Ihr dürft schon ein bisschen näher kommen

Niemand getraut sich so richtig, die erste Sitzreihe direkt am grossen Tisch in Beschlag zu nehmen, an dessen Kopfende bereits Donat Blum, Anna Stern, Ivona Brđanović, Lou Meili, Martin Frank und Lino Sibillano sitzen.

«Ihr dürft schon ein bisschen näher kommen», sagt darum Donat Blum, und alle Besucher*innen rücken eine Reihe nach vorn, sodass jetzt auch die Stühle direkt am Tisch besetzt sind und die Autor*innen mit dem Publikum im Kreis sitzen.

Dem Publikum Autor*innen und ihre gemeinsamen Arbeit an einem Text näher zu bringen, ist das Ziel der Veranstaltungsreihe «Skriptor». Das Format soll einen Begegnungsort schaffen, sagt Donat Blum, der «Skriptor» ins Leben gerufen hat, den literarischen Schaffensprozess für Leser*innen sichtbar machen.

Heute sitzen Autor*innen von «Glitter*», dem ersten und einzigen Magazin für queere Literatur im deutschsprachigen Raum, in der Runde. Besprochen wird ein Text von Lino Sibillano. Er nennt den Auszug eine «Baustelle, einen Anfang von Etwas».

Sibillano liest seinen Text vor, die Autor*innen und Besucher*innen hören zu, verfolgen die Zeilen mit den Augen oder lauschen einfach der Stimme des Autors. Dann eröffnet Donat Blum die Diskussion. Wer jetzt erwartet hat, die Autor*innen würden nach dem Prinzip «zuerst drei positive Punkte, dann Kritik» vorgehen, wird überrascht.

Die Kritik kommt ohne Umschweife, ist ehrlich, präzise, zielt auf Inhaltliches, aber auch Sprachliches. Dabei sind die Autor*innen nicht immer gleicher Meinung. Uneinigkeit entsteht etwa um die Wahl eines Wortes, das auf «-chen» endet. Während sich Donat Blum fragt, was das hier zu suchen habe, sieht Lou Meili darin eine gekonnte Charakterisierung des Erzählers.

Man merkt, wie genau sich die Autor*innen in den Text hineingedacht haben. Hier soll die beste Form eines Textes aus dem Sprachmaterial herausgeschält werden. Dann darf sich auch das Publikum zum Text äussern, auch hier werden genaue Beobachtungen beschrieben. Lino Sibillano hört aufmerksam zu, macht sich Notizen, nimmt auch die direkteste Kritik mit einem Lächeln zur Kenntnis, etwa als Ivona Brđanović eine Textstelle als «Coelho-Moment» bezeichnet.

Zum Schluss sind sich aber alle einig, die Autor*innen und das Publikum: Sibillanos Text hat Potential, einen spannenden Ansatz, der verschiedene Textsorten vereint und mit fiktionalen Ebenen spielt. Wir dürfen also gespannt sein, wie sich sein fertiger Text lesen wird.

Nedim Gürsel: un auteur turc à Soleure

Nedim Gürsel est un universitaire chevronné le vendredi et un romancier rêveur le samedi.

Vendredi, Nedim Gürsel entame sa journée avec un entretien pour Le Temps – il me précisera, amusé, qu’une page entière sera dédiée à sa personne et à son œuvre – puis une lecture longue à treize heures, une lecture brève à quinze heures trente : il définit cette première journée de « marathon » organisé et chronométré.

Samedi, quinze heures, l’imposant Nedim Gürsel est attablé sur une terrasse bondée avec quelques amis. Difficile de ne pas remarquer son grand sourire lorsque je m’approche de lui pour le saluer : il s’empresse de me trouver une chaise et m’invite à prendre place avec lui et ses invités. Dès les premiers instants, je suis inclue dans le cercle d’amis d’un auteur de plus de quarante ouvrages – même pas peur! Je pose alors mon portable entre nous deux pour enregistrer l’entretien et nous lance dans une conversation de près d’une heure.

 

  • Dans vos œuvres, vous faites de nombreuses références à la religion musulmane. Quelle est votre position face à cette religion ? Et votre point de vue face à toutes les religions du monde ?

« Dans un siècle comme le nôtre, la religion est incontournable ». En effet, Nedim Gürsel m’explique que la religion fait partie de notre monde, de nos pensées et de notre manière d’agir, c’est pourquoi il est quasiment impossible d’en faire abstraction.

