F wie Familie

Die ersten Tage im Kindergarten überstehen, sich nach der Schule mit Freunden verabreden, der Fragerei der Verwandten beim jährlichen Treffen mit diplomatischen Fragen ausweichen – Aufwachsen ist nicht leicht.

Im Literaturgespräch von Tabea Steiner und Rolf Hermann dreht sich alles ums Thema Familie, Erziehung und Erwachsen werden. Dazu haben die beiden Autoren reichlich zu sagen – hoffentlich auch, wo sich die Romane der beiden, Balg beziehungsweise Flüchtiges Zuhause, mit eben dieser Thematik auseinandersetzen.

„Die Menge macht´s nicht aus, sondern, dass es schön wird“, meint der Moderator am späten Sonntagnachmittag in die schmale Runde, die sich in der Säulenhalle zusammengefunden hat.

Schnell kristallisiert sich die leitende Frage der Diskussion heraus. Wie definiert sich Familie? Die verschiedensten Theorien werden daraufhin angerissen: Blutsverwandtschaft, gemeinsame Erlebnisse, Familienmythen und Geheimnisse, Rituale. Und wie konzipiert sich eine literarische Familie?

Als Grundlage dient je eine Passage aus den Texten von Tabea Steiner und Rolf Hermann. Während die fiktive Familie in Steiners Roman durch Zerrüttung strukturiert ist und den spärlichen Zusammenhalt in ebendieser Zerrüttung findet, basiert Hermanns Roman auf Anekdoten der eigenen liebevollen Familiengeschichte. Leider misslingt es dem Gespräch, eine gemeinsame Basis für eine interessante Diskussion zu finden und die 45 Minuten enden ohne eine Verknüpfung von Fiktion und Realität.

Dennoch zeigt sich das Publikum äusserst zufrieden und lobt in der anschliessenden Fragerunde den Einblick in die Werke.

Von Kompost, unheimlichen Booten am Strand und einer gehörnten Frau

Die Jury des diesjährigen Schreibwettbewerbs für Nachwuchsschriftstellerinnen und -schriftsteller «OpenNet», der jeweils im Rahmen der Solothurner Literaturtage durchgeführt wird, hatte bei 205 Einsendungen die Qual der Wahl. Bei nur einem italienischen und einer unbekannten Anzahl an französischen Texten, fiel die Auswahl vorwiegend deutschsprachig aus. Nur wenig überraschend also, dass auch alle Siegertexte auf Deutsch verfasst waren.

An der Lesung, die gleichzeitig auch Teil des Preises für die Gewinnerinnen und den Gewinner ist, konnte man die drei Siegertexte hören und in Gesprächen mit den Jurymitgliedern etwas über ihre Gedanken und Intentionen hinter den Texten erfahren. Den Anfang machte Micha Frieml mit Kompost. Der Text, der durch viel Schreiben und noch mehr Streichen entstanden sei, erzählt von der Stille und dem Gefühl, dass sich ein Raum durch den Tod zugleich verändere und trotzdem derselbe bleibe. Ein Merkmal des Textes sei, dass Familien- und Beziehungsstrukturen unkommentiert blieben. Frieml sagt: «Beziehung ist immer auch das, was sie nicht ist.»

Als nächstes war der Gewinner Christian Zeier an der Reihe. Lara erzählt von aktuellen Themen wie Flucht und Migration und ist bei einem Besuch auf Lesbos entstanden. Zeier möchte damit gegen die mediale Abstraktion von Migration ankämpfen und durch die Erzählperspektive eines Kindes die unterschiedliche Betroffenheit der Menschen aufzeigen. Er äusserte den Wunsch einer «globalisierten Empathie».

Den Schluss machte Jasmine Keller mit ihrem Text gehörnt. Zweifelsfrei der skurrilste Beitrag, in dem ein schwarzer Kriegsfotograf von einer gehörnten Frau in den Gotthard-Bunker geführt wird. Anlass zu diesem Text boten u.a. kursierende Verschwörungstheorien um die Eröffnungsfeier der zweiten Röhre. Man merkt schnell: Es handelt sich auch hier um einen sehr politischen Text, geschrieben von einer «linken widerständigen» Frau, welche die nicht-weisse Geschichte der Schweiz thematisiert.

