne?

 

Kreuzweg

In der Reihe Skriptor öffnen Autorinnen und Autoren seit vier Jahren ihr Schreibstübli für andere. Dieses Jahr stellte Mariann Bühler ein paar kurze Kapitel aus einem noch unveröffentlichten Werk vor – und sich damit aus. Im kleinen Saal über dem berüchtigten Solothurner Kreuz fand sich eine Gruppe für die Tuchfühlung mit der Autorin ein. Unveröffentlicht heisst meist fehlerhaft, unfertig. Die Situation ist also eine intime. Deshalb gilt auch Sprechverbot, was den Inhalt betrifft.

Besprochen, gelobt, vor allem gelobt haben die fünf Kolleginnen und Kollegen, moderiert von Donat Blum. Bis Ruth Schweikert sich gemüssigt fühlte, advocatus diaboli zu spielen. Da setzten dann alle nach, gruben tiefer und förderten Strukturen des Textes zutage. Zum Schluss äussern sich auch Stimmen aus dem Publikum. Allesamt gut kritische Stimmen.

Bühler findet sich in einem fruchtbaren Umfeld für das Experiment. Was davon Früchte trägt, das dürfen wir hoffentlich bald lesen.

Von Kompost, unheimlichen Booten am Strand und einer gehörnten Frau

Die Jury des diesjährigen Schreibwettbewerbs für Nachwuchsschriftstellerinnen und -schriftsteller «OpenNet», der jeweils im Rahmen der Solothurner Literaturtage durchgeführt wird, hatte bei 205 Einsendungen die Qual der Wahl. Bei nur einem italienischen und einer unbekannten Anzahl an französischen Texten, fiel die Auswahl vorwiegend deutschsprachig aus. Nur wenig überraschend also, dass auch alle Siegertexte auf Deutsch verfasst waren.

An der Lesung, die gleichzeitig auch Teil des Preises für die Gewinnerinnen und den Gewinner ist, konnte man die drei Siegertexte hören und in Gesprächen mit den Jurymitgliedern etwas über ihre Gedanken und Intentionen hinter den Texten erfahren. Den Anfang machte Micha Frieml mit Kompost. Der Text, der durch viel Schreiben und noch mehr Streichen entstanden sei, erzählt von der Stille und dem Gefühl, dass sich ein Raum durch den Tod zugleich verändere und trotzdem derselbe bleibe. Ein Merkmal des Textes sei, dass Familien- und Beziehungsstrukturen unkommentiert blieben. Frieml sagt: «Beziehung ist immer auch das, was sie nicht ist.»

Als nächstes war der Gewinner Christian Zeier an der Reihe. Lara erzählt von aktuellen Themen wie Flucht und Migration und ist bei einem Besuch auf Lesbos entstanden. Zeier möchte damit gegen die mediale Abstraktion von Migration ankämpfen und durch die Erzählperspektive eines Kindes die unterschiedliche Betroffenheit der Menschen aufzeigen. Er äusserte den Wunsch einer «globalisierten Empathie».

Den Schluss machte Jasmine Keller mit ihrem Text gehörnt. Zweifelsfrei der skurrilste Beitrag, in dem ein schwarzer Kriegsfotograf von einer gehörnten Frau in den Gotthard-Bunker geführt wird. Anlass zu diesem Text boten u.a. kursierende Verschwörungstheorien um die Eröffnungsfeier der zweiten Röhre. Man merkt schnell: Es handelt sich auch hier um einen sehr politischen Text, geschrieben von einer «linken widerständigen» Frau, welche die nicht-weisse Geschichte der Schweiz thematisiert.

Das Ende dieser Veranstaltung gestaltete sich so wechselhaft wie ihr Inhalt und wurde mit zwei jubelnden Zuschauern – einer davon Kellers Lebensgefährte – und einigen Buhrufen beschlossen.

Ein Spiel «sous contrainte»

Ich betrete den Gemeinderatssaal, dessen stoffige Sitzpolster meine morgendliche Euphorie etwas dämpfen. Aus dieser Stimmung befördert mich das abwechslungsreiche Übersetzerinnenportrait aber schnell wieder heraus. Yla von Dach sei eine lustige und aufmerksame Übersetzerin, die für viele Schriftsteller*innen sehr wichtig sei, beginnt die Moderatorin Irene Weber Henking das Gespräch. Sie selbst ist Direktorin des Centre de traduction littéraire an der Universität Lausanne, dessen Gründung unter anderem Yla von Dach zu verdanken ist.