Nedim décrit son rapport à l’Islam comme « conflictuel ». Pendant les jeunes années de sa vie, l’auteur turc est élevé par son grand-père pieux et reçoit donc une éducation religieuse. Plus tard, à l’âge adulte, il se considère comme athée et c’est seulement depuis quelques années qu’il s’intéresse à nouveau à l’Islam : l’âge a fait de lui un homme sceptique. « Je ne m’intéresse pas à la religion sur le plan de la foi, qui est personnelle, mais j’interroge la foi comme un homme curieux de l’histoire des religions ».

 

  • Comment défendez-vous vos œuvres face à la Turquie lorsque le gouvernement juge vos œuvres blasphématoires ?

« La gouvernement turc se réfère à l’Islam, ce qui est une transgression à la Constitution du pays ; le Président lui-même ne respecte pas la Constitution alors qu’il est censé être le garant de celle-ci ». Dans ses écrits souvent très critiques envers le gouvernement turc, Nedim Gürsel dit simplement « ce qu’il pense ». Tous les jours, il se bat contre ce gouvernement qui contrôle tout, ce gouvernement qui refuse de progresser et qui ne permet pas la liberté d’expression car il craint la force de la parole poétique. Dans ce pays, les médias ne parlent qu’à travers une seule voix qui est celle du gouvernement, et plus précisément celle du Président.

 

  • Comment la Turquie peut-elle progresser, d’après vous ?

Nedim Gürsel appelle à une laïcité qui permettrait au gouvernement d’être réellement démocratique et objectif. Un État musulman ne peut être un État démocratique puisqu’il ne respecte pas la diversité et ne revendique pas la laïcité dans sa politique. Il précise qu’il n’est pas critique vis-à-vis de son pays, auquel il reste fidèle, mais il est critique vis-à-vis du gouvernement turc. Je lui demande s’il envisage un retour définitif en Turquie et il me répond par la négative : « C’est en quittant la Turquie que j’ai pu lui porter autant d’intérêt ».

 

Sous un soleil de plomb, je pose de nombreuses questions à Nedim Gürsel, je lui demande des précisions sur son œuvre Le Fils du Capitaine et nous finissons par faire plus ample connaissance. Je lui parle de mes études, il me parle de son amour pour la Suisse, je lui parle de mon intérêt pour la littérature engagée et il me conseille son œuvre L’ange Rouge.

 

Dafina Meha

Der Meister hat nichts über Bomben zu berichten

Das Thermometer klettert beinahe auf 30 Grad, die Aare fliesst verlockend durch Solothurn. Eine Abkühlung im Fluss wäre eigentlich ganz schön. Aber es geht auch anders: „Sprache ist wie eine frische Brise“, begrüsst Beat Mazenauer das Publikum am Sonntagnachmittag. Er überlasse nun lieber „dem Meister“ das Wort. Sodann tritt Gerhard Meister ans Mikrophon – begleitet von einigen pflichtschuldigen Lachern.

Der Spoken-Word-Künstler berichtet in sympathischem Berndeutsch von Erfahrungen mit Self-Scan-Automaten, einem Termin bei der Berufsberatung – Astronaut war der einzige Beruf, der passte –  oder darüber, wie Engel den lieben Gott beobachteten, wie dieser auf den Wald „abägschnudderät“ habe.

Eines ist klar: Die Texte aus „Mau öppis ohni Bombe“ sind alle bühnentauglich. Und sehr angenehm anzuhören. Selbst bei fast 30 Grad. Bei einem Gespräch zwischen Meister und Mazenauer erfährt das Publikum, dass in Meisters Texten durchaus „kreuzbrave, biedere Begebenheiten“ zu finden seien. Auf die Frage, weshalb er den Dialekt als Ausdrucksform gewählt habe, erzählt Meister, dass er sich mit hochdeutschen Texten auf der Bühne gehemmter fühle. Das sei wahrscheinlich der Grund.

Weshalb aber hat Gerhard Meister nichts über Bomben zu berichten? Diese Frage stellt Beat Mazenauer dem Spoken-Word-Künstler nicht. Die Antwort hätte mich brennend interessiert. Immerhin hält sich Gerhard Meister beim Auftritt genau an sein Versprechen: „Mau öppis ohni Bombe“. Die Bombe kommt in der Spoken-Word-Aufführung tatsächlich nicht vor. Und noch beim Verlassen des Kinos im Uferbau blicke ich gedankenversunken zur Aare und frage mich, was es denn mit den Bomben auf sich hat.