Das Ende dieser Veranstaltung gestaltete sich so wechselhaft wie ihr Inhalt und wurde mit zwei jubelnden Zuschauern – einer davon Kellers Lebensgefährte – und einigen Buhrufen beschlossen.

Von Wahrheit und Wirklichkeit

Am Freitagabend zur «Prime Time» ist es endlich so weit: Ferdinand von Schirach, der deutsche Superstar der Literaturszene, betritt die Bühne des Landhaussaals, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist und wird mit tosendem Applaus empfangen.

Seine ersten Worte gelten jedoch nicht seinem neuen Buch, sondern den jugendlichen Helferinnen und Helfern. Sie erfüllten Schirach mit der Hoffnung, dass die Literatur doch noch nicht verloren sei.

Mit einem kurzen humorvollen Exkurs über Ernährungsratgeber versucht Schirach, die Stimmung zu Beginn etwas aufzulockern, nur um für den Rest des Abends über scheinbar ernsthaftere Themen zu sinnieren. Dabei ist er immerzu versucht, den Draht zum Publikum nicht zu verlieren, was ihm mit der einen oder anderen Anekdote hörbar gelingt. Auch sonst scheint ihm seine Verbindung – das «heilige Band» zu seinen Leserinnen und Lesern, wie er es nennt – betont wichtig zu sein. Sowohl Menschen, die lesen, als auch solche die schreiben, seien nicht ganz eins mit der Welt.

Dass der Abend, durch den Schirach sehr professionell führt, noch durch ein Gespräch hätte angereichert werden sollen, gerät im Angesicht von Schirachs persönlicher Inszenierung weitgehend in den Hintergrund. Da nützt es auch nichts, dass sein Gesprächspartner Philipp Theisohn auf seine gekonnt professionelle und charmante Art versuchte, Schirach ein paar originellere Antworten zu entlocken. Es blieb trotz aller Mühen beim Versuch.

Ferdinand von Schirach, der in den vergangen Jahren mit seiner Trilogie über Verbrechen und die Justiz grosse Erfolge feierte, ist in Solothurn, um über sein neues Buch Kaffee und Zigaretten zu sprechen. Nicht für einen Ernährungsratgeber, aber für seine persönlichen Zutaten eines erfolgreichen Schreibprozesses steht der Titel. Kaffee trinken sei in Ordnung, aber mit dem Rauchen werde es immer schwieriger. Und schon ist man mitten im Thema des Abends. Es geht um die grossen Erkenntnisfragen, um die Suche nach der Wahrheit und die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Dass dann genau dort, wo die Schwedenkrimis spielen, am wenigsten Verbrechen verübt würden, ist nur ein Beispiel Schirachs dafür, dass die Wirklichkeit und die wahrgenommene Wahrheit zwei unterschiedliche paar Schuhe sind. Für seinen Seelenfrieden hoffen wir, es sind keine Turnschuhe oder gar «Ugly Sneakers», deren Träger, ebenso wie Jogginghosenträger, er nämlich ordentlich kritisierte. Ebenfalls zu hoffen bleibt, dass die Jungen die Literatur auch in dem Schuhwerk retten dürfen, in dem sie sich am wohlsten fühlen. Dass sein Modegeschmack – ganz im Sinne seiner eigenen These – wohl einfach seine ganz subjektiv gefärbte Perspektive auf die Wirklichkeit ist, scheint er dabei selbst zu vergessen.

Um auf die Thematik des Rauchens zurückzukommen: Sie bietet Schirach Anlass für die Diagnose einer immer eingeschränkteren Welt, überreguliert durch zahlreiche Ge- und Verbote. Und schon landen wir bei einem weiteren Lieblingsthema Schirachs, der Menschenwürde. In einer überregulierten Gesellschaft sehe er die Würde des Menschen akut gefährdet, beispielsweise wenn man «wie ein Schaf durch die leeren Abschrankungen vor der Kasse am Flughafen durchlaufen muss».

Als der Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer, der Schirach seine modischen Verurteilungen verzeihen konnte, nach der Pause nochmals seine Plätze einnimmt, bin ich wohl nicht die Einzige, die auf den apellativen Charakter seines Vortrags unter dem harmlosen Titel Warum ich schreibe mit Überraschung reagiert. Nachdem man das Vorgetragene lange einzuordnen versucht hat, wird endlich klar, um was es geht: Auf der Bühne steht gerade ein deutscher Schriftsteller, der seinem schweizer Publikum die Idee einer Europäischen Verfassung anpreist. Dieser unerwartete Abschluss eines denkwürdigen Abends hatte nicht mehr viel mit einer klassischen Lesung zu tun und wie Ferdinand von Schirach selbst bemerkte, «wird alles radikal Neue erstmals auf geteilte Meinungen stossen».