Die Leichtigkeit, mit der sich von Dach ans Werk macht, blitzt im Gespräch immer wieder durch. So zitiert sie Pessoa, dessen Werk sie zuerst auf Französisch begegnet sei: « Je ne suis rien. Je ne serais jamais rien. Je ne peu vouloir être rien. Cela dit, je porte en moin tous les rêves du monde. » In diesem Niemand-Sein tritt von Dach nicht primär eine selbstverneinende Tendenz entgegen, sondern eher eine grosse Leichtigkeit. Die Leichtigkeit derer, die sich nicht allzu ernst nehmen. Sie lacht kullernd. Auch sie nimmt sich selbst nicht allzu ernst. So wundere sie sich auch, dass sie 2018 den Spezialpreis Übersetzung des BAK bekommen habe.

Ich wundere mich nicht darüber, erst recht nicht, als sie uns eine Kostprobe ihrer eigenen Sprachkunst gibt. Sie zeigt an einem Ausschnitt aus Louis Soutter, probablement von Michel Layaz, wie sie mit Sätzen und Satzteilen ein Zusammensetzspiel vollführt. Auf Französisch kommt durch die verschachtelten Sätze eine Widerständigkeit ins Spiel. Diese Widerständigkeit muss man beibehalten, meint sie. Doch das gelinge im Deutschen nicht durch das Verschachteln – das klinge nur normal. Also  sucht sie nach anderen Möglichkeiten, die zähe Konsistenz der Sprache zu erfassen.

Das Übersetzen sei immer ein Schreiben «sous contrainte», merkt Weber Henking an. Das zeigt uns von Dach auch an ihrer Übersetzung von Marius Daniel Popescus Les Couleurs de l’hirondelle – Die Farben der Schwalbe. Hier glänzt die sprachliche Goldschmiedekunst noch stärker durch den Text hindurch. Die Übersetzerin beachtet den ganzen semantischen Raum der Wörter sowie die rhythmischen Elemente und die Reime. Im Übersetzen befinde sie sich in einem Zwischenraum: Sie bewegt sich vom Text weg, trotzdem versucht sie, in den Bildern zu bleiben. Und auch das tut sie mit einer spielerischen Leichtigkeit.

Von Siegern und Besiegten

Es gibt SiegerInnen und Besiegte. Eine der Siegerinnen ist Karen Duve. Sie hat nämlich den diesjährigen Solothurner Literaturpreis abgeräumt. Und das, obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – sie eine Frau ist.

Duve arbeitet seit über zwanzig Jahren als freie Schriftstellerin, nachdem sie für 13 Jahre als Taxifahrerin unterwegs war. Die deutsche Autorin befasst sich mit Machtstrukturen, Geschlechterrollen, Umweltpolitik und schwarzmalerischen Zukunftsvisionen. Ihre Werke sind laut Jury-Mitglied und Laudatorin Nicola Steiner überraschend, schonungslos und scharfzüngig. Duve provoziert, protestiert, polarisiert und probiert Neues. So wird sie zum Beispiel schrittweise zur Veganerin oder adoptiert ein Huhn. Weil es doch einfach nicht sein kann, dass ein Brathähnchenteller weniger als drei Franken kostet. Duve hält uns einen Spiegel vor Augen, dessen Anblick uns gezielt zu schmerzen versucht. Mit kritischem, streitbarem und humorvollem Blick aber auch mit viel Fingerspitzengefühl fordert sie gekonnt zum Widerspruch auf.

Eindeutig affirmativ verhält sich die Preisträgerin indessen zum Preis und zum Lob ihres literarischen Schaffens. Ihre Freude ist gar so gross, dass sie zu früh auf die Bühne stürmt, um den Preis entgegenzunehmen. Im Gegenzug würde sie nach eigener Aussage am liebsten anschliessend gleich rauslaufen und zu schreiben beginnen, zuerst muss sie jedoch noch ein bisschen lesen. Und zwar aus ihrem neuen Werk „Fräulein Nette’s kurzer Sommer“, einem historischen Roman über Annette von Droste-Hülshoff. Fräulein Nette ist aber nicht nur nett, denn sie schreibt lieber, statt sich im Haushalt zu betätigen. Damit setzt sie ihre Weiblichkeit aufs Spiel. Zum Glück befinden wir uns im 21. Jahrhundert, wo Frauen wie Karen Duve im Literaturbetrieb nicht mehr verschmäht, sondern ab und zu auch ausgezeichnet werden.

