Kreuzweg

In der Reihe Skriptor öffnen Autorinnen und Autoren seit vier Jahren ihr Schreibstübli für andere. Dieses Jahr stellte Mariann Bühler ein paar kurze Kapitel aus einem noch unveröffentlichten Werk vor – und sich damit aus. Im kleinen Saal über dem berüchtigten Solothurner Kreuz fand sich eine Gruppe für die Tuchfühlung mit der Autorin ein. Unveröffentlicht heisst meist fehlerhaft, unfertig. Die Situation ist also eine intime. Deshalb gilt auch Sprechverbot, was den Inhalt betrifft.

Besprochen, gelobt, vor allem gelobt haben die fünf Kolleginnen und Kollegen, moderiert von Donat Blum. Bis Ruth Schweikert sich gemüssigt fühlte, advocatus diaboli zu spielen. Da setzten dann alle nach, gruben tiefer und förderten Strukturen des Textes zutage. Zum Schluss äussern sich auch Stimmen aus dem Publikum. Allesamt gut kritische Stimmen.

Bühler findet sich in einem fruchtbaren Umfeld für das Experiment. Was davon Früchte trägt, das dürfen wir hoffentlich bald lesen.

Weil Hirne wie Tauben sind

Matto Kämpf kennt man witzig und makaber. Der Berner Oberländer, der Märli-Onkel. Auch in seinem neusten Buch Tante Leguan ist der Humor spitzig, kitzelt also, wenn er sanft streicht und schmerzt bei jedem Stich. In Solothurn liest er aus seinem Roman und plaudert mit der Schriftstellerin Milena Moser. Das Kamishibai-Theater bebildert eines seiner Kinderbücher, und dann muss er sich auch noch ein Interview gefallen lassen. Er spricht über Humor, Tod und wieso seine Werke sind, wie sie sind. 

Ich hab Sie gestern beim SRF-Gespräch mit Milena Moser im Publikum gesichtet. Für heute war ein Schriftsteller-Dialog mit Ihnen geplant. Wollten Sie Ihr Gegenüber vorab ausspionieren?

Nein, aber ich habe gedacht, ich erfahre vielleicht noch etwas über das Buch. Man hat ja schon die Angst, dass so ein Gespräch komplett abstürzt. Dann hätte ich auf etwas zurückgreifen können.

Für das Gespräch sind Sie ja einander zugewiesen worden. Hat das funktioniert?

Es war angenehm, ich finde das Buch wirklich sehr gut. Sie ist routiniert darin, auf der Bühne über ihre Bücher zu reden und den Leuten zu erklären, wie sie denn schreibt. Daher eine angenehme Bühnenpartnerin.

Zu Beginn haben Sie aus Mosers Buch Land der Söhne und Moser aus Ihrem Buch Tante Leguan gelesen. Haben Sie in Ihrem Text etwas Neues gefunden durch die Weise, wie er von Moser gelesen wurde? Vielleicht ein wenig dem Text entgegen gelesen?

Man kann sich nicht vorstellen, wie Leute den Text lesen. Als ob er nicht von einem selber wäre. Man fragt sich: Ist das jetzt gut – oder schlecht? Es wird spontan ganz anders betont. Ich habe nach zwei-, dreimal lesen so einen Duktus, der bei allen Lesungen identisch bleibt. Heute dachte ich: Ah shit, Leute lesen es ja doch anders.

Als Erzähler haben Sie doch eine einprägsame Stimme. Wie war es, damit einen fremden Text zu lesen?

Ich hatte den Text am Nachmittag schon geübt – also nicht laut. Ich wollte ihn nicht in meinen Stil übertragen, nicht so lustig, so quirlig. Eher wie ein Schauspieler im Radio, sachdienlich gut lesen.

Zitate der Verlagswebsite. Kanton Afrika: «Ein erstaunlich langer Text von Matto Kämpf – fast schon Literatur.» Heute Ruhetag: «Ein erstaunlich dickes Buch von Matto Kämpf – fast schon ein Klassiker!» Jetzt also Tante Leguan, 152 Seiten, schon wieder ein Quasi-Epos. Schieben Sie bald die ruhige Kugel bei den Romanciers?

