Grenzgängerin. Ein Lexikon-Interview mit Gianna Molinari

Gianna Molinari entwirft in ihrem Roman Hier ist noch alles möglich (2018) eine Welt, die voller Grenzen ist. Nicht immer ist klar, wo sie verlaufen, wer sie überschreiten darf und wer nicht. Die Protagonistin navigiert durch diese Welt mithilfe ihres «Universal-General-Lexikons» und ergänzt dabei immer wieder die Einträge . Auch Gianna Molinari lotet mit ihrer Arbeit und ihrer Sprache Grenzen verschiedenster Art aus. Ein paar Lexikon-Ergänzungen, die sich aus einem Gespräch mit Gianna Molinari über Grenzen und ihre Überwindung ergeben haben.

Form: Eine Erzählung muss sich nicht an die Grenzen zweier Buchdeckel halten, findet Gianna Molinari. «Der Roman ist nicht die einzige Form, in die diese Erzählung hätte finden können. Ich hätte mir vieles vorstellen können: Eine Mappe, die mit verschiedenen Dokumenten gefüllt ist, durch die man blättern und die Handlung so entdecken kann. Oder ein Teppich, aus dem man verschiedene Handlungsstränge wie Fäden ziehen und sehen kann, wie das alles zusammenhängt.»

Gesellschaftskritik: «Ich habe mich nicht mit dem Ziel vor das leere Blatt gesetzt, Kritik an den gegenwärtigen Zuständen zu üben. Aber natürlich ergibt sich eine Kritik oft aus der Literatur, weil sie genau beobachtet und Zeit hat, zu sammeln und zu wachsen. Sie kann die Gesellschaft reflektieren und kritisieren, oder auch einfach für sich stehen. Das ist die grosse Qualität der Literatur: Sie greift aktuelle Themen kritisch auf, aber sie setzt sich auch mit Fragen auseinander, die uns wahrscheinlich noch in vielen Jahren beschäftigen.»

Kategorien: Die Protagonistin dieses Romans wird bis zum Schluss nicht ganz greifbar, sie will sich nicht kategorisieren lassen, sich nicht auf eine einzige Lebensgeschichte festlegen. Auch ihre Autorin will nicht in Kategorien denken: «Diversität ist mir in allen Bereichen des Lebens wichtig», sagt Gianna Molinari. «Ich schätze es zum Beispiel sehr, dass Menschen aller Altersgruppen meinen Roman lesen. Es ist so spannend zu sehen, wie jede*r von einem anderen Aspekt der Erzählung angesprochen wird.»

Loslassen: «Lange habe ich die Welt der Fabrik und ihrer Umgebung nur mit meiner Erzählerin zusammen bewohnt.» Mittlerweile hat Gianna Molinari im In- und Ausland Preise gewonnen, ihr Werk ist rezensiert, interpretiert, diskutiert worden. Ihre Welt teilt sie jetzt mit unzähligen Leser*innen. «Ich war natürlich sehr gespannt auf die Reaktion der Leser*innen; es war immer ein grosser Wunsch von mir, diese Erzählung mit ihnen zu teilen. Aber es ist auch ein Loslassen.»

Lücke: Molinari verleiht ihrer Erzählerin eine knappe Sprache, mit der die Figur die Welt manchmal naiv, aber immer aufmerksam und hinterfragend betrachtet. Dadurch entsteht viel Zweideutigkeit und bleibt Vieles ungesagt. Den Leser*innen steht so ein Raum offen, den sie selbst füllen können. «Das Buch muss nicht in einer bestimmten Art gelesen werden, es ist offen zur Interpretation. Die Lücken, welche die Erzählung lässt, sollen zum Nachdenken anregen, zur Frage, was könnte da sein?»

Veränderung: Das zentrale Motiv des Romans ist der Wolf, der in das Fabrikgelände vordringt und so eine Grenze überschreitet, die man ihm gezogen hat. Doch die Erzählerin sehnt sich den Wolf geradezu herbei. «Der Wolf verspricht, Bewegung in das sonst so monotone Leben in der Fabrik zu bringen», sagt Gianna Molinari über das Verhältnis der Erzählerin zum Wolf. «Das Fremde, wie es der Wolf verkörpert, kann auch Neues schaffen und neue Impulse geben. Er verunsichert, aber er bringt auch Veränderung.»

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