Quallentherapie und Pornos gegen Schlaflosigkeit

Sibylle Aeberli hat ein Problem. Sie leidet an Schlaflosigkeit. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit hat sie nicht mehr richtig gut geschlafen. Genügend Schlaf zu bekommen wäre allerdings genau in dieser Nacht von Vorteil. Denn am nächsten Morgen muss Aeberli ein wichtiges Konzept für ein Musical vorstellen. In Zeiten von #meToo soll das Musical Abhängigkeit und Missbrauch im Kunstmilieu kritisch verhandeln. Das Konzept bereitet ihr Kopfzerbrechen. Tausend Gedanken gehen ihr durch den Kopf und halten sie die ganze Nacht wach.

Auch Stefanie Grob findet einfach keinen Schlaf. Wie schafft sie es nur, an das Erbe ihrer Grosstante zu kommen? Wie kommt die alte Dame überhaupt auf die blöde Idee, Geld an Blindenhunde zu spenden? Das sei doch absolut unsinnig. Sowieso: Diese armen Hunde dürfen ihr Hundeleben doch gar nicht richtig geniessen. Es wäre doch eigentlich endlich einmal Zeit, Tesla-Blindenhunde zu erfinden.

Aeberli und Grob lassen das Publikum am Samstagabend an ihrer wirren Gedankenwelt teilhaben. Es sind Gedanken, welche ohne Zusammenhang, sprunghaft und unerbittlich ehrlich sind. In einem Ausschnitt aus ihrem Programm „Schlaflos – Ich wach mich kaputt“ zeigen Sibylle Aeberli und Stefanie Grob eine Mischung aus Literatur, Kabarett, Schauspiel und Musik. „Es freut uns, dass ihr die ganze Nacht mit uns verbringt“, verkünden sie zu Beginn schelmisch. Sie würden es übrigens nicht persönlich nehmen, wenn die eine oder andere Person aus dem Publikum einschläft oder gar zu nachtwandeln beginnt. Das Publikum sei sowieso ein schönes „Wachfigurenkabinett“, sind sie sich mit einem Blick in die Runde einig. Schöne „Nachtschattengewächse“.

Aeberli und Grob entführen die Zuschauer*innen sowohl in eine Welt des Halbschlafs als auch des absoluten Wachzustandes, der einen nicht einschlafen lässt. Wenn die beiden mit weissen Nachthemden über die Bühne hüpfen oder als Quallen verkleidet eine „Quallentherapie“ durchführen, welche zu mehr Entspannung führen soll, können sich manche Personen nicht mehr halten vor lachen. Der Gedankenfluss zieht einen in einen Sog, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Nur: Wie gelingt das Einschlafen?

Youtube-Videos helfen womöglich. Oder vielleicht Pornos? Sibylle Aeberli ist sich da allerdings nicht sicher. „Die spielen doch immer so schlecht.“ Ausserdem sei doch das blaue Licht vom Laptop für das Einschlafen absolut kontraproduktiv. Und plötzlich ist da wieder der Krampf im Bein. Genau dann, wenn der Schlaf kommt.

Am Ende finden denn Aeberli und Grob beide keine einzige Minute Schlaf. Aber einen Vorteil hat die Schlaflosigkeit: Sie gibt einem die Zeit, sich unzählige Schmink-Tutorials anzuschauen. So kommt Aeberli am Ende immerhin schön geschminkt zu ihrer Konzept-Vorstellung.

Von Wahrheit und Wirklichkeit

Am Freitagabend zur «Prime Time» ist es endlich so weit: Ferdinand von Schirach, der deutsche Superstar der Literaturszene, betritt die Bühne des Landhaussaals, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist und wird mit tosendem Applaus empfangen.

Seine ersten Worte gelten jedoch nicht seinem neuen Buch, sondern den jugendlichen Helferinnen und Helfern. Sie erfüllten Schirach mit der Hoffnung, dass die Literatur doch noch nicht verloren sei.