Das ist schon das Maximum. Satire erschöpft sich doch schnell mal und man hat verstanden, worum es geht. Man kann sie wegschicken und Kreise machen lassen, aber irgendwann ist dann auch gut. Es gibt Bücher, wie bei Moser, die könnte ich nie schreiben – unmöglich. Vielleicht müsste ich zu vier Jahren Haft verurteilt werden. Wenn ich frei bekommen würde und keine Mini-Kühe basteln müsste, dann vielleicht einen Berner-Oberland-Roman über 27 Generationen.

Sie schreiben Postkarten, Kinderbücher, Kolumnen, Erzählungen, machen Spoken-Word bis Film, Musik und Comedy. Wie entscheiden Sie sich für eine Form?

Ich bin so ein Ideenkünstler. Ein Dokument in meinem Compi, das heisst Lager, in das kommt alles rein. Ideen, Sätze, Situationen, Dialogstellen, Dialoge. Die haben erst noch keine Funktion. Und wenn ich mir etwas vornehme, schaue ich das durch und denke, dass der Satz doch die Lena sagen könnte. Meist ist es ein freies Sammeln, wenn ich unterwegs bin. Aber nur vor dem Compi kommt nichts, höchstens ein besseres Adjektiv. Und sobald man im Bus ist, einkaufen geht oder auf dem Weg zum Altglascontainer, dann passiert etwas. Das Hirn braucht Futter wie Tauben.

Viele Ihrer Ideen schöpfen Sie aus einem Fundus aus Sagen, Märli, auch geschichtlichen Ereignissen. Kennen Sie die einfach, oder wo sammeln Sie die ein?

Sagen und Märli sind eine faszinierende Form, um zu erfinden. Das hat etwas Altehrwührdiges, das in Stein gemeisselt ist. Ich behaupte dann, ein grosses Murmeli hat im Berner Oberland die Welt erschaffen. Ein grosses Gebiet sind auch die alten griechischen Sagen, die hab ich nie nachgelesen, aber die höre ich viel. Zum Abwaschen griechische Sagen.

Dem steht Tante Leguan mit einer beinahe schon alltäglichen Handlung entgegen. Wieso das?

Erst war da die Idee dieses Mittdreissiger-Gefühls. Dann hab ich plötzlich die drei Journalisten vor mir gesehen. Die reden über Sachen, die sie gesehen haben, ob sie es scheisse finden oder nicht. Ein lustiges Thema, aber eigentlich geht es mehr um den Groove. Alle, die über das Buch reden, sind Kulturjournalisten. Die fragen, wo mein Problem sei und bestehen darauf, dass es gar nicht so sei. Die drei könnten aber auch an einem anderen Ort arbeiten und wären genau gleich. Halbbatzig Schule geben oder schlechte, halbbeliebte Dozenten.

Zitat aus Tante Leguan: „faul, zynisch, melancholisch und scharfsinnig. – Wie wir.“ Sie mit Mitte dreissig?

Jaja, es ist doch einfach ein Groove, den man zelebriert. Viele Freunde haben mittlerweile seriöse Berufe und Familie, aber sobald man abends mit Bier auf dem Balkon sitzt, fällt man in diesen Groove zurück. Man schimpft über Politiker und findet eigentlich alles scheisse. Wie früher.

Auch bei Ihren Vortragsarten kann man von wirtschaftlicher Diversifikation sprechen. Diashow, Fake-Radiosendung, mit Musik und Film, heute auch als Bildtheater. Sind Wasserglaslesungen fade?

Jein. Bei Lesungen, wie in einer Kantonsbibliothek mit Neonlicht und ohne Bühnencharme, hatte ich nach einer halben Stunde oft das Gefühl, dass ich jetzt wieder nach Hause verschwinden möchte. Aber im Vertrag steht dann halt 60 Minuten. Und dann fand ich es super, einfach nach einer halben, dreiviertel Stunde das Licht auszuschalten und so Bilder anzuschauen. Dann kucken die Leute mich nicht mehr so an. So habe ich dann die erste Diashow-Lesung erfunden.
Früher, als ich vielleicht 20 war, konnte die meisten Autoren nur sehr schlecht lesen. Das war überhaupt kein Kriterium. Bei einer Max Frisch-Buchtaufe hat er irgendwie zehn Minuten gelesen, dann redete er noch sehr lange mit dem Verleger und dann gab’s Apéro. Heute liest man länger und besser, routinierter, weil es ein wichtiger Teil geworden ist.

Bei einer Diashow zeigen Sie ausgestopfte Giraffen, hobbymässig von Ihrem Vater. Nächstes Dia: Leichenkeller, auch vom Vater ausgestopft. Gibt es etwas, worüber Sie nur ernst schreiben würden?

