Von Wahrheit und Wirklichkeit

Am Freitagabend zur «Prime Time» ist es endlich so weit: Ferdinand von Schirach, der deutsche Superstar der Literaturszene, betritt die Bühne des Landhaussaals, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist und wird mit tosendem Applaus empfangen.

Seine ersten Worte gelten jedoch nicht seinem neuen Buch, sondern den jugendlichen Helferinnen und Helfern. Sie erfüllten Schirach mit der Hoffnung, dass die Literatur doch noch nicht verloren sei.

Mit einem kurzen humorvollen Exkurs über Ernährungsratgeber versucht Schirach, die Stimmung zu Beginn etwas aufzulockern, nur um für den Rest des Abends über scheinbar ernsthaftere Themen zu sinnieren. Dabei ist er immerzu versucht, den Draht zum Publikum nicht zu verlieren, was ihm mit der einen oder anderen Anekdote hörbar gelingt. Auch sonst scheint ihm seine Verbindung – das «heilige Band» zu seinen Leserinnen und Lesern, wie er es nennt – betont wichtig zu sein. Sowohl Menschen, die lesen, als auch solche die schreiben, seien nicht ganz eins mit der Welt.

Dass der Abend, durch den Schirach sehr professionell führt, noch durch ein Gespräch hätte angereichert werden sollen, gerät im Angesicht von Schirachs persönlicher Inszenierung weitgehend in den Hintergrund. Da nützt es auch nichts, dass sein Gesprächspartner Philipp Theisohn auf seine gekonnt professionelle und charmante Art versuchte, Schirach ein paar originellere Antworten zu entlocken. Es blieb trotz aller Mühen beim Versuch.

Ferdinand von Schirach, der in den vergangen Jahren mit seiner Trilogie über Verbrechen und die Justiz grosse Erfolge feierte, ist in Solothurn, um über sein neues Buch Kaffee und Zigaretten zu sprechen. Nicht für einen Ernährungsratgeber, aber für seine persönlichen Zutaten eines erfolgreichen Schreibprozesses steht der Titel. Kaffee trinken sei in Ordnung, aber mit dem Rauchen werde es immer schwieriger. Und schon ist man mitten im Thema des Abends. Es geht um die grossen Erkenntnisfragen, um die Suche nach der Wahrheit und die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Dass dann genau dort, wo die Schwedenkrimis spielen, am wenigsten Verbrechen verübt würden, ist nur ein Beispiel Schirachs dafür, dass die Wirklichkeit und die wahrgenommene Wahrheit zwei unterschiedliche paar Schuhe sind. Für seinen Seelenfrieden hoffen wir, es sind keine Turnschuhe oder gar «Ugly Sneakers», deren Träger, ebenso wie Jogginghosenträger, er nämlich ordentlich kritisierte. Ebenfalls zu hoffen bleibt, dass die Jungen die Literatur auch in dem Schuhwerk retten dürfen, in dem sie sich am wohlsten fühlen. Dass sein Modegeschmack – ganz im Sinne seiner eigenen These – wohl einfach seine ganz subjektiv gefärbte Perspektive auf die Wirklichkeit ist, scheint er dabei selbst zu vergessen.

Um auf die Thematik des Rauchens zurückzukommen: Sie bietet Schirach Anlass für die Diagnose einer immer eingeschränkteren Welt, überreguliert durch zahlreiche Ge- und Verbote. Und schon landen wir bei einem weiteren Lieblingsthema Schirachs, der Menschenwürde. In einer überregulierten Gesellschaft sehe er die Würde des Menschen akut gefährdet, beispielsweise wenn man «wie ein Schaf durch die leeren Abschrankungen vor der Kasse am Flughafen durchlaufen muss».

Als der Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer, der Schirach seine modischen Verurteilungen verzeihen konnte, nach der Pause nochmals seine Plätze einnimmt, bin ich wohl nicht die Einzige, die auf den apellativen Charakter seines Vortrags unter dem harmlosen Titel Warum ich schreibe mit Überraschung reagiert. Nachdem man das Vorgetragene lange einzuordnen versucht hat, wird endlich klar, um was es geht: Auf der Bühne steht gerade ein deutscher Schriftsteller, der seinem schweizer Publikum die Idee einer Europäischen Verfassung anpreist. Dieser unerwartete Abschluss eines denkwürdigen Abends hatte nicht mehr viel mit einer klassischen Lesung zu tun und wie Ferdinand von Schirach selbst bemerkte, «wird alles radikal Neue erstmals auf geteilte Meinungen stossen».