Altmeister der Verknappung

Klaus Merz ist ein altbekanntes Gesicht in Solothurn. 1996 wurde er hier für sein dichterisches Werk mit dem Literaturpreis ausgezeichnet. Nun ist er mit seinem jüngsten Werk firma erneut zu Gast. Merz spricht ruhig und besonnen. Seine Antworten machen – wie seine Literatur – aus wenig viel, beantworten auch einmal die zwei nächsten Fragen, die seine Gesprächspartnerin Bernadette Conrad für ihn auf Lager gehabt hätte.

Der erste Teil von firma ist eine Firmenchronik von 1968 bis 2018. Wer nun denkt, er müsse sich mit einem 500-seitigen Wälzer herumschlagen, irrt sich. Verdichtung und Reduktion sind Programm. «Wir führen nur sporadisch Buch. Es geht um die Denkwürdigkeiten.», stellt der anonyme Wir-Erzähler dem Buch voran. Das Private von Angestellten der Firma trifft in den insgesamt 50 Einträgen auf Ereignisse der Weltgeschichte. Beides wird festgehalten, beides ist Merz wichtig. So geht es um Prager Frühling und Pensionierung, Berliner Mauer und Badeanstalt, Krankheiten und Kantinenessen.

Diese kurzen Skizzen sind mal ironisch, mal mit einer sanften Pointe am Schluss, mal melancholisch. Was vom Tage übrigbleibt, sind erzählte Schicksale, in denen Merz, wie er selbst kommentierte, einen «glühenden Punkt» ausfindig machen wollte, bei welchem die Lesenden selbst andocken können. Mit Gattungszuordnungen tut er sich schwer. Sind es nun Prosagedichte oder Tagebucheinträge mit lyrischem Einschlag? Wichtig für ihn ist nur, dass es im Ganzen über das isolierte Individuelle hinausgeht. In den Worten von Merz’ Gedicht «Rauriser Notiz» geht es darum:

Eine Sprache finden,
Worte, die nicht
über das Erzählte
hinweg flutschen,
sondern Reibung
erzeugen, Wärme,
Licht.

Dies liest sich als poetologische Absichtserklärung des zweiten Teils von firma, die Gedichtsammlung «Über den Zaun hinaus»: Das zuvor ausgesteckte «Firmengelände» wird aufgesprengt. Das In-sich-Gefundene, das Erinnerte, das Assoziierte und nicht zuletzt das Erfundene – all das vermischt Merz in seinem Schreiben. So wird die Firma schlussendlich zum Firmament, ein Sternenhimmel voller glühenden Punkte, an welche Leser*innen gerne andocken werden.

Definitiv cool

Matto Kämpf betritt die Bühne und legt sofort los: «Er stand auf und starb.» Endlich einmal ein vernünftiger Romananfang sei das, meint die Kulturjournalistin und Ich-Erzählerin von Kämpfs Roman Tante Leguan, und mit ihr möchte man sagen: Endlich einmal ein vernünftiger Lesungsanfang.

Das Publikum hat Kämpf auf jeden Fall sofort auf seine Seite geholt. Man merkt, dass der Thuner (genau genommen: Steffisburger) Spoken Word Künstler und Satiriker sich gerne auf Bühnen aufhält und dass auch sein erster Roman dort problemlos funktioniert. Mit der linken Hand lässig im Hosensack lässt Kämpf sich beim Vorlesen Zeit, sein breiter Berner Dialekt dehnt jedes «Ä» ins Unendliche, so dass auch kleinste Nuancen des Textes zu klingen beginnen oder zu Pointen werden. Auch ein gelegentlicher Hustenanfall (der Husten verfolge ihn schon durch ganz Solothurn) bringt ihn nicht aus dem Konzept.