Nein. Ich würde über etwas Ernstes schreiben. Es gibt nichts Lustigeres als den Tod. Ein grosser Erzeuger von Komik. Nicht, dass es lustig ist zu sterben, aber eine Beerdigung ist ja voller Komik. Alles so erhaben, wie man sich benimmt. Das hat so etwas Hilfloses im Verhalten. Man kann über alles mit Humor schreiben.

Und was ist so reizvoll am Humor?

Darunter liegt vielleicht eine Art Sinnsuche. An Konzepte von Lebenssinn oder Religion glaube ich nicht, aber wenn man eine amüsierte Grundstimmung hat, ist man doch einfach glücklich und zufrieden. Wenn mir etwas Lustiges in den Sinn kommt, bin ich wieder versöhnt mit der Welt.
Als ich vielleicht 17 war, lief Monty Python schon in der x-ten Wiederholung. Die haben eine 20-minütige Show gemacht, auf ORF mit deutschen Untertiteln. Jede Woche habe ich die gekuckt. Wenn man Kunst machen will, dachte ich, dann so. Lustig, aber auch absurd. Sketche hören mittendrin auf, dann kommt was komplett anderes, und wenn ihnen nichts mehr einfällt, fällt von oben ein grosses Gewicht herunter. So wollte ich Kunst auch machen; wenn schon.

Wie Monty Python arbeiten auch sie viel mit anderen. Als Die Eltern, als Gebirgspoeten. Unterscheidet es sich stark vom Arbeiten alleine?

Bei Gebirgspoeten sitzen wir alle zusammen vor einem Laptop, damit man nicht alleine zuhause rumsitzt. Es ist lustig, wie man auf andere Ideen kommt. Man schreibt was, das dann jemand falsch versteht. Auch schon Zugfahren ist alleine langweilig. So hat man Treffpunkt Bahnhof Bern und fährt irgendwo gemeinsam hin. Ist sozial einfach interessanter.

Also auch ein wenig wie Ihre drei Charaktere in Tante Leguan

Ein lustiges Reisegrüppli.

Wenn die drei hier sässen, würden Sie ihnen etwas raten?

Ob sie noch ein Bier wollen. Die wären in irgendeinem Sofa versunken, abgesunken. Am Rauchen und Tapas bestellen.

Abschlussfrage: Was ist der letzte Satzfetzen, der Ihnen geblieben ist, den Sie behalten haben?

Grad heute hat Milena Moser gesagt, mit meinem Buch hätte sie drei lustige Abende gehabt. Als ich darauf antworten wollte, haben Sie grade mein Mikrofon stumm geschaltet. Den Satz schreib ich mir noch auf, als kleines Bonmot:

Immer wenn man lacht, will man sich doch einfach kurz nicht umbringen.

 

 

Autorenfoto; (c) Der gesunde Menschenversand GmbH (ohne Sprechblase).

Zwiegespräch: zwiegespalten.

Unter Literatur lässt sich so einiges fassen. Eine weites Feld, sozusagen. Da haben Witze, wie dieser eben, ihren Platz, ohne andere Bereiche einzuengen. Natürlich überlagern sich Bezirke an Schnittstellen. Plötzlich erweckt vergeblich unterdrückte Lacher, was andernorts die Empfindsamkeit rührt. Anderes mischt sich weniger gut, aber im Grunde ist doch alles Literatur, was im Solothurner Programm steht. Hinter allen Texten sitzen doch Schreiberlinge, die dasselbe machen. Tastatur oder Stift; einerlei. Genügend Gemeinsamkeit für einen Dialog. So würde man meinen.

„Häsch öppis vu dere glese?“
„Der Kampf sagt mir nix.“
„Was schriiebt denn die eso?“

Die Säulenhalle im Landhaus füllt sich mit zwei Lagern. Die einen lesen Milena Moser, die anderen Matto Kämpf. Kaum Doppelagentinnen, sicher keine Überläufer. Der Blumenstrauss ist derselbe wie bei den anderen Veranstaltungen. Wir sind noch am gemeinsamen Festival.

Der Berner Oberländer und die Ausgewanderte (Santa Fe, New Mexico) lesen die ersten zwei Seiten aus dem Buch der jeweils anderen Person. Der berüchtigt Humorvolle liest etwas Neues aus Land der Söhne heraus. Witz, der für stumme Leserinnen unter dem Text liegen geblieben war. Moser tritt mit Gefühl an die Figuren aus Tante Leguan heran, findet die aber nicht – und platzt vor Lachen. Beide lesen gegen den Text, aber beide Texte wirken noch immer stark und kräftig. Sie halten es aus. Widerspenstig.