So muss dann auch das Fazit über seine Lesung ausfallen: Es ist alles eine Frage der Perspektive. Wenn man etwas mitgenommen hat, dann wohl den Aufruf «zum Aushalten eines friedlichen Dissens».

Von Einhörnern und Verzeichnissen

Obwohl es die erste Lesung des Tages ist, ist der Saal gut gefüllt. Nachdem Lucas Marco Gisi Judith Schalansky und ihr Werk vorgestellt hat, beginnt die Autorin mit der Lesung eines Kapitels aus ihrem Verzeichnis einiger Verluste – es spielt in den Walliser Alpen und besitzt durchaus autobiografische, autopoietische Züge. Beim Lesen spielt sie deutlich vernehmbar mit dem Rhythmus der Worte und der Geschwindigkeit des Vortrags.

Sie erzählt, dass sie zuerst einen Naturführer über Monster habe schreiben wollen, doch das Vorhaben sei gescheitert. Glücklicherweise habe sie das Projekt dann doch noch in einen Text einfliessen lassen können. Dieser handle nicht nur von der wunderbaren Landschaft in der Schweiz, sondern auch von Ängsten. Das Vakuum sei das Schlimmste überhaupt, da sei es besser, man stelle sich Monster vor. Das sei schliesslich besser als nichts, so Schalansky. Doch auch der Erzählerin will es nicht gelingen, über Monster zu schreiben.

Judith Schalansky fragt das Publikum und Lucas Marco Gisi, ob sie zu rätselhaft schreibe? Mit einem Lachen fügt sie hinzu: «Das ist der zweitschwierigste Text im Buch.» Daraufhin fragt sie: «Haben Sie gelesen, dass die Frau in der Erzählung schwanger werden wollte?» Lucas Marco Gisi verneint, worauf die Autorin schmunzelt. Er habe die Menstruationsblutungs-Stelle eher als ein Naturerlebnis gelesen, fügt Gisi hinzu. Schalansky erzählt, dass die Übersetzerinnen – abgesehen von der schwedischen und norwegischen – dies auch nicht herausgelesen hätten. Das liege vielleicht an der Nähe zu ihrer Heimat; sie sei nämlich in Greifswald aufgewachsen, im Norden von Deutschland. Das Publikum lacht mit ihr und sie fügt hinzu, dass jede Lesart ihrer Texte die richtige sei.

Und was habe es mit den Einhörnern auf sich? Sie finde Einhörner dämlich, aber musste sie trotzdem irgendwie in ihren Text einbauen. Wie sie das gemacht habe? Das Einhorn sei als eine Tätowierung auf der Hand einer Supermarktkassierer wiederzufinden. Sie betont, das sei das Schöne an der Literatur. Auch als sie nicht wusste, wie sie in einem Verzeichnis eine Mondlandung einbauen sollte. Es musste schliesslich eine besondere Mondlandung her. Wie sie das gelöst habe? Sie erzählt lachelnd, sie habe einfach einen Absatz gemacht und weiter geschrieben. Das sei eben Literatur – sie lasse spielerischen Freiraum.

Was sie vermisse, seien Verzeichnisse über Verluste von Dingen. Die Literatur sei wie eine Wunderkammer und ihre Recherchen seien immer wie eine Art Privatforschung. Sie stöbere gerne in Kartenabteilungen, um sich Anregungen für ihre Werke zu holen.

Was sie noch über ihr Buch zu sagen habe? Sie zeigt die schwarzen Seiten, welche die Verzeichnisse einteilen. Auf den Seiten sind schiefergraue Skizzen abgebildet, welche jeweils für das folgende Verzeichnis stehen. Und sie erzählt schmunzelnd, dass man normalerweise erst sterben müsse, um eine Fadenbindung zu erhalten. Doch sie habe dies für ihr Buch beim Suhrkamp-Verlag durchgesetzt.