So muss dann auch das Fazit über seine Lesung ausfallen: Es ist alles eine Frage der Perspektive. Wenn man etwas mitgenommen hat, dann wohl den Aufruf «zum Aushalten eines friedlichen Dissens».

Ein sprudelnder, erfrischender Auftritt

„Es wird gerade abgeklärt, ob wir den Coca-Cola-Schirm wirklich brauchen dürfen“, sind die ersten Worte, die Klaus Merz an diesem Sonn(ig)tag in das Mikrophon der Aussenbühne am Landhausquai spricht. Es ist nämlich so sonnig, dass die Aussenbühne kurzerhand um 90° gedreht und die Zuschauerbänke in den Schatten verschoben wurden. Für die Bühne selbst musste ebenfalls eine Notlösung her. Augenscheinlich war kein neutraler Schirm auffindbar, so wird eben ein knallroter Coca-Cola-Schirm herbeigetragen. Das Team versucht fieberhaft, die beschrifteten Banner des Schirms mit Sicherheitsnadeln wegzupinnen. Klaus Merz legt gleich selbst Hand an, das Publikum, zahlreich erschienen, wartet amüsiert.

Merz setzt sich, richtet das Mikrophon und seine Sonnenbrille und erklärt, dass er einen Text lesen werde, der zeitlich einen Monat vor der Firma, seinem Roman, angesiedelt ist – im Juni 1968. Der Text handelt von einer Stellenausschreibung, Bratwurst am Bellevue, der Kronenhalle, und ich werde für kurze Zeit in die Zürcher Innenstadt versetzt, die ich allzu bald tatsächlich wieder sehen werde. Das zweite Gedicht – es fragt danach, wo Gedichte überall gefunden werden können – liest Merz nur bis zur Mitte. Er habe versehentlich den zweiten Teil des Blattes, auf dem der Rest des Gedichts gewesen wäre, heute Morgen abgeschnitten, erklärt er entschuldigend. Zum Abschluss liest er noch einige Passagen aus der Firma, während sich über ihm der Coca-Cola-Schirm langsam dreht und die Banner doch wieder zum Vorschein kommen.

Von Einhörnern und Verzeichnissen

Obwohl es die erste Lesung des Tages ist, ist der Saal gut gefüllt. Nachdem Lucas Marco Gisi Judith Schalansky und ihr Werk vorgestellt hat, beginnt die Autorin mit der Lesung eines Kapitels aus ihrem Verzeichnis einiger Verluste – es spielt in den Walliser Alpen und besitzt durchaus autobiografische, autopoietische Züge. Beim Lesen spielt sie deutlich vernehmbar mit dem Rhythmus der Worte und der Geschwindigkeit des Vortrags.

Sie erzählt, dass sie zuerst einen Naturführer über Monster habe schreiben wollen, doch das Vorhaben sei gescheitert. Glücklicherweise habe sie das Projekt dann doch noch in einen Text einfliessen lassen können. Dieser handle nicht nur von der wunderbaren Landschaft in der Schweiz, sondern auch von Ängsten. Das Vakuum sei das Schlimmste überhaupt, da sei es besser, man stelle sich Monster vor. Das sei schliesslich besser als nichts, so Schalansky. Doch auch der Erzählerin will es nicht gelingen, über Monster zu schreiben.

Judith Schalansky fragt das Publikum und Lucas Marco Gisi, ob sie zu rätselhaft schreibe? Mit einem Lachen fügt sie hinzu: «Das ist der zweitschwierigste Text im Buch.» Daraufhin fragt sie: «Haben Sie gelesen, dass die Frau in der Erzählung schwanger werden wollte?» Lucas Marco Gisi verneint, worauf die Autorin schmunzelt. Er habe die Menstruationsblutungs-Stelle eher als ein Naturerlebnis gelesen, fügt Gisi hinzu. Schalansky erzählt, dass die Übersetzerinnen – abgesehen von der schwedischen und norwegischen – dies auch nicht herausgelesen hätten. Das liege vielleicht an der Nähe zu ihrer Heimat; sie sei nämlich in Greifswald aufgewachsen, im Norden von Deutschland. Das Publikum lacht mit ihr und sie fügt hinzu, dass jede Lesart ihrer Texte die richtige sei.

