„Es ist schwierig, sich mit historischen Romanen zu behaupten“

Gabrielle Alioth erscheint – trotz meiner sehr kurzfristigen Anfrage – gut gelaunt und aufgeweckt im Café Solheure. Ich freue mich auf unser Gespräch. Mein Interesse gilt ihrem jüngsten Roman Gallus, der Fremde, der den rätselhaften Lebensweg des Wandermönches Gallus neu erzählt. Das Leben von Gallus verbindet sich im Roman mit jenem einer Ich-Erzählerin, die am Ende des 20. Jahrhunderts den umgekehrten Weg geht: von der Schweiz nach Irland (genauso wie Gabrielle Alioth selber). Als Zeitreisende besucht die Ich-Erzählerin Gallus und befragt ihn zu seinem Leben. Es scheint, als wolle sie das Leben des Heiligen ergründen, um etwas über ihr eigenes zu lernen. Der Roman ist ein Oszillieren zwischen verschiedenen Erzählperspektiven und Zeiten. Gedankenstränge verbinden sich zu einem Gemisch an Erinnerungen. Mit Gabrielle Alioth habe ich über ihren unkonventionellen historischen Roman gesprochen. Ich bin der Frage nachgehen, welchen Stellenwert der historische Roman heute noch hat und war erstaunt, dass es Gabrielle Alioth selber nicht immer gefällt, wenn ihre Romane das „Label“ des historischen Romans erhalten.

Gabrielle Alioth, zuerst einmal: Wie ist Gallus, der Fremde bei den Leser*innen angekommen? So wie erhofft?

G. Alioth: (lacht) Sogar besser als erhofft. Ich hatte schon Bedenken. Mein grosser Vorteil ist, dass Gallus in der Ostschweiz stark verwurzelt ist. Die Ostschweizer interessieren sich einfach für Gallus. Es gab Diskussionen, viele interessante Rückmeldungen und ein grosses Interesse an Lesungen. 

Du sprichst von Bedenken. Einige Zweifel am Vorhaben, etwas über Gallus zu erfahren, lassen sich auch während der Lektüre feststellen. So beispielsweise in den Überlegungen der Ich-Erzählerin selber.

G. Alioth: Ich konnte mir bis zum Schluss nicht ganz erklären, was mich an der Geschichte vom grantigen Heiligen in seiner modrigen Einsiedelei wirklich interessiert. Es ist ja eigentlich schon ziemlich „unsexy“. Ich habe grosses Glück mit meinem Verlag. Normalerweise wäre es schwierig, einem Verlag eine solche Geschichte schmackhaft zu machen. Ein anderer Verlag hätte vielleicht gesagt: Da gibt es keinen Sex und keinen Mord. Was willst du eigentlich?

Was hat dich denn an Gallus fasziniert?

G. Alioth: Mich fasziniert, wenn eine Autorin, ein Autor oder ein Leben gradlinig ist. Wenn jemand konsequent seinen Weg verfolgt. Das tat Gallus auf jeden Fall. Deswegen schrieb ich immer weiter. Aber ich habe während dieser fünf Jahre nicht kontinuierlich am Roman gearbeitet. Ich musste das Ganze wachsen lassen. Ich musste Gallus zuerst kennenlernen. Es gibt ja dieses Klischee: Da ist der Punkt, an dem du vielleicht 60 Prozent des Romans geschrieben hast. Dann erst kennst du die Figuren richtig. Von da an läuft es rasch. Bis dahin aber gilt: „rewrite, rewrite, rewrite“, bis die Person in sich stimmig ist. Was mich an Gallus fasziniert, ist seine Widerborstigkeit. 

Vieles hast du offengelassen. Gehören diese Leerstellen für dich zum historischen Roman dazu?

G. Alioth: Ja, das ist meine Vorstellung von einem historischen Roman. Wir können uns nicht vorstellen, wie die Menschen damals gelebt haben. Wir können uns ja schon nicht mehr vorstellen, wie wir uns vor 20 Jahren gefühlt haben. Ich muss immer offenlegen, was möglich ist. Und zwar ohne zu sagen: So ist es! Die Konstruktion der Erzählebenen mit der Ich-Erzählerin hat mir dabei geholfen, alles zu hinterfragen.

