Von Kompost, unheimlichen Booten am Strand und einer gehörnten Frau

Die Jury des diesjährigen Schreibwettbewerbs für Nachwuchsschriftstellerinnen und -schriftsteller «OpenNet», der jeweils im Rahmen der Solothurner Literaturtage durchgeführt wird, hatte bei 205 Einsendungen die Qual der Wahl. Bei nur einem italienischen und einer unbekannten Anzahl an französischen Texten, fiel die Auswahl vorwiegend deutschsprachig aus. Nur wenig überraschend also, dass auch alle Siegertexte auf Deutsch verfasst waren.

An der Lesung, die gleichzeitig auch Teil des Preises für die Gewinnerinnen und den Gewinner ist, konnte man die drei Siegertexte hören und in Gesprächen mit den Jurymitgliedern etwas über ihre Gedanken und Intentionen hinter den Texten erfahren. Den Anfang machte Micha Frieml mit Kompost. Der Text, der durch viel Schreiben und noch mehr Streichen entstanden sei, erzählt von der Stille und dem Gefühl, dass sich ein Raum durch den Tod zugleich verändere und trotzdem derselbe bleibe. Ein Merkmal des Textes sei, dass Familien- und Beziehungsstrukturen unkommentiert blieben. Frieml sagt: «Beziehung ist immer auch das, was sie nicht ist.»

Als nächstes war der Gewinner Christian Zeier an der Reihe. Lara erzählt von aktuellen Themen wie Flucht und Migration und ist bei einem Besuch auf Lesbos entstanden. Zeier möchte damit gegen die mediale Abstraktion von Migration ankämpfen und durch die Erzählperspektive eines Kindes die unterschiedliche Betroffenheit der Menschen aufzeigen. Er äusserte den Wunsch einer «globalisierten Empathie».

Den Schluss machte Jasmine Keller mit ihrem Text gehörnt. Zweifelsfrei der skurrilste Beitrag, in dem ein schwarzer Kriegsfotograf von einer gehörnten Frau in den Gotthard-Bunker geführt wird. Anlass zu diesem Text boten u.a. kursierende Verschwörungstheorien um die Eröffnungsfeier der zweiten Röhre. Man merkt schnell: Es handelt sich auch hier um einen sehr politischen Text, geschrieben von einer «linken widerständigen» Frau, welche die nicht-weisse Geschichte der Schweiz thematisiert.

Das Ende dieser Veranstaltung gestaltete sich so wechselhaft wie ihr Inhalt und wurde mit zwei jubelnden Zuschauern – einer davon Kellers Lebensgefährte – und einigen Buhrufen beschlossen.

Von Wahrheit und Wirklichkeit

Am Freitagabend zur «Prime Time» ist es endlich so weit: Ferdinand von Schirach, der deutsche Superstar der Literaturszene, betritt die Bühne des Landhaussaals, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist und wird mit tosendem Applaus empfangen.

Seine ersten Worte gelten jedoch nicht seinem neuen Buch, sondern den jugendlichen Helferinnen und Helfern. Sie erfüllten Schirach mit der Hoffnung, dass die Literatur doch noch nicht verloren sei.

Mit einem kurzen humorvollen Exkurs über Ernährungsratgeber versucht Schirach, die Stimmung zu Beginn etwas aufzulockern, nur um für den Rest des Abends über scheinbar ernsthaftere Themen zu sinnieren. Dabei ist er immerzu versucht, den Draht zum Publikum nicht zu verlieren, was ihm mit der einen oder anderen Anekdote hörbar gelingt. Auch sonst scheint ihm seine Verbindung – das «heilige Band» zu seinen Leserinnen und Lesern, wie er es nennt – betont wichtig zu sein. Sowohl Menschen, die lesen, als auch solche die schreiben, seien nicht ganz eins mit der Welt.

Dass der Abend, durch den Schirach sehr professionell führt, noch durch ein Gespräch hätte angereichert werden sollen, gerät im Angesicht von Schirachs persönlicher Inszenierung weitgehend in den Hintergrund. Da nützt es auch nichts, dass sein Gesprächspartner Philipp Theisohn auf seine gekonnt professionelle und charmante Art versuchte, Schirach ein paar originellere Antworten zu entlocken. Es blieb trotz aller Mühen beim Versuch.

Ferdinand von Schirach, der in den vergangen Jahren mit seiner Trilogie über Verbrechen und die Justiz grosse Erfolge feierte, ist in Solothurn, um über sein neues Buch Kaffee und Zigaretten zu sprechen. Nicht für einen Ernährungsratgeber, aber für seine persönlichen Zutaten eines erfolgreichen Schreibprozesses steht der Titel. Kaffee trinken sei in Ordnung, aber mit dem Rauchen werde es immer schwieriger. Und schon ist man mitten im Thema des Abends. Es geht um die grossen Erkenntnisfragen, um die Suche nach der Wahrheit und die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Dass dann genau dort, wo die Schwedenkrimis spielen, am wenigsten Verbrechen verübt würden, ist nur ein Beispiel Schirachs dafür, dass die Wirklichkeit und die wahrgenommene Wahrheit zwei unterschiedliche paar Schuhe sind. Für seinen Seelenfrieden hoffen wir, es sind keine Turnschuhe oder gar «Ugly Sneakers», deren Träger, ebenso wie Jogginghosenträger, er nämlich ordentlich kritisierte. Ebenfalls zu hoffen bleibt, dass die Jungen die Literatur auch in dem Schuhwerk retten dürfen, in dem sie sich am wohlsten fühlen. Dass sein Modegeschmack – ganz im Sinne seiner eigenen These – wohl einfach seine ganz subjektiv gefärbte Perspektive auf die Wirklichkeit ist, scheint er dabei selbst zu vergessen.