Und was habe es mit den Einhörnern auf sich? Sie finde Einhörner dämlich, aber musste sie trotzdem irgendwie in ihren Text einbauen. Wie sie das gemacht habe? Das Einhorn sei als eine Tätowierung auf der Hand einer Supermarktkassierer wiederzufinden. Sie betont, das sei das Schöne an der Literatur. Auch als sie nicht wusste, wie sie in einem Verzeichnis eine Mondlandung einbauen sollte. Es musste schliesslich eine besondere Mondlandung her. Wie sie das gelöst habe? Sie erzählt lachelnd, sie habe einfach einen Absatz gemacht und weiter geschrieben. Das sei eben Literatur – sie lasse spielerischen Freiraum.

Was sie vermisse, seien Verzeichnisse über Verluste von Dingen. Die Literatur sei wie eine Wunderkammer und ihre Recherchen seien immer wie eine Art Privatforschung. Sie stöbere gerne in Kartenabteilungen, um sich Anregungen für ihre Werke zu holen.

Was sie noch über ihr Buch zu sagen habe? Sie zeigt die schwarzen Seiten, welche die Verzeichnisse einteilen. Auf den Seiten sind schiefergraue Skizzen abgebildet, welche jeweils für das folgende Verzeichnis stehen. Und sie erzählt schmunzelnd, dass man normalerweise erst sterben müsse, um eine Fadenbindung zu erhalten. Doch sie habe dies für ihr Buch beim Suhrkamp-Verlag durchgesetzt.

Nachdem sie zum Schluss eine kompliziertere Stelle vorgelesen hat, nennt sie den Text eine Zumutung. Eine schöne Zumutung aber, fügt sie mit einem Lächeln an. Es gäbe auch niederschwellige Texte in ihrem Buch. Sie würde ja weiter lesen, aber sie habe nur 45 Minuten Zeit bekommen.

Für mich vergingen die Minuten wie im Flug und es steht ausser Frage: Wer so ernst und geschickt schreibt und dabei trotzdem so lustig über seine Texte redet, den muss man einfach mögen!

 

Ein Dorf auf dem Seziertisch

Balg. Ein Wort, eine Silbe nur, ist Titel von Tabea Steiners Debütroman, aus dem die junge Autorin heute in Solothurn gelesen hat. Gleich zu Beginn der Lesung darf Steiner Vorschusslorbeeren ernten: Als herausragenden Erstling preist Moderatorin Gabrielle Alioth Steiners ersten Roman an.

Steiner stellt zunächst die wichtigsten Figuren in wenigen Worten vor und steigt dann direkt in den Text ein. Sie liest konzentriert, bedacht. Weit weg ist alles Gekünstelte; Steiner trägt ihren Text vor, als würde sie auf der Wohnzimmercouch von Freund*innen lesen und nicht im gut gefüllten Solothurener Stadttheater. Ihre luzide, schnörkellose Sprache steht dabei in einem Kontrast zur schweren, klassischen Ausstattung des Theatersaals.

Steiner bietet keine aufregende Performance, lässt ihrem Text aber genau dadurch Raum zur Entfaltung. Sie liest einen Ausschnitt, der zu Beginn des Romans angesiedelt ist: Langsam entspinnt sich Unmut zwischen Antonia und Chris, die vor Kurzem erst zurück in Antonias Heimatsdorf gezogen sind. Beide sind sie überfordert mit ihrer Rolle als Eltern eines kleinen Bubs; beide kämpfen sie für sich. Das Teamhafte kommt dem Paar abhanden. Daneben schwelen alte Konflikte unter der heilen Oberfläche des Dorfgefüges und tragen zu einer gedrückten Stimmung bei. Es wird viel geredet, nur richtig miteinander sprechen, das tun die Figuren in Steiners Roman nicht. „Schweigen halte ich eigentlich für strukturelle Gewalt“, hält Steiner dann auch im Gespräch mit Gabrielle Alioth fest.