Historische Romane kommen oft etwas kitschig daher. Kannst du bei der Gestaltung und Vermarktung deiner Romane mitreden?

G. Alioth: Nur sehr beschränkt. Beim Hardcover noch eher. Aber wenn dann die Taschenbuchrechte verkauft werden, was ja eigentlich schön ist, denke ich mir dann manchmal: Nein, wie kommt das jetzt daher? Es ist schwierig, sich mit historischen Romanen zu behaupten. Das sehe ich auch jetzt an den Solothurner Literaturtagen, wo wir nur ganz wenige historische Romane haben. Da ist natürlich Lukas Hartmann mit seinem wunderbaren Roman „Der Sänger“, aber auch er ist eher eine Ausnahme. 

Wie siehst du den Stellenwert des historischen Romans momentan?

G. Alioth: Es ist schwierig. Ich habe auch andere Romane geschrieben, die ebenfalls als „historische Romane“ betitelt wurden. Es wurde ein wenig zu einem „Label“, mit welchem ich mich nicht ganz wohlfühle. Einige Menschen denken bei „historischen Romanen“ an diese Billigromane. Und mit diesen lässt man sich natürlich nicht gerne ins gleiche Regal stellen. Andererseits ist der historische Roman eine einzigartige Chance, der Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten. 

Im weiteren Verlauf des Gespräches habe ich mich mit Gabrielle Alioth darüber unterhalten, inwiefern der historische Roman im englischsprachigen Raum einen anderen Stellenwert einnimmt, als im deutschsprachigen – und nach den Gründen dafür gefragt. Gabrielle Alioth hat mir des weiteren erklärt, was die Erzählebenen in Gallus, der Fremde mit einer keltischen, bisweilen romantischen Vorstellung von Zeit und Ort zu tun haben. Gabrielle Alioth hat mir auch verraten, weshalb sie selber beim Schreiben nach wie vor den historischen Roman gegenüber den Romanen bevorzuge, welche in der Gegenwart oder der Zukunft angesiedelt sind.

Das ausführliche Interview mit Gabrielle Alioth erscheint in Kürze auf der Buchjahr-Seite. Seid gespannt!

Der Meister hat nichts über Bomben zu berichten

Das Thermometer klettert beinahe auf 30 Grad, die Aare fliesst verlockend durch Solothurn. Eine Abkühlung im Fluss wäre eigentlich ganz schön. Aber es geht auch anders: „Sprache ist wie eine frische Brise“, begrüsst Beat Mazenauer das Publikum am Sonntagnachmittag. Er überlasse nun lieber „dem Meister“ das Wort. Sodann tritt Gerhard Meister ans Mikrophon – begleitet von einigen pflichtschuldigen Lachern.

Der Spoken-Word-Künstler berichtet in sympathischem Berndeutsch von Erfahrungen mit Self-Scan-Automaten, einem Termin bei der Berufsberatung – Astronaut war der einzige Beruf, der passte –  oder darüber, wie Engel den lieben Gott beobachteten, wie dieser auf den Wald „abägschnudderät“ habe.

Eines ist klar: Die Texte aus „Mau öppis ohni Bombe“ sind alle bühnentauglich. Und sehr angenehm anzuhören. Selbst bei fast 30 Grad. Bei einem Gespräch zwischen Meister und Mazenauer erfährt das Publikum, dass in Meisters Texten durchaus „kreuzbrave, biedere Begebenheiten“ zu finden seien. Auf die Frage, weshalb er den Dialekt als Ausdrucksform gewählt habe, erzählt Meister, dass er sich mit hochdeutschen Texten auf der Bühne gehemmter fühle. Das sei wahrscheinlich der Grund.

Weshalb aber hat Gerhard Meister nichts über Bomben zu berichten? Diese Frage stellt Beat Mazenauer dem Spoken-Word-Künstler nicht. Die Antwort hätte mich brennend interessiert. Immerhin hält sich Gerhard Meister beim Auftritt genau an sein Versprechen: „Mau öppis ohni Bombe“. Die Bombe kommt in der Spoken-Word-Aufführung tatsächlich nicht vor. Und noch beim Verlassen des Kinos im Uferbau blicke ich gedankenversunken zur Aare und frage mich, was es denn mit den Bomben auf sich hat.