Dann müssen Kämpf und Moser die Bücher weglegen. Ohne Schild wirken sie ausgeliefert. Sich gegenseitig ausgeliefert und dem Schweigen. Unmoderiert. Anläufe starten beide. Gutmütige Versuche, das Gegenüber auf ein Gespräch mitzunehmen. Aber während Kämpf den kurzen Witz einschlägt, steht Moser mit Pathos bepackt daneben, bereit für Gratwanderungen durch menschliche Abgründe. Also stolpern beide über oberflächliche Gemeinsamkeiten irgendwohin, aber nicht auf einen common ground zu.

Kämpf: „Endlich mol es Thema! Het en Moment bruucht. Literatur isch immer im Weg.“1

Beide halten Katzen. Ausserdem haben beide Söhne, die Videospiele zocken. Dann sitzen sie wieder im betretenen Schweigen oder reden darüber hinweg.

Moser: „Wetsch du Kaffi bstelle?“

Kämpf: „Wie lang geit’s denn no?“

Das Festival hat die Kombo gewählt, ihnen das jeweils andere Buch zugeschickt. Auf dieser einen Bühne finden sich die zwei aber nicht, aller Anstrengung zum Trotz. Ein Experiment, das schiefging. Und das darf es auch. Das Publikum nimmt’s niemandem übel, wenigstens waren die beiden witzig. Man hätte über zwei verschiedene Blicke auf die Schweiz sprechen können. Auch über die Wichtigkeit der eigenen Sprache. Aber vielleicht hätte sich auch daraus nichts entsponnen.

Es sind zwei Sorten Literatur, die für sich funktionieren – aber nicht zusammen. Manchmal sind die Teile eben doch mehr als das Ganze.

 

1 Ich entschuldige mich für unauthentisch transkribiertes Bärndütsch und fehlerhafte Zürischnurre.

Kinderwunsch

紙 spricht man „kami“ aus und heisst „Papier“.

芝居 spricht man „shibai“ aus und heisst „Schauspiel“ oder „Theater“.

Kamishibai ist ein hölzerner Schaukasten, in dem Illustrationen eingeschoben werden, um Geschichten zu erzählen. So auch Tierweg 1 von Matto Kämpf, eine Gentrifizierungskritik als Tierparabel.

Vielleicht nicht gerade ein Publikumsmagnet in jüngeren Altersklassen. Heute Morgen um halb 10 sitzen dann auch nur der Autor selbst und zwei weitere Erwachsene auf Turnmatten im Kinderhort und lauschen der Erzählerin. Die ist sich nicht so sicher, was sich für Erwachsenenohren eignet. Sie schiebt nacheinander die bunten Bilder ein, lehnt sich vom Stühlchen zu uns herunter und lädt uns in die kleine, verquere Welt von Amphibien, Säugetieren und Reptilien ein. Da recken auch wir die Hälse und spitzen die Ohren. Zwar steif und scheu, aber durchaus offen für ein wenig kindliches Tapsen. Doch jedes mal, kurz bevor wir eintreten, fällt ihr die Tür wieder zu. Sie muss die Situation belächeln, aus Angst nicht belächelt zu werden. Auf bunten Turnmatten, zwischen Dinosaurierfigürchen und Spielzelt.

Und wir sitzen wieder so schrecklich erwachsen da.

Wellenschlag im Wasserglas

Die Ersten im Raum sind Faktoten des Literaturbetriebs. Man trifft sie an jeder Lesung, ob in einer schrulligen Buchhandlung oder dem Landhaussaal hier in Solothurn. Leer stehen sie auf dem Tisch, die gefüllte Karaffe daneben. Dann setzen sich auch Moderator Lucas Marco Gisi und die Autorin an den Tisch. Das Tischtuch hängt gelangweilt weiss. Als Erstes greift sich Julia von Lucadou die Karaffe und platziert sie direkt neben sich in Reichweite. Nach einer kurzen Einführung soll die Autorin einen Ausschnitt aus Die Hochhausspringerin vorlesen. Es ist der Prolog. Sie nimmt den ersten Schluck. Man weiss, was jetzt kommt.