Um auf die Thematik des Rauchens zurückzukommen: Sie bietet Schirach Anlass für die Diagnose einer immer eingeschränkteren Welt, überreguliert durch zahlreiche Ge- und Verbote. Und schon landen wir bei einem weiteren Lieblingsthema Schirachs, der Menschenwürde. In einer überregulierten Gesellschaft sehe er die Würde des Menschen akut gefährdet, beispielsweise wenn man «wie ein Schaf durch die leeren Abschrankungen vor der Kasse am Flughafen durchlaufen muss».

Als der Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer, der Schirach seine modischen Verurteilungen verzeihen konnte, nach der Pause nochmals seine Plätze einnimmt, bin ich wohl nicht die Einzige, die auf den apellativen Charakter seines Vortrags unter dem harmlosen Titel Warum ich schreibe mit Überraschung reagiert. Nachdem man das Vorgetragene lange einzuordnen versucht hat, wird endlich klar, um was es geht: Auf der Bühne steht gerade ein deutscher Schriftsteller, der seinem schweizer Publikum die Idee einer Europäischen Verfassung anpreist. Dieser unerwartete Abschluss eines denkwürdigen Abends hatte nicht mehr viel mit einer klassischen Lesung zu tun und wie Ferdinand von Schirach selbst bemerkte, «wird alles radikal Neue erstmals auf geteilte Meinungen stossen».

So muss dann auch das Fazit über seine Lesung ausfallen: Es ist alles eine Frage der Perspektive. Wenn man etwas mitgenommen hat, dann wohl den Aufruf «zum Aushalten eines friedlichen Dissens».

Warme Worte in der Mittagssonne

Milena Moser, die momentan für eine grosse Lesetour in der Schweiz ist, sprach heute beim SRF Tagesgespräch hauptsächlich über ihr Leben in New Mexico und darüber, wie es ist, für kurze Zeit wieder in der Schweiz zu sein. Die Besprechung ihres aktuellen Buches trat dabei in den Hintergrund, wahrscheinlich auch darum, weil die Frage nach einem neuen Buch von viel grösserem Interesse ist. Besonders in Anbetracht dessen, dass Land der Söhne im August des letzten Jahres erschienen ist.

Die Leute scheinen jedoch noch nicht genug von ihren Amerika/Schweiz- Vergleichen zu haben, wie man am grossen Andrang und den zahlreichen Menschen, die in der Cantina del Vino keinen Platz mehr fanden, sehen konnte. Zur Belohnung gab es denn auch warme Worte für die Schweizerinnen und Schweizer, und für Milena Moser einen Espresso.

Mitten in der stechenden Mittagssonne lauschten wir also draussen dem Gespräch über Swissness und darüber, wie die Schweizeridentität auch Antwort auf die Frage nach der sexuellen Ausrichtung sein kann.

Die neugewonnene Freiheit, die Milena Moser in ihrer Wahlheimat erlebt und die radikale Veränderung in ihrem Leben, die dieser Umzug mit sich brachte, scheinen ihre Quellen der Inspiration für den Roman gewesen zu sein. Beflügelt vom Gefühl endlich sie selber sein zu können, schrieb sie das Buch, das bei den Kritikern bisher am meisten Anklang gefunden hat. Angst davor, dass ihr nun die Ideen fehlen, hat sie jedoch keine. Die Geschichten in ihrem Kopf und diese zu Papier zu bringen, sei genau das, was sie ausmache. Mit Santa Fe lebt sie nun auch an einem Ort, an dem sie ihre Geschichten endlich ganz frei entfalten kann. Ihr nächstes Buch, so viel sei verraten, sei jedoch kein Roman, sondern ein Zwiegespräch zweier Kulturen in der Gestalt eines Dialoges mit ihrem Partner. Einem mexikanischen Indianer.

So verlässt man das Gespräch mit aufrechten Schultern, denn wir Schweizerinnen und Schweizer seien einfach alle schön. Man sehe uns unsere Zivilisiertheit und den Luxus, ein Mal im Jahr zum Arzt und zwei Mal zum Zahnarzt zu gehen, einfach an.

Einen noch persönlicheren Eindruck vermittelte dann das Interview, das wir am Nachmittag mit Milena Moser führten und das bald hier veröffentlicht wird – stay tuned.

Zürich – Solothurn einfach

Bewaffnet mit Laptop, Notizbuch, Stift und Kaffee – Latte Macchiato – sitzen Michelle und ich im Zug. Solothurn wir kommen und sind gespannt darauf, was du für uns bereithältst. Den nächsten Kaffee werden wir jedenfalls mit Milena Moser trinken und sie fragen, wie sie ihn am liebsten mag.

Unser Team in Solothurn: Laura Barberio

Nachdem Laura Barberio letztes Jahr bei «Zürich liest» das erste Mal Literaturblogger Luft schnuppern konnte, hat sie Blut geleckt und ist nun umso gespannter auf Solothurn.

Für Ferdinand von Schirachs Lesung zu seinem neuen Buch reist sie bereits am Freitag nach Solothurn und freut sich riesig auf den Abend, durch den Philipp Theisohn führen wird.

Den Rest des Wochenendes möchte sie sich dann aber der Schweizer Literatur widmen und kann es kaum erwarten, die Texte der Gewinner und Gewinnerinnen des Nachwuchsautoren und -autorinnen Preises OpenNet zu hören. Anschliessend möchte sie der Frage nachgehen, wie aus so einem Text überhaupt ein Buch wird und im Druckworkshop für Kinder selber handwerklich tätig werden. Auf gutes Wetter hofft sie, zumindest für sich selbst, wenn sie von den Bänken des Stadions des FC Solothurn der Schriftsteller-Nati beim Kampf um den Ball gegen Kulturschaffende zusehen wird.