Quallentherapie und Pornos gegen Schlaflosigkeit

Sibylle Aeberli hat ein Problem. Sie leidet an Schlaflosigkeit. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit hat sie nicht mehr richtig gut geschlafen. Genügend Schlaf zu bekommen wäre allerdings genau in dieser Nacht von Vorteil. Denn am nächsten Morgen muss Aeberli ein wichtiges Konzept für ein Musical vorstellen. In Zeiten von #meToo soll das Musical Abhängigkeit und Missbrauch im Kunstmilieu kritisch verhandeln. Das Konzept bereitet ihr Kopfzerbrechen. Tausend Gedanken gehen ihr durch den Kopf und halten sie die ganze Nacht wach.

Auch Stefanie Grob findet einfach keinen Schlaf. Wie schafft sie es nur, an das Erbe ihrer Grosstante zu kommen? Wie kommt die alte Dame überhaupt auf die blöde Idee, Geld an Blindenhunde zu spenden? Das sei doch absolut unsinnig. Sowieso: Diese armen Hunde dürfen ihr Hundeleben doch gar nicht richtig geniessen. Es wäre doch eigentlich endlich einmal Zeit, Tesla-Blindenhunde zu erfinden.

Aeberli und Grob lassen das Publikum am Samstagabend an ihrer wirren Gedankenwelt teilhaben. Es sind Gedanken, welche ohne Zusammenhang, sprunghaft und unerbittlich ehrlich sind. In einem Ausschnitt aus ihrem Programm „Schlaflos – Ich wach mich kaputt“ zeigen Sibylle Aeberli und Stefanie Grob eine Mischung aus Literatur, Kabarett, Schauspiel und Musik. „Es freut uns, dass ihr die ganze Nacht mit uns verbringt“, verkünden sie zu Beginn schelmisch. Sie würden es übrigens nicht persönlich nehmen, wenn die eine oder andere Person aus dem Publikum einschläft oder gar zu nachtwandeln beginnt. Das Publikum sei sowieso ein schönes „Wachfigurenkabinett“, sind sie sich mit einem Blick in die Runde einig. Schöne „Nachtschattengewächse“.

Aeberli und Grob entführen die Zuschauer*innen sowohl in eine Welt des Halbschlafs als auch des absoluten Wachzustandes, der einen nicht einschlafen lässt. Wenn die beiden mit weissen Nachthemden über die Bühne hüpfen oder als Quallen verkleidet eine „Quallentherapie“ durchführen, welche zu mehr Entspannung führen soll, können sich manche Personen nicht mehr halten vor lachen. Der Gedankenfluss zieht einen in einen Sog, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Nur: Wie gelingt das Einschlafen?

Youtube-Videos helfen womöglich. Oder vielleicht Pornos? Sibylle Aeberli ist sich da allerdings nicht sicher. „Die spielen doch immer so schlecht.“ Ausserdem sei doch das blaue Licht vom Laptop für das Einschlafen absolut kontraproduktiv. Und plötzlich ist da wieder der Krampf im Bein. Genau dann, wenn der Schlaf kommt.

Am Ende finden denn Aeberli und Grob beide keine einzige Minute Schlaf. Aber einen Vorteil hat die Schlaflosigkeit: Sie gibt einem die Zeit, sich unzählige Schmink-Tutorials anzuschauen. So kommt Aeberli am Ende immerhin schön geschminkt zu ihrer Konzept-Vorstellung.

Das Stimmenwirrwarr entschlüsseln

«Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich», erklärt Lukas Hartmann. Mit Geschichte komme er immer und überall in Berührung. In seinem neusten Roman Der Sänger hebt Hartmann eine Stimme aus der Geschichte heraus. Es ist dies die Stimme des jüdischen Tenors Joseph Schmidt, der in einem Internierungslager in der Schweiz erkrankte und starb.

