Ihr dürft schon ein bisschen näher kommen

Niemand getraut sich so richtig, die erste Sitzreihe direkt am grossen Tisch in Beschlag zu nehmen, an dessen Kopfende bereits Donat Blum, Anna Stern, Ivona Brđanović, Lou Meili, Martin Frank und Lino Sibillano sitzen.

«Ihr dürft schon ein bisschen näher kommen», sagt darum Donat Blum, und alle Besucher*innen rücken eine Reihe nach vorn, sodass jetzt auch die Stühle direkt am Tisch besetzt sind und die Autor*innen mit dem Publikum im Kreis sitzen.

Dem Publikum Autor*innen und ihre gemeinsamen Arbeit an einem Text näher zu bringen, ist das Ziel der Veranstaltungsreihe «Skriptor». Das Format soll einen Begegnungsort schaffen, sagt Donat Blum, der «Skriptor» ins Leben gerufen hat, den literarischen Schaffensprozess für Leser*innen sichtbar machen.

Heute sitzen Autor*innen von «Glitter*», dem ersten und einzigen Magazin für queere Literatur im deutschsprachigen Raum, in der Runde. Besprochen wird ein Text von Lino Sibillano. Er nennt den Auszug eine «Baustelle, einen Anfang von Etwas».

Sibillano liest seinen Text vor, die Autor*innen und Besucher*innen hören zu, verfolgen die Zeilen mit den Augen oder lauschen einfach der Stimme des Autors. Dann eröffnet Donat Blum die Diskussion. Wer jetzt erwartet hat, die Autor*innen würden nach dem Prinzip «zuerst drei positive Punkte, dann Kritik» vorgehen, wird überrascht.

Die Kritik kommt ohne Umschweife, ist ehrlich, präzise, zielt auf Inhaltliches, aber auch Sprachliches. Dabei sind die Autor*innen nicht immer gleicher Meinung. Uneinigkeit entsteht etwa um die Wahl eines Wortes, das auf «-chen» endet. Während sich Donat Blum fragt, was das hier zu suchen habe, sieht Lou Meili darin eine gekonnte Charakterisierung des Erzählers.

Man merkt, wie genau sich die Autor*innen in den Text hineingedacht haben. Hier soll die beste Form eines Textes aus dem Sprachmaterial herausgeschält werden. Dann darf sich auch das Publikum zum Text äussern, auch hier werden genaue Beobachtungen beschrieben. Lino Sibillano hört aufmerksam zu, macht sich Notizen, nimmt auch die direkteste Kritik mit einem Lächeln zur Kenntnis, etwa als Ivona Brđanović eine Textstelle als «Coelho-Moment» bezeichnet.

Zum Schluss sind sich aber alle einig, die Autor*innen und das Publikum: Sibillanos Text hat Potential, einen spannenden Ansatz, der verschiedene Textsorten vereint und mit fiktionalen Ebenen spielt. Wir dürfen also gespannt sein, wie sich sein fertiger Text lesen wird.

Die letzten Zeilen

Jetzt verirren sich nur noch wenige Besucher*innen ins Buchjahr-Büro, Notizbücher, Guetsli-Packungen und Ladekabel verschwinden nach und nach von unseren Tischen. Die Solothurner Literaturtage 2019 sind bald vorbei.

Einige Studierende machen sich mit gepackten Taschen auf den Weg zu den letzten Lesungen, danach geht es für viele direkt nach Hause. Andrina sitzt noch hinter ihrem Laptop, sie will ihren Artikel noch in Solothurn zu Ende schreiben.

«Es waren so viele Eindrücke in diesen drei Tagen, dass ich noch gar nicht alles verarbeiten konnte. Ich hätte am liebsten viel mehr Veranstaltungen besucht, aber dann wäre ich mit dem Schreiben wohl nie mehr fertig geworden. Es war auch gut, einmal aus dem „Elfenbeinturm“ herauszukommen und über einen Event wie die Solothurner Literaturtage zu schreiben.»

Und dafür hat sich das Festival auch das beste Wochenende ausgesucht. «Das Wetter war einmalig, die Stimmung im Buchjahr-Team war super und ich bin wirklich beeindruckt von der Stadt Solothurn. Alles in allem drei sehr intensive, eindrückliche Tage – ich freue mich schon auf das nächste Jahr.»

Grenzgängerin. Ein Lexikon-Interview mit Gianna Molinari

Gianna Molinari entwirft in ihrem Roman Hier ist noch alles möglich (2018) eine Welt, die voller Grenzen ist. Nicht immer ist klar, wo sie verlaufen, wer sie überschreiten darf und wer nicht. Die Protagonistin navigiert durch diese Welt mithilfe ihres «Universal-General-Lexikons» und ergänzt dabei immer wieder die Einträge . Auch Gianna Molinari lotet mit ihrer Arbeit und ihrer Sprache Grenzen verschiedenster Art aus. Ein paar Lexikon-Ergänzungen, die sich aus einem Gespräch mit Gianna Molinari über Grenzen und ihre Überwindung ergeben haben.