Sie hebt mit summendem Bass an. Plötzlich streckt ein Saal die Rücken. Wir zoomen auf die Welt des Romans zu. Ein Planet, eine glänzende Stadt, glänzende Hochhausketten. Von Lucadou zieht das gesamte Publikum eine 1000 Meter tiefe Fassade aus Stahl und Glas hoch. Am Hausvorsprung steht die Protagonistin Riva. Eine schöne Protagonistin. Mehr als schön sogar, bereits die Perfektion in allen Fasern. Alle sehen sie im FlysuitTM ihre Glieder spannen. Mit Riva schnellt auch die Stimme der Autorin gekonnt nach oben, beide zischen nach unten, prallen aber nicht auf den Grund, sondern schnellen elegant und leicht wieder hoch. Erleichtert sind auch alle andern im Raum. Dieselbe Kamerafahrt wieder rückwärts. Riva, Stadt, Planet. Von Lucadou blickt vom Buch auf und gönnt sich einen Schluck Wasser. Alle brauchen ein paar Sekunden länger, um wieder zurück zu kommen; auch der Moderator. Dann Applaus. Das ist keine fade Wasserglaslesung.

Die junge Gewinnerin des Schweizer Literaturpreises hat schon als Fernsehredakteurin und Simulationspatientin gearbeitet. Woher sie es auch hat, sie liest die drei Ausschnitte, wie sie gelesen werden sollten. Zum Beispiel als einlullende Mantras der zweiten Protagonistin, der Psychologin Hitomi, die vor auferlegtem Leistungsdruck ihre strikt diktierten Schlaf- und Meditationszeiten nicht einhalten kann. Wenn sie einen Mutterbot anruft, der sie tröstend beruhigen soll, weil Beziehungen zu Biomüttern in dieser Welt nicht mehr verfügbar sind, dann erwärmt von Lucadou erschreckend vertraut den Ton. Im nächsten Moment klingt sie dann spöttisch und angeekelt, als irgendwo am Horizont der Stadt die staubigen Peripherien erscheinen. In diesen haust, wessen Performance nicht den nötigen Anforderungen entspricht. Das droht auch Riva, die plötzlich nur noch dumm in ihrer Designerwohung in der Innenstadt rumsitzt. Die Spitzensportlerin hat genug vom „Highrise Diving“ und Hitomi soll sie wieder auf Trab bringen. Dazu observiert sie 24/7 per versteckter Sicherheitskameras jede Bewegung, therapiert hinter Bildschirm und Tastatur hervor.

Zwischen den eindrücklichen Lesepassagen beantwortet von Lucadou die Fragen von Lucas Marco Gisi. Im Gegensatz zur Riva traut der sich aber nicht wirklich abzuheben. Die Fragen verhaften auf bekanntem Boden und die Antworten tun es ihnen gleich. Die Linien des dystopischen Gesellschaftsentwurf werden auf aktuelle Tendenzen zurückgeführt, vor allem auf „enorme[n] Leistungsdruck im Namen der Produktivität “ und die „Invasion der Privatsphäre“. Beides Gegenwartserfahrungen, die von Lucadou ohne Frage literarisch raffiniert weiterspinnt. Man plaudert über die auftretenden Technologien und ihre realen Pendants. Ist ja alles interessant, aber was ein Raum für kritische Konfrontation hätte sein können, bleibt löbliches Gerede über den Roman. Und das hat das Buch nicht nötig.

Was bleibt, ist die herausragende Leseperformance der Autorin und die Stärke des Textes. Dazwischen fallen einem immer wieder die Wassergläser auf.

Unser Team in Solothurn: David Sieber

 

Bücher liest man doch alleine. Vielleicht auch mal in einem lauten Café, aber dann trotzdem für sich und zu viel Geld. David will sich all die Büchermenschen anschauen, die plötzlich aufeinander sitzen. Dabei bangt es ihm vor Rührseligkeit und Hype. Menschenmassen machen solche Sachen.

Er ist gespannt, ob Julia von Lucadou vom Podium ins Publikum springt und was Matto Kämpf mit Milena Moser überhaupt zu bereden hat. Vielleicht schwemmt ihn der Rummel auch zum Kamishibai-Bildtheater. Darauf hofft er insgeheim.

Neben Deutscher Literaturwissenschaft ist David Hauptfach-Philosoph. Wahrscheinlich ist er deswegen schon wieder zu abgebrüht. Da helfen Bücher und -menschen.

David freut sich also.