Steiner, das wird deutlich, versteht sich nicht nur Autorin, sondern auch als aufmerksame Beobachterin sozialer Gefüge. In Balg leuchtet sie die zugleich offensichtlichen und tabuisierten Missstände einer dörflichen Gesellschaft so gnadenlos aus, dass einen beim Lesen bisweilen ein Gefühl voyeuristischer Scham befällt. Ausserdem ist da diese Fassungslosigkeit: Immer wieder fragt man sich, wieso die Figuren in ihren festgefahrenen Mustern ausharren – wieso sie sich in die Rollen fügen, die an sie herangetragen werden.

Sobald die letzten Worte Steiners im Theatersaal verklungen sind, hat man den Impuls laut aufzuatmen, um das Gefühl der Beklemmung loszuwerden. Lesung und Lektüre von Steiners Balg sind alles andere als ein Spass. Zurecht wurde der Roman der jungen Ostschweizerin aber als beeindruckendes Debüt gelobt: Steiner hat einen wachen Blick und eine scharfe Feder; ihr Erstling ist auf leise Weise genauso erschreckend wie überzeugend.

Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen

Ein Murmeln ist noch im Publikum hörbar, als Tabea Steiner gemeinsam mit Moderatorin Gabrielle Alioth die grell violett beleuchtete Bühne betritt. Das Stadttheater ist an diesem sonnigen Samstagmorgen gut gefüllt. Die Lesung beginnt pünktlich, das überwiegend weisshaarige Publikum verstummt schlagartig. Gabrielle Alioth stellt Tabea Steiner vor, die aus ihrem Erstlingswerk Balg lesen wird. Sie beschreibt den Roman als gut komponiert, feinfühlig und als „Geschichte einer an sich selbst leidenden Gesellschaft“.

Dann beginnt Steiner zu lesen. Mit ihrer angenehmen Stimmfarbe und ihrer subtilen Erzählweise nimmt sie das Publikum mit in das Dorf, in dem der schwer erziehbare „Balg“ Timon aufwächst und erzogen werden soll. Sie liest in einem Zug, schaut ab und zu kurz ins Publikum, das keinen Ton von sich gibt. Nach einer ersten Leserunde kommt Gabrielle Alioth wieder an den Tisch, um Tabea Steiner einige Fragen zu ihrem Debüt zu stellen. Was für ein Verhältnis Steiner zu ihren Figuren habe und wie sich dieses entwickelt habe? Steiner beschreibt, dass sie ihre Figuren im Schreibprozess besser kennengelernt habe und diese eine Art Eigendynamik entwickelt hätten. Sie erzählt gerne von ihrem Protagonisten, Timon, der im Roman noch im Kindesalter ist und dessen Entwicklung man als Leserin über mehrere Jahre hinweg verfolgen kann. Wie es denn um das Dorf stehe, das im Roman beschrieben wird? Das Dorf kenne sie nicht, meint Steiner, es sei ihrer Fantasie entsprungen. Es habe ihr aber erlaubt, eine Art Kammerspiel zu erschaffen. Geschehnisse werden im Dorf konzentriert, Beziehungen müssen nicht erläutert werden, jede Figur hat irgendwie ihre Finger im Spiel. Im Dorf kennt man sich eben, viel mehr noch: Man beobachtet sich. Überall. Ständig. Ein brodelnder Kessel ohne Ventil, aus dem der Ausbruch unmöglich scheint. So schafft es auch Antonia, Timons Mutter, nicht, das Dorf zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen.

Dann liest Steiner erneut einige Passagen. Diesmal, als Timon im Kindesalter ist, Mädchen schlägt und sich wundert, warum diese ihn nicht zurückhauen. Das Publikum taut langsam auf, und als Timon meint, Mädchen seien „einfach immer nur blöd“, geht leises Gelächter durch die Reihen. Zuletzt geht es um Tiere und das Domestizieren. Tiere sind allgegenwärtig im Roman: Schweine, Hunde, Hasen, Füchse, Katzenwelpen. Domestiziert werden sollen aber nicht nur diese, sondern vor allem Timon, der Balg. Dies erweist sich als weitaus schwieriger als bei den Tieren.  Braucht es schlussendlich, wie Steiner ihr Buch ursprünglich gerne genannt hätte „ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“?