Schon bald ist man vollends eingetaucht im normalen Redaktionswahnsinn seiner drei lakonischen Protagonisten, macht sich mit ihnen lustig über ihren Vorgesetzten, den «Idioten», und ihren Mitarbeiter, den «Sportarsch». Kämpf beschränkt sich auf den ersten, zweifellos stärksten Charakter seines Buches, nimmt sich Zeit, die Misere der Kulturredaktion anschaulich zu gestalten. Ihr journalistisches Vorgehen ist so simpel wie effizient: «Ist das cool, oder ist das nicht cool?». Grunge-Musik – cool; Musicals – weniger. Dass der popkulturlastige Text vor dem im Alter doch schon eher fortgeschrittenen Publikum so gut ankommt, ist eigentlich erstaunlich. Doch Satire über den Kulturbetrieb, gepfeffert mit Seitenhieben gegen Heavy Metal und den Büroalltag im Allgemeinen wird eindeutig generationsübergreifend als lustig empfunden.

Da die Zeit noch reicht – Kämpf ist sich des straffen Zeitmanagements in Solothurn durchaus bewusst, wie er in einer seiner wenigen Zwischenbemerkungen anmerkt – gelangen die drei Journalisten dann noch nach China, wo sie in less than ideal Englisch mit chinesischen Musikern zu kommunizieren versuchen. Auch hier werden im Publikum Tränen gelacht.

Nach kurzweiligen 35 Minuten ist die Lesung zu Ende. Frei nach dem Bewertungsraster von Kämpfs Kulturjournalisten – cool oder nicht cool? – darf man sagen: definitiv cool. Oder in den Worten von einer auf der Gasse aufgeschnappten Publikumsreaktion: «I finds totau sympathisch wieners macht!».

Von Stimme und Verstummen

Ton statt Bild – so beginnt Lukas Hartmanns Lesung im Solothurner Landhaussaal. Durch den Raum schallt der Dreissigerjahre-Gassenhauer Ein Lied geht um die Welt. Aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit dringt diese Musik zu den Ohren des Publikums vor. Es dauert ein Weilchen, bis Ruhe herrscht und alle der Stimme lauschen. Es ist dieselbe Stimme, die auch im Zentrum von Hartmanns neuem historischen Roman Der Sänger steht. Hartmann erzählt darin aus dem Leben des bekannten Tenors Joseph Schmidt.

Im Verlauf der Dreissigerjahre verblasste Schmidts Bekanntheit zunehmend, ins Zentrum wurde ein ganz anderer biographischer Fakt gerückt: Schmidt war Jude. Auf der Flucht vor den Nazis legte Schmidt eine Odyssee durch Europa zurück; 1942 gelangte er schliesslich als «illegaler Flüchtling» in die Schweiz. Die Schweiz stellte sich allerdings nicht als der erhoffte sichere Hafen heraus: Im Internierungslager Girenbad starb Schmidt, mangelhaft medizinisch untersucht und betreut, noch im selben Jahr an Herzversagen.

Hört man Hartmann beim Lesen zu, könnte man meinen, man lausche einem Hörbuch – so ruhig, so nachdrücklich, so ausdrucksstark liest der Autor. Nur selten und flüchtig stellt er dafür Blickkontakt zum Publikum her. Ruhig sitzt er da, bis auf seine Lippen bewegt er sich kaum. Nicht sein Körper, sondern vielmehr seine Stimme nimmt Raum ein. Im Gespräch mit Moderatorin Gabrielle Alioth wird klar: Hartmann ist voll und ganz auf das konzentriert, was er gerade tut. Mühelos entspinnt sich ein Gespräch zwischen den beiden: Hartmann gibt lebendig Auskunft und geht dabei besonders auf die Historizität seines Romans ein. «Soweit ich sie herausfinden konnte, stimmen die Fakten», hält er fest. Hartmann, der unter anderem auch Geschichte studiert hat, erzählt davon, wie sich sein Bild von der geschilderten Zeit im Laufe seiner Recherchen verändert habe. Es sei inzwischen «weniger schwarz-weiss», es sei «grauer». Berührt habe in zum Beispiel der Umstand, dass durchaus auch spontane Hilfe aus der Zivilbevölkerung gekommen sei; etwa indem man den Geflüchteten von den rationierten Lebensmitteln abgegeben habe. Dass es aber natürlich auch in der Schweiz überzeugte Antisemiten gab, dürfte selbst den Allerletzten mit der Lektüre von Hartmanns Roman klar geworden sein.