Form: Eine Erzählung muss sich nicht an die Grenzen zweier Buchdeckel halten, findet Gianna Molinari. «Der Roman ist nicht die einzige Form, in die diese Erzählung hätte finden können. Ich hätte mir vieles vorstellen können: Eine Mappe, die mit verschiedenen Dokumenten gefüllt ist, durch die man blättern und die Handlung so entdecken kann. Oder ein Teppich, aus dem man verschiedene Handlungsstränge wie Fäden ziehen und sehen kann, wie das alles zusammenhängt.»

Gesellschaftskritik: «Ich habe mich nicht mit dem Ziel vor das leere Blatt gesetzt, Kritik an den gegenwärtigen Zuständen zu üben. Aber natürlich ergibt sich eine Kritik oft aus der Literatur, weil sie genau beobachtet und Zeit hat, zu sammeln und zu wachsen. Sie kann die Gesellschaft reflektieren und kritisieren, oder auch einfach für sich stehen. Das ist die grosse Qualität der Literatur: Sie greift aktuelle Themen kritisch auf, aber sie setzt sich auch mit Fragen auseinander, die uns wahrscheinlich noch in vielen Jahren beschäftigen.»

Kategorien: Die Protagonistin dieses Romans wird bis zum Schluss nicht ganz greifbar, sie will sich nicht kategorisieren lassen, sich nicht auf eine einzige Lebensgeschichte festlegen. Auch ihre Autorin will nicht in Kategorien denken: «Diversität ist mir in allen Bereichen des Lebens wichtig», sagt Gianna Molinari. «Ich schätze es zum Beispiel sehr, dass Menschen aller Altersgruppen meinen Roman lesen. Es ist so spannend zu sehen, wie jede*r von einem anderen Aspekt der Erzählung angesprochen wird.»

Loslassen: «Lange habe ich die Welt der Fabrik und ihrer Umgebung nur mit meiner Erzählerin zusammen bewohnt.» Mittlerweile hat Gianna Molinari im In- und Ausland Preise gewonnen, ihr Werk ist rezensiert, interpretiert, diskutiert worden. Ihre Welt teilt sie jetzt mit unzähligen Leser*innen. «Ich war natürlich sehr gespannt auf die Reaktion der Leser*innen; es war immer ein grosser Wunsch von mir, diese Erzählung mit ihnen zu teilen. Aber es ist auch ein Loslassen.»

Lücke: Molinari verleiht ihrer Erzählerin eine knappe Sprache, mit der die Figur die Welt manchmal naiv, aber immer aufmerksam und hinterfragend betrachtet. Dadurch entsteht viel Zweideutigkeit und bleibt Vieles ungesagt. Den Leser*innen steht so ein Raum offen, den sie selbst füllen können. «Das Buch muss nicht in einer bestimmten Art gelesen werden, es ist offen zur Interpretation. Die Lücken, welche die Erzählung lässt, sollen zum Nachdenken anregen, zur Frage, was könnte da sein?»

Veränderung: Das zentrale Motiv des Romans ist der Wolf, der in das Fabrikgelände vordringt und so eine Grenze überschreitet, die man ihm gezogen hat. Doch die Erzählerin sehnt sich den Wolf geradezu herbei. «Der Wolf verspricht, Bewegung in das sonst so monotone Leben in der Fabrik zu bringen», sagt Gianna Molinari über das Verhältnis der Erzählerin zum Wolf. «Das Fremde, wie es der Wolf verkörpert, kann auch Neues schaffen und neue Impulse geben. Er verunsichert, aber er bringt auch Veränderung.»

Unser Team in Solothurn: Livia Sutter

Livia ist noch nie einem Wolf begegnet. Jedenfalls nicht ausserhalb der Literatur, wo er sich ja gerne in dunklen Wäldern herumtreibt – oder auf einem Fabrikgelände, wie in Gianna Molinaris Roman Hier ist noch alles möglich (2018). Livia hofft, dem Wolf in Solothurn auf die Spur zu kommen und herauszufinden, was uns diese Mythen- und Märchengestalt heute noch sagen will.

Und wie könnte man sich von der Begegnung mit einem Wolf besser erholen als mit einer grossen Portion Glitzer? Die Autor*innen von «Glitter*» lassen sich bei der Arbeit an einem neuen Text über die Schultern schauen. Livia ist gespannt auf die Geschichten, welche die Zeitschrift für queere Literatur zu erzählen hat.