Von Stimme und Verstummen

Ton statt Bild – so beginnt Lukas Hartmanns Lesung im Solothurner Landhaussaal. Durch den Raum schallt der Dreissigerjahre-Gassenhauer Ein Lied geht um die Welt. Aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit dringt diese Musik zu den Ohren des Publikums vor. Es dauert ein Weilchen, bis Ruhe herrscht und alle der Stimme lauschen. Es ist dieselbe Stimme, die auch im Zentrum von Hartmanns neuem historischen Roman Der Sänger steht. Hartmann erzählt darin aus dem Leben des bekannten Tenors Joseph Schmidt.

Im Verlauf der Dreissigerjahre verblasste Schmidts Bekanntheit zunehmend, ins Zentrum wurde ein ganz anderer biographischer Fakt gerückt: Schmidt war Jude. Auf der Flucht vor den Nazis legte Schmidt eine Odyssee durch Europa zurück; 1942 gelangte er schliesslich als «illegaler Flüchtling» in die Schweiz. Die Schweiz stellte sich allerdings nicht als der erhoffte sichere Hafen heraus: Im Internierungslager Girenbad starb Schmidt, mangelhaft medizinisch untersucht und betreut, noch im selben Jahr an Herzversagen.

Hört man Hartmann beim Lesen zu, könnte man meinen, man lausche einem Hörbuch – so ruhig, so nachdrücklich, so ausdrucksstark liest der Autor. Nur selten und flüchtig stellt er dafür Blickkontakt zum Publikum her. Ruhig sitzt er da, bis auf seine Lippen bewegt er sich kaum. Nicht sein Körper, sondern vielmehr seine Stimme nimmt Raum ein. Im Gespräch mit Moderatorin Gabrielle Alioth wird klar: Hartmann ist voll und ganz auf das konzentriert, was er gerade tut. Mühelos entspinnt sich ein Gespräch zwischen den beiden: Hartmann gibt lebendig Auskunft und geht dabei besonders auf die Historizität seines Romans ein. «Soweit ich sie herausfinden konnte, stimmen die Fakten», hält er fest. Hartmann, der unter anderem auch Geschichte studiert hat, erzählt davon, wie sich sein Bild von der geschilderten Zeit im Laufe seiner Recherchen verändert habe. Es sei inzwischen «weniger schwarz-weiss», es sei «grauer». Berührt habe in zum Beispiel der Umstand, dass durchaus auch spontane Hilfe aus der Zivilbevölkerung gekommen sei; etwa indem man den Geflüchteten von den rationierten Lebensmitteln abgegeben habe. Dass es aber natürlich auch in der Schweiz überzeugte Antisemiten gab, dürfte selbst den Allerletzten mit der Lektüre von Hartmanns Roman klar geworden sein.

Alioth hat bereits zu Beginn auf die Relevanz des Buches für alle Schweizer*innen hingewiesen, werde hier für einmal das Augenmerk auf die Schweiz zu Beginn der Vierzigerjahre gelegt. Auch macht Hartmann den Bezug zur Gegenwart stark: «Ähnliche Konflikte, ähnliche Polarisierungen» würden immer wieder auftreten. Gegen Ende liest Hartmann die Szene vor, in der die zwischenzeitlich verloren gegangene Stimme Schmidts ein letztes Mal zu ihm zurückkehrt, um dann für immer zu verstummen. Dieser Schwanengesang gibt Schmidt in Hartmanns Roman seine Eigenmächtigkeit, seine Würde, wieder und fördert eine rührende Bescheidenheit zu Tage. Nach dem Applaus ertönt leise Una furtiva lagrima aus den Lautsprechern. Ein guter Moment, um kurz innezuhalten und über den Umgang mit geflüchteten Menschen im Hier und Jetzt nachzudenken.

Das Stimmenwirrwarr entschlüsseln

«Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich», erklärt Lukas Hartmann. Mit Geschichte komme er immer und überall in Berührung. In seinem neusten Roman Der Sänger hebt Hartmann eine Stimme aus der Geschichte heraus. Es ist dies die Stimme des jüdischen Tenors Joseph Schmidt, der in einem Internierungslager in der Schweiz erkrankte und starb.

Auch Shelley Kästner lässt in Jewish Roulette kaleidoskopartig einzelne Stimmen zu Wort kommen. Aus 21 Interviews und Gesprächen entsteht eine Erzählung. Die Zugehörigkeit zum Judentum schafft die Verbindung zwischen den einzelnen Stimmen. Das gemeinsame Gespräch zwischen Hartmann und Shelley über Stimme und Geschichte stösst am Samstag auf grossen Anklang. Nicht alle Zuschauer*innen finden einen Sitzplatz. Das muntere Stimmengewirr bricht ab, als Stefan Humbel die Anwesenden begrüsst. Das Publikum lauscht gespannt den Passagen aus Der Sänger und Jewish Roulette. Als «nah am Menschen und doch mit der nötigen Distanz und Respekt» beschreibt Humbel die Erzählstile von Hartmann und Shelley.

«Was heisst es, für andere zu sprechen?», möchte Humbel wissen. Shelley Kästner erzählt von ihren Gesprächserfahrungen. Nach der Transkription der Gespräche habe sie das Geschriebene viele Male durchgelesen. Die Gespräche in einer passenden Sprache zu verschriftlichen, sei kein leichtes Unterfangen gewesen. «Ich habe diese erzählten Lebensgeschichten gewissermassen aus dem Deutschen in meine eigene Sprache übersetzen müssen», erklärt sie. So entsteht denn in Jewish Roulette eine Ko-Autorschaft mit den befragten Personen. Shelley Kästner gibt anderen Personen eine Stimme, spricht für sie und erzählt ihre Lebensgeschichten.

Auch Lukas Hartmann spricht für eine andere Personen, wenngleich es sich in seinem Fall um Personen aus der Vergangenheit handelt. Hartmann gesteht, dass er sich während der Recherche bisweilen frage, ob er überhaupt für andere Personen aus der Vergangenheit sprechen dürfe oder wolle. Diese Frage treibe ihn immer wieder um. «Ich entschliesse mich dann aber dazu, dass ich das darf», erklärt er schelmisch. Ein biographischer Roman sei wie ein Vorschlag, wie es hätte sein können. Auch in Sachbüchern sei doch nie die ganze Wahrheit enthalten.

Die Stimme des Menschen – ob Sprechstimme, Singstimme oder die Stimme der Meinungsäusserung – empfinden Shelley und Hartmann als etwas Faszinierendes. Die Stimme sei ein einzigartiges Erkennungsmerkmal. «Meine Aufgabe als Schriftsteller ist es, hinzuhören, der Geschichte nachzugehen und das Stimmenwirrwarr zu entschlüsseln», erklärt Lukas Hartmann.

Während im Publikum langsam wieder ein zaghaftes Gemurmel und Stimmengewirr zu vernehmen ist, wird einmal mehr klar: Schwierig ist es allemal, anderen Menschen eine passende Stimme zu leihen – seien es Menschen aus der Vergangenheit oder Menschen aus der Gegenwart.