Alioth hat bereits zu Beginn auf die Relevanz des Buches für alle Schweizer*innen hingewiesen, werde hier für einmal das Augenmerk auf die Schweiz zu Beginn der Vierzigerjahre gelegt. Auch macht Hartmann den Bezug zur Gegenwart stark: «Ähnliche Konflikte, ähnliche Polarisierungen» würden immer wieder auftreten. Gegen Ende liest Hartmann die Szene vor, in der die zwischenzeitlich verloren gegangene Stimme Schmidts ein letztes Mal zu ihm zurückkehrt, um dann für immer zu verstummen. Dieser Schwanengesang gibt Schmidt in Hartmanns Roman seine Eigenmächtigkeit, seine Würde, wieder und fördert eine rührende Bescheidenheit zu Tage. Nach dem Applaus ertönt leise Una furtiva lagrima aus den Lautsprechern. Ein guter Moment, um kurz innezuhalten und über den Umgang mit geflüchteten Menschen im Hier und Jetzt nachzudenken.

Von Kompost, unheimlichen Booten am Strand und einer gehörnten Frau

Die Jury des diesjährigen Schreibwettbewerbs für Nachwuchsschriftstellerinnen und -schriftsteller «OpenNet», der jeweils im Rahmen der Solothurner Literaturtage durchgeführt wird, hatte bei 205 Einsendungen die Qual der Wahl. Bei nur einem italienischen und einer unbekannten Anzahl an französischen Texten, fiel die Auswahl vorwiegend deutschsprachig aus. Nur wenig überraschend also, dass auch alle Siegertexte auf Deutsch verfasst waren.

An der Lesung, die gleichzeitig auch Teil des Preises für die Gewinnerinnen und den Gewinner ist, konnte man die drei Siegertexte hören und in Gesprächen mit den Jurymitgliedern etwas über ihre Gedanken und Intentionen hinter den Texten erfahren. Den Anfang machte Micha Frieml mit Kompost. Der Text, der durch viel Schreiben und noch mehr Streichen entstanden sei, erzählt von der Stille und dem Gefühl, dass sich ein Raum durch den Tod zugleich verändere und trotzdem derselbe bleibe. Ein Merkmal des Textes sei, dass Familien- und Beziehungsstrukturen unkommentiert blieben. Frieml sagt: «Beziehung ist immer auch das, was sie nicht ist.»

Als nächstes war der Gewinner Christian Zeier an der Reihe. Lara erzählt von aktuellen Themen wie Flucht und Migration und ist bei einem Besuch auf Lesbos entstanden. Zeier möchte damit gegen die mediale Abstraktion von Migration ankämpfen und durch die Erzählperspektive eines Kindes die unterschiedliche Betroffenheit der Menschen aufzeigen. Er äusserte den Wunsch einer «globalisierten Empathie».

Den Schluss machte Jasmine Keller mit ihrem Text gehörnt. Zweifelsfrei der skurrilste Beitrag, in dem ein schwarzer Kriegsfotograf von einer gehörnten Frau in den Gotthard-Bunker geführt wird. Anlass zu diesem Text boten u.a. kursierende Verschwörungstheorien um die Eröffnungsfeier der zweiten Röhre. Man merkt schnell: Es handelt sich auch hier um einen sehr politischen Text, geschrieben von einer «linken widerständigen» Frau, welche die nicht-weisse Geschichte der Schweiz thematisiert.

Das Ende dieser Veranstaltung gestaltete sich so wechselhaft wie ihr Inhalt und wurde mit zwei jubelnden Zuschauern – einer davon Kellers Lebensgefährte – und einigen Buhrufen beschlossen.

Ein Spiel «sous contrainte»

Ich betrete den Gemeinderatssaal, dessen stoffige Sitzpolster meine morgendliche Euphorie etwas dämpfen. Aus dieser Stimmung befördert mich das abwechslungsreiche Übersetzerinnenportrait aber schnell wieder heraus. Yla von Dach sei eine lustige und aufmerksame Übersetzerin, die für viele Schriftsteller*innen sehr wichtig sei, beginnt die Moderatorin Irene Weber Henking das Gespräch. Sie selbst ist Direktorin des Centre de traduction littéraire an der Universität Lausanne, dessen Gründung unter anderem Yla von Dach zu verdanken ist.