Mit einem kurzen humorvollen Exkurs über Ernährungsratgeber versucht Schirach, die Stimmung zu Beginn etwas aufzulockern, nur um für den Rest des Abends über scheinbar ernsthaftere Themen zu sinnieren. Dabei ist er immerzu versucht, den Draht zum Publikum nicht zu verlieren, was ihm mit der einen oder anderen Anekdote hörbar gelingt. Auch sonst scheint ihm seine Verbindung – das «heilige Band» zu seinen Leserinnen und Lesern, wie er es nennt – betont wichtig zu sein. Sowohl Menschen, die lesen, als auch solche die schreiben, seien nicht ganz eins mit der Welt.

Dass der Abend, durch den Schirach sehr professionell führt, noch durch ein Gespräch hätte angereichert werden sollen, gerät im Angesicht von Schirachs persönlicher Inszenierung weitgehend in den Hintergrund. Da nützt es auch nichts, dass sein Gesprächspartner Philipp Theisohn auf seine gekonnt professionelle und charmante Art versuchte, Schirach ein paar originellere Antworten zu entlocken. Es blieb trotz aller Mühen beim Versuch.

Ferdinand von Schirach, der in den vergangen Jahren mit seiner Trilogie über Verbrechen und die Justiz grosse Erfolge feierte, ist in Solothurn, um über sein neues Buch Kaffee und Zigaretten zu sprechen. Nicht für einen Ernährungsratgeber, aber für seine persönlichen Zutaten eines erfolgreichen Schreibprozesses steht der Titel. Kaffee trinken sei in Ordnung, aber mit dem Rauchen werde es immer schwieriger. Und schon ist man mitten im Thema des Abends. Es geht um die grossen Erkenntnisfragen, um die Suche nach der Wahrheit und die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Dass dann genau dort, wo die Schwedenkrimis spielen, am wenigsten Verbrechen verübt würden, ist nur ein Beispiel Schirachs dafür, dass die Wirklichkeit und die wahrgenommene Wahrheit zwei unterschiedliche paar Schuhe sind. Für seinen Seelenfrieden hoffen wir, es sind keine Turnschuhe oder gar «Ugly Sneakers», deren Träger, ebenso wie Jogginghosenträger, er nämlich ordentlich kritisierte. Ebenfalls zu hoffen bleibt, dass die Jungen die Literatur auch in dem Schuhwerk retten dürfen, in dem sie sich am wohlsten fühlen. Dass sein Modegeschmack – ganz im Sinne seiner eigenen These – wohl einfach seine ganz subjektiv gefärbte Perspektive auf die Wirklichkeit ist, scheint er dabei selbst zu vergessen.

Um auf die Thematik des Rauchens zurückzukommen: Sie bietet Schirach Anlass für die Diagnose einer immer eingeschränkteren Welt, überreguliert durch zahlreiche Ge- und Verbote. Und schon landen wir bei einem weiteren Lieblingsthema Schirachs, der Menschenwürde. In einer überregulierten Gesellschaft sehe er die Würde des Menschen akut gefährdet, beispielsweise wenn man «wie ein Schaf durch die leeren Abschrankungen vor der Kasse am Flughafen durchlaufen muss».

Als der Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer, der Schirach seine modischen Verurteilungen verzeihen konnte, nach der Pause nochmals seine Plätze einnimmt, bin ich wohl nicht die Einzige, die auf den apellativen Charakter seines Vortrags unter dem harmlosen Titel Warum ich schreibe mit Überraschung reagiert. Nachdem man das Vorgetragene lange einzuordnen versucht hat, wird endlich klar, um was es geht: Auf der Bühne steht gerade ein deutscher Schriftsteller, der seinem schweizer Publikum die Idee einer Europäischen Verfassung anpreist. Dieser unerwartete Abschluss eines denkwürdigen Abends hatte nicht mehr viel mit einer klassischen Lesung zu tun und wie Ferdinand von Schirach selbst bemerkte, «wird alles radikal Neue erstmals auf geteilte Meinungen stossen».

So muss dann auch das Fazit über seine Lesung ausfallen: Es ist alles eine Frage der Perspektive. Wenn man etwas mitgenommen hat, dann wohl den Aufruf «zum Aushalten eines friedlichen Dissens».