Nachdem sie zum Schluss eine kompliziertere Stelle vorgelesen hat, nennt sie den Text eine Zumutung. Eine schöne Zumutung aber, fügt sie mit einem Lächeln an. Es gäbe auch niederschwellige Texte in ihrem Buch. Sie würde ja weiter lesen, aber sie habe nur 45 Minuten Zeit bekommen.

Für mich vergingen die Minuten wie im Flug und es steht ausser Frage: Wer so ernst und geschickt schreibt und dabei trotzdem so lustig über seine Texte redet, den muss man einfach mögen!

 

Schwindelnde Leitern und knisternde Gletscher

Der Landhaussaal ist gut gefüllt, leises Schwatzen lässt sich vernehmen; vor dem Fenster rauscht die Aare in der Mittagssonne. Auf der Bühne hat der Walliser Schriftsteller Rolf Hermann bereits Platz genommen. Eine Frage scheint im Raum zu stehen: Wie kann man an diesem – beinahe aufdringlich lieblichen – Sommertag ein abgelegenes Walliser Bergdorf ins belebte Solothurn bringen?

Das erste Wort hat Moderator Pablo Haller. Pointiert fasst er zusammen, was Rolf Hermanns Texte ausmacht: „Das nebensächlich Erlebte erweist sich als das Wesentliche“. Dann ist Hermann selbst an der Reihe, er macht den Einstieg mit einem Gedicht aus seinem ersten Spoken-Script-Band Das Leben ist ein Steilhang. Sofort gelingt es ihm, das Publikum in den Bann seiner Sprache zu ziehen. Dies ist einerseits der Lautlichkeit des breiten Walliserdialekts geschuldet, in dem Hermann den Text vorträgt, andererseits aber auch Hermanns Präsenz. Für Hermann, der auch Teil einer Mundart-Combo ist, findet Literatur nicht nur im stillen Kämmerchen statt. Seine Worte entfalten ihre ganze Wirkung gerade auf einer Bühne.

Darauf trägt Hermann seinen Lieblingstext aus dem Prosaband Flüchtiges Zuhause vor. In Flüchtiges Zuhause versammelt Hermann Erzählungen rund um das Aufwachsen in einem entlegenen Walliser Dorf. Hermann und der Text sind während der Lesung ganz eins; sie scheinen sich in- und auswendig zu kennen ohne dabei voneinander gelangweilt zu sein. Hermann nimmt sich Zeit für jede Silbe. Mit feiner Selbstironie schildert er den Stolz nachdem Überwinden der eigenen Höhenangst beim steilen Aufstieg über die Albinen-Leitern. Aus dem Publikum lässt sich immer wieder leises Lachen, fast eher ein hörbar gewordenes Schmunzeln, vernehmen.

Bereitswillig gibt Hermann darauf Auskunft auf einige Zwischenfragen Hallers. Er bestätigt den autobiographischen Einfluss auf die Erzählungen in Flüchtiges Zuhause, hebt aber auch das immer vorhandene „Moment der Fiktion“ hervor. Frei erzählt Hermann schliesslich von seinen Erfahrungen als Schafhirt auf der Alm und schöpft dabei aus dem Vollen. Während Flüchtiges Zuhause vor allem auch vom Rhythmus der Sprache und dem Klang der Worte lebt, tritt dieser Aspekt beim freien Erzählen selbstredend zurück. Dies vermag Hermann aber durch seinen geschärften aber liebevollen Blick auf die menschlichen Schwächen und die Skurrilitäten des Alltags wettzumachen.

Nach einer weiteren Kostprobe aus seinem Prosadebüt wird die Lesung mit nachdrücklichem Applaus aus dem Publikum abgerundet. Vor der Bühne bildet sich eine Traube an Zuhörer*innen, die noch einige Worte mit dem Autor wechseln wollen; draussen rauscht die Aare. Deutlich wird: Hermann ist es spielend leicht gelungen, das entlegene Walliser Dorf nach Solothurn zu verfrachten; das Auftauchen aus dieser Bergwelt gestaltet sich auf jeden Fall als schwieriger als das Versinken darin.