Die Leichtigkeit, mit der sich von Dach ans Werk macht, blitzt im Gespräch immer wieder durch. So zitiert sie Pessoa, dessen Werk sie zuerst auf Französisch begegnet sei: « Je ne suis rien. Je ne serais jamais rien. Je ne peu vouloir être rien. Cela dit, je porte en moin tous les rêves du monde. » In diesem Niemand-Sein tritt von Dach nicht primär eine selbstverneinende Tendenz entgegen, sondern eher eine grosse Leichtigkeit. Die Leichtigkeit derer, die sich nicht allzu ernst nehmen. Sie lacht kullernd. Auch sie nimmt sich selbst nicht allzu ernst. So wundere sie sich auch, dass sie 2018 den Spezialpreis Übersetzung des BAK bekommen habe.

Ich wundere mich nicht darüber, erst recht nicht, als sie uns eine Kostprobe ihrer eigenen Sprachkunst gibt. Sie zeigt an einem Ausschnitt aus Louis Soutter, probablement von Michel Layaz, wie sie mit Sätzen und Satzteilen ein Zusammensetzspiel vollführt. Auf Französisch kommt durch die verschachtelten Sätze eine Widerständigkeit ins Spiel. Diese Widerständigkeit muss man beibehalten, meint sie. Doch das gelinge im Deutschen nicht durch das Verschachteln – das klinge nur normal. Also  sucht sie nach anderen Möglichkeiten, die zähe Konsistenz der Sprache zu erfassen.

Das Übersetzen sei immer ein Schreiben «sous contrainte», merkt Weber Henking an. Das zeigt uns von Dach auch an ihrer Übersetzung von Marius Daniel Popescus Les Couleurs de l’hirondelle – Die Farben der Schwalbe. Hier glänzt die sprachliche Goldschmiedekunst noch stärker durch den Text hindurch. Die Übersetzerin beachtet den ganzen semantischen Raum der Wörter sowie die rhythmischen Elemente und die Reime. Im Übersetzen befinde sie sich in einem Zwischenraum: Sie bewegt sich vom Text weg, trotzdem versucht sie, in den Bildern zu bleiben. Und auch das tut sie mit einer spielerischen Leichtigkeit.

Von Wahrheit und Wirklichkeit

Am Freitagabend zur «Prime Time» ist es endlich so weit: Ferdinand von Schirach, der deutsche Superstar der Literaturszene, betritt die Bühne des Landhaussaals, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist und wird mit tosendem Applaus empfangen.

Seine ersten Worte gelten jedoch nicht seinem neuen Buch, sondern den jugendlichen Helferinnen und Helfern. Sie erfüllten Schirach mit der Hoffnung, dass die Literatur doch noch nicht verloren sei.

Mit einem kurzen humorvollen Exkurs über Ernährungsratgeber versucht Schirach, die Stimmung zu Beginn etwas aufzulockern, nur um für den Rest des Abends über scheinbar ernsthaftere Themen zu sinnieren. Dabei ist er immerzu versucht, den Draht zum Publikum nicht zu verlieren, was ihm mit der einen oder anderen Anekdote hörbar gelingt. Auch sonst scheint ihm seine Verbindung – das «heilige Band» zu seinen Leserinnen und Lesern, wie er es nennt – betont wichtig zu sein. Sowohl Menschen, die lesen, als auch solche die schreiben, seien nicht ganz eins mit der Welt.

Dass der Abend, durch den Schirach sehr professionell führt, noch durch ein Gespräch hätte angereichert werden sollen, gerät im Angesicht von Schirachs persönlicher Inszenierung weitgehend in den Hintergrund. Da nützt es auch nichts, dass sein Gesprächspartner Philipp Theisohn auf seine gekonnt professionelle und charmante Art versuchte, Schirach ein paar originellere Antworten zu entlocken. Es blieb trotz aller Mühen beim Versuch.