Grenzgängerin. Ein Lexikon-Interview mit Gianna Molinari

Gianna Molinari entwirft in ihrem Roman Hier ist noch alles möglich (2018) eine Welt, die voller Grenzen ist. Nicht immer ist klar, wo sie verlaufen, wer sie überschreiten darf und wer nicht. Die Protagonistin navigiert durch diese Welt mithilfe ihres «Universal-General-Lexikons» und ergänzt dabei immer wieder die Einträge . Auch Gianna Molinari lotet mit ihrer Arbeit und ihrer Sprache Grenzen verschiedenster Art aus. Ein paar Lexikon-Ergänzungen, die sich aus einem Gespräch mit Gianna Molinari über Grenzen und ihre Überwindung ergeben haben.

Form: Eine Erzählung muss sich nicht an die Grenzen zweier Buchdeckel halten, findet Gianna Molinari. «Der Roman ist nicht die einzige Form, in die diese Erzählung hätte finden können. Ich hätte mir vieles vorstellen können: Eine Mappe, die mit verschiedenen Dokumenten gefüllt ist, durch die man blättern und die Handlung so entdecken kann. Oder ein Teppich, aus dem man verschiedene Handlungsstränge wie Fäden ziehen und sehen kann, wie das alles zusammenhängt.»

Gesellschaftskritik: «Ich habe mich nicht mit dem Ziel vor das leere Blatt gesetzt, Kritik an den gegenwärtigen Zuständen zu üben. Aber natürlich ergibt sich eine Kritik oft aus der Literatur, weil sie genau beobachtet und Zeit hat, zu sammeln und zu wachsen. Sie kann die Gesellschaft reflektieren und kritisieren, oder auch einfach für sich stehen. Das ist die grosse Qualität der Literatur: Sie greift aktuelle Themen kritisch auf, aber sie setzt sich auch mit Fragen auseinander, die uns wahrscheinlich noch in vielen Jahren beschäftigen.»

Kategorien: Die Protagonistin dieses Romans wird bis zum Schluss nicht ganz greifbar, sie will sich nicht kategorisieren lassen, sich nicht auf eine einzige Lebensgeschichte festlegen. Auch ihre Autorin will nicht in Kategorien denken: «Diversität ist mir in allen Bereichen des Lebens wichtig», sagt Gianna Molinari. «Ich schätze es zum Beispiel sehr, dass Menschen aller Altersgruppen meinen Roman lesen. Es ist so spannend zu sehen, wie jede*r von einem anderen Aspekt der Erzählung angesprochen wird.»

Loslassen: «Lange habe ich die Welt der Fabrik und ihrer Umgebung nur mit meiner Erzählerin zusammen bewohnt.» Mittlerweile hat Gianna Molinari im In- und Ausland Preise gewonnen, ihr Werk ist rezensiert, interpretiert, diskutiert worden. Ihre Welt teilt sie jetzt mit unzähligen Leser*innen. «Ich war natürlich sehr gespannt auf die Reaktion der Leser*innen; es war immer ein grosser Wunsch von mir, diese Erzählung mit ihnen zu teilen. Aber es ist auch ein Loslassen.»

Lücke: Molinari verleiht ihrer Erzählerin eine knappe Sprache, mit der die Figur die Welt manchmal naiv, aber immer aufmerksam und hinterfragend betrachtet. Dadurch entsteht viel Zweideutigkeit und bleibt Vieles ungesagt. Den Leser*innen steht so ein Raum offen, den sie selbst füllen können. «Das Buch muss nicht in einer bestimmten Art gelesen werden, es ist offen zur Interpretation. Die Lücken, welche die Erzählung lässt, sollen zum Nachdenken anregen, zur Frage, was könnte da sein?»

Veränderung: Das zentrale Motiv des Romans ist der Wolf, der in das Fabrikgelände vordringt und so eine Grenze überschreitet, die man ihm gezogen hat. Doch die Erzählerin sehnt sich den Wolf geradezu herbei. «Der Wolf verspricht, Bewegung in das sonst so monotone Leben in der Fabrik zu bringen», sagt Gianna Molinari über das Verhältnis der Erzählerin zum Wolf. «Das Fremde, wie es der Wolf verkörpert, kann auch Neues schaffen und neue Impulse geben. Er verunsichert, aber er bringt auch Veränderung.»