Auch Shelley Kästner lässt in Jewish Roulette kaleidoskopartig einzelne Stimmen zu Wort kommen. Aus 21 Interviews und Gesprächen entsteht eine Erzählung. Die Zugehörigkeit zum Judentum schafft die Verbindung zwischen den einzelnen Stimmen. Das gemeinsame Gespräch zwischen Hartmann und Shelley über Stimme und Geschichte stösst am Samstag auf grossen Anklang. Nicht alle Zuschauer*innen finden einen Sitzplatz. Das muntere Stimmengewirr bricht ab, als Stefan Humbel die Anwesenden begrüsst. Das Publikum lauscht gespannt den Passagen aus Der Sänger und Jewish Roulette. Als «nah am Menschen und doch mit der nötigen Distanz und Respekt» beschreibt Humbel die Erzählstile von Hartmann und Shelley.

«Was heisst es, für andere zu sprechen?», möchte Humbel wissen. Shelley Kästner erzählt von ihren Gesprächserfahrungen. Nach der Transkription der Gespräche habe sie das Geschriebene viele Male durchgelesen. Die Gespräche in einer passenden Sprache zu verschriftlichen, sei kein leichtes Unterfangen gewesen. «Ich habe diese erzählten Lebensgeschichten gewissermassen aus dem Deutschen in meine eigene Sprache übersetzen müssen», erklärt sie. So entsteht denn in Jewish Roulette eine Ko-Autorschaft mit den befragten Personen. Shelley Kästner gibt anderen Personen eine Stimme, spricht für sie und erzählt ihre Lebensgeschichten.

Auch Lukas Hartmann spricht für eine andere Personen, wenngleich es sich in seinem Fall um Personen aus der Vergangenheit handelt. Hartmann gesteht, dass er sich während der Recherche bisweilen frage, ob er überhaupt für andere Personen aus der Vergangenheit sprechen dürfe oder wolle. Diese Frage treibe ihn immer wieder um. «Ich entschliesse mich dann aber dazu, dass ich das darf», erklärt er schelmisch. Ein biographischer Roman sei wie ein Vorschlag, wie es hätte sein können. Auch in Sachbüchern sei doch nie die ganze Wahrheit enthalten.

Die Stimme des Menschen – ob Sprechstimme, Singstimme oder die Stimme der Meinungsäusserung – empfinden Shelley und Hartmann als etwas Faszinierendes. Die Stimme sei ein einzigartiges Erkennungsmerkmal. «Meine Aufgabe als Schriftsteller ist es, hinzuhören, der Geschichte nachzugehen und das Stimmenwirrwarr zu entschlüsseln», erklärt Lukas Hartmann.

Während im Publikum langsam wieder ein zaghaftes Gemurmel und Stimmengewirr zu vernehmen ist, wird einmal mehr klar: Schwierig ist es allemal, anderen Menschen eine passende Stimme zu leihen – seien es Menschen aus der Vergangenheit oder Menschen aus der Gegenwart.

Unser Team in Solothurn: Andrina Zumbühl

Weil sie einfach nicht genug von Schreib-Marathons und Literaturveranstaltungen kriegen kann, ist Andrina Zumbühl zum zweiten Mal als Bloggerin dabei. Nach «Zürich liest» ist sie gespannt, was Solothurn zu bieten hat.

Da lauscht sie etwa einem Literaturgespräch über den Zusammenhang von Stimme und Identität. Wenn Lukas Hartmann und Shelley Kästner über Formen des Sprechens nachdenken, will sie sich inspirieren lassen. Denn die Themen Stimme und Sprache beschäftigen sie auch in einem anderen Kontext: im Bereich Spoken Word.

Das Duo «Loretta Shapiro» versteht sich etwa als Sprachrohr für Geschichten und fragt danach, wie ewig transformierende Erinnerung festgehalten werden kann. Sibylle Aeberli und Stefanie Grob sind schlaflos und «wachen sich kaputt». Was raubt ihnen den Schlaf? Und weshalb hat Gerhard Meister nichts über Bomben zu berichten?

Andrina ist gespannt auf Antworten.