Ferdinand von Schirach, der in den vergangen Jahren mit seiner Trilogie über Verbrechen und die Justiz grosse Erfolge feierte, ist in Solothurn, um über sein neues Buch Kaffee und Zigaretten zu sprechen. Nicht für einen Ernährungsratgeber, aber für seine persönlichen Zutaten eines erfolgreichen Schreibprozesses steht der Titel. Kaffee trinken sei in Ordnung, aber mit dem Rauchen werde es immer schwieriger. Und schon ist man mitten im Thema des Abends. Es geht um die grossen Erkenntnisfragen, um die Suche nach der Wahrheit und die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Dass dann genau dort, wo die Schwedenkrimis spielen, am wenigsten Verbrechen verübt würden, ist nur ein Beispiel Schirachs dafür, dass die Wirklichkeit und die wahrgenommene Wahrheit zwei unterschiedliche paar Schuhe sind. Für seinen Seelenfrieden hoffen wir, es sind keine Turnschuhe oder gar «Ugly Sneakers», deren Träger, ebenso wie Jogginghosenträger, er nämlich ordentlich kritisierte. Ebenfalls zu hoffen bleibt, dass die Jungen die Literatur auch in dem Schuhwerk retten dürfen, in dem sie sich am wohlsten fühlen. Dass sein Modegeschmack – ganz im Sinne seiner eigenen These – wohl einfach seine ganz subjektiv gefärbte Perspektive auf die Wirklichkeit ist, scheint er dabei selbst zu vergessen.

Um auf die Thematik des Rauchens zurückzukommen: Sie bietet Schirach Anlass für die Diagnose einer immer eingeschränkteren Welt, überreguliert durch zahlreiche Ge- und Verbote. Und schon landen wir bei einem weiteren Lieblingsthema Schirachs, der Menschenwürde. In einer überregulierten Gesellschaft sehe er die Würde des Menschen akut gefährdet, beispielsweise wenn man «wie ein Schaf durch die leeren Abschrankungen vor der Kasse am Flughafen durchlaufen muss».

Als der Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer, der Schirach seine modischen Verurteilungen verzeihen konnte, nach der Pause nochmals seine Plätze einnimmt, bin ich wohl nicht die Einzige, die auf den apellativen Charakter seines Vortrags unter dem harmlosen Titel Warum ich schreibe mit Überraschung reagiert. Nachdem man das Vorgetragene lange einzuordnen versucht hat, wird endlich klar, um was es geht: Auf der Bühne steht gerade ein deutscher Schriftsteller, der seinem schweizer Publikum die Idee einer Europäischen Verfassung anpreist. Dieser unerwartete Abschluss eines denkwürdigen Abends hatte nicht mehr viel mit einer klassischen Lesung zu tun und wie Ferdinand von Schirach selbst bemerkte, «wird alles radikal Neue erstmals auf geteilte Meinungen stossen».

So muss dann auch das Fazit über seine Lesung ausfallen: Es ist alles eine Frage der Perspektive. Wenn man etwas mitgenommen hat, dann wohl den Aufruf «zum Aushalten eines friedlichen Dissens».

Ein sprudelnder, erfrischender Auftritt

„Es wird gerade abgeklärt, ob wir den Coca-Cola-Schirm wirklich brauchen dürfen“, sind die ersten Worte, die Klaus Merz an diesem Sonn(ig)tag in das Mikrophon der Aussenbühne am Landhausquai spricht. Es ist nämlich so sonnig, dass die Aussenbühne kurzerhand um 90° gedreht und die Zuschauerbänke in den Schatten verschoben wurden. Für die Bühne selbst musste ebenfalls eine Notlösung her. Augenscheinlich war kein neutraler Schirm auffindbar, so wird eben ein knallroter Coca-Cola-Schirm herbeigetragen. Das Team versucht fieberhaft, die beschrifteten Banner des Schirms mit Sicherheitsnadeln wegzupinnen. Klaus Merz legt gleich selbst Hand an, das Publikum, zahlreich erschienen, wartet amüsiert.

Merz setzt sich, richtet das Mikrophon und seine Sonnenbrille und erklärt, dass er einen Text lesen werde, der zeitlich einen Monat vor der Firma, seinem Roman, angesiedelt ist – im Juni 1968. Der Text handelt von einer Stellenausschreibung, Bratwurst am Bellevue, der Kronenhalle, und ich werde für kurze Zeit in die Zürcher Innenstadt versetzt, die ich allzu bald tatsächlich wieder sehen werde. Das zweite Gedicht – es fragt danach, wo Gedichte überall gefunden werden können – liest Merz nur bis zur Mitte. Er habe versehentlich den zweiten Teil des Blattes, auf dem der Rest des Gedichts gewesen wäre, heute Morgen abgeschnitten, erklärt er entschuldigend. Zum Abschluss liest er noch einige Passagen aus der Firma, während sich über ihm der Coca-Cola-Schirm langsam dreht und die Banner doch wieder zum Vorschein kommen.