Text: Xenia Bojarski
Foto: Anouschka Mamie

Wellenschlag im Wasserglas

Die Ersten im Raum sind Faktoten des Literaturbetriebs. Man trifft sie an jeder Lesung, ob in einer schrulligen Buchhandlung oder dem Landhaussaal hier in Solothurn. Leer stehen sie auf dem Tisch, die gefüllte Karaffe daneben. Dann setzen sich auch Moderator Lucas Marco Gisi und die Autorin an den Tisch. Das Tischtuch hängt gelangweilt weiss. Als Erstes greift sich Julia von Lucadou die Karaffe und platziert sie direkt neben sich in Reichweite. Nach einer kurzen Einführung soll die Autorin einen Ausschnitt aus Die Hochhausspringerin vorlesen. Es ist der Prolog. Sie nimmt den ersten Schluck. Man weiss, was jetzt kommt.

Sie hebt mit summendem Bass an. Plötzlich streckt ein Saal die Rücken. Wir zoomen auf die Welt des Romans zu. Ein Planet, eine glänzende Stadt, glänzende Hochhausketten. Von Lucadou zieht das gesamte Publikum eine 1000 Meter tiefe Fassade aus Stahl und Glas hoch. Am Hausvorsprung steht die Protagonistin Riva. Eine schöne Protagonistin. Mehr als schön sogar, bereits die Perfektion in allen Fasern. Alle sehen sie im FlysuitTM ihre Glieder spannen. Mit Riva schnellt auch die Stimme der Autorin gekonnt nach oben, beide zischen nach unten, prallen aber nicht auf den Grund, sondern schnellen elegant und leicht wieder hoch. Erleichtert sind auch alle andern im Raum. Dieselbe Kamerafahrt wieder rückwärts. Riva, Stadt, Planet. Von Lucadou blickt vom Buch auf und gönnt sich einen Schluck Wasser. Alle brauchen ein paar Sekunden länger, um wieder zurück zu kommen; auch der Moderator. Dann Applaus. Das ist keine fade Wasserglaslesung.

Die junge Gewinnerin des Schweizer Literaturpreises hat schon als Fernsehredakteurin und Simulationspatientin gearbeitet. Woher sie es auch hat, sie liest die drei Ausschnitte, wie sie gelesen werden sollten. Zum Beispiel als einlullende Mantras der zweiten Protagonistin, der Psychologin Hitomi, die vor auferlegtem Leistungsdruck ihre strikt diktierten Schlaf- und Meditationszeiten nicht einhalten kann. Wenn sie einen Mutterbot anruft, der sie tröstend beruhigen soll, weil Beziehungen zu Biomüttern in dieser Welt nicht mehr verfügbar sind, dann erwärmt von Lucadou erschreckend vertraut den Ton. Im nächsten Moment klingt sie dann spöttisch und angeekelt, als irgendwo am Horizont der Stadt die staubigen Peripherien erscheinen. In diesen haust, wessen Performance nicht den nötigen Anforderungen entspricht. Das droht auch Riva, die plötzlich nur noch dumm in ihrer Designerwohung in der Innenstadt rumsitzt. Die Spitzensportlerin hat genug vom „Highrise Diving“ und Hitomi soll sie wieder auf Trab bringen. Dazu observiert sie 24/7 per versteckter Sicherheitskameras jede Bewegung, therapiert hinter Bildschirm und Tastatur hervor.

Zwischen den eindrücklichen Lesepassagen beantwortet von Lucadou die Fragen von Lucas Marco Gisi. Im Gegensatz zur Riva traut der sich aber nicht wirklich abzuheben. Die Fragen verhaften auf bekanntem Boden und die Antworten tun es ihnen gleich. Die Linien des dystopischen Gesellschaftsentwurf werden auf aktuelle Tendenzen zurückgeführt, vor allem auf „enorme[n] Leistungsdruck im Namen der Produktivität “ und die „Invasion der Privatsphäre“. Beides Gegenwartserfahrungen, die von Lucadou ohne Frage literarisch raffiniert weiterspinnt. Man plaudert über die auftretenden Technologien und ihre realen Pendants. Ist ja alles interessant, aber was ein Raum für kritische Konfrontation hätte sein können, bleibt löbliches Gerede über den Roman. Und das hat das Buch nicht nötig.

Was bleibt, ist die herausragende Leseperformance der Autorin und die Stärke des Textes. Dazwischen fallen einem immer wieder die Wassergläser auf.