Mehrstimmigkeit

Ond was machsch du eigentlech?

Ich sitze im heissen und vollen Kino im Uferbau. Auf der Bühne steht ein Mikrofon, eine Loop Station, ein Kontrabass und zwei Künstlerinnen: Amina Abdulkadir und Stefanie Kunckler.

Stefanie Kunckler entlockt dem Kontrabass einen schnellen Rhythmus und gewollt unsaubere Doppelgriffe – ein vielstimmiger Klang. Eine weitere, menschliche Stimme tritt hinzu: die von Amina Abdulkadir. Worte fliessen, die Mehrstimmigkeit der Kontrabassmelodie verwandelt sich in ein pochendes Pizzicato. «Öpper…Öpper het emol gseit…» zögert die Stimme. «Nüt isch me wie früehner!» Die Stimme wiederholt sich, weitere Aussprüche schalten sich ein – die Loops werden zum Gespräch, zum Geschwätz.

Die Kontrabass-Stimme nimmt viele Gestalten an: Sie wird bald zur Gesprächspartnerin, bald zum Herzschlag, bald zum Zweifel, der sich sogleich auch auf die menschliche Stimme überträgt. Es is ein Neben-, In- und Aneinander von Stimmen und Stimmungen, das sich weit ab von jeder einschläfernden, mit Musik begleiteten Lesung bewegt.

Im dunklen Saal treten durch dieses Arrangement viele Zweifel, viele Fragen und viel Kritik ans Licht. Das Duo bringt eingeschliffene Floskeln zum Missklang, so dass sie sich selbst entlarven.

 

Ein Spiel «sous contrainte»

Ich betrete den Gemeinderatssaal, dessen stoffige Sitzpolster meine morgendliche Euphorie etwas dämpfen. Aus dieser Stimmung befördert mich das abwechslungsreiche Übersetzerinnenportrait aber schnell wieder heraus. Yla von Dach sei eine lustige und aufmerksame Übersetzerin, die für viele Schriftsteller*innen sehr wichtig sei, beginnt die Moderatorin Irene Weber Henking das Gespräch. Sie selbst ist Direktorin des Centre de traduction littéraire an der Universität Lausanne, dessen Gründung unter anderem Yla von Dach zu verdanken ist.

Die Leichtigkeit, mit der sich von Dach ans Werk macht, blitzt im Gespräch immer wieder durch. So zitiert sie Pessoa, dessen Werk sie zuerst auf Französisch begegnet sei: « Je ne suis rien. Je ne serais jamais rien. Je ne peu vouloir être rien. Cela dit, je porte en moin tous les rêves du monde. » In diesem Niemand-Sein tritt von Dach nicht primär eine selbstverneinende Tendenz entgegen, sondern eher eine grosse Leichtigkeit. Die Leichtigkeit derer, die sich nicht allzu ernst nehmen. Sie lacht kullernd. Auch sie nimmt sich selbst nicht allzu ernst. So wundere sie sich auch, dass sie 2018 den Spezialpreis Übersetzung des BAK bekommen habe.

Ich wundere mich nicht darüber, erst recht nicht, als sie uns eine Kostprobe ihrer eigenen Sprachkunst gibt. Sie zeigt an einem Ausschnitt aus Louis Soutter, probablement von Michel Layaz, wie sie mit Sätzen und Satzteilen ein Zusammensetzspiel vollführt. Auf Französisch kommt durch die verschachtelten Sätze eine Widerständigkeit ins Spiel. Diese Widerständigkeit muss man beibehalten, meint sie. Doch das gelinge im Deutschen nicht durch das Verschachteln – das klinge nur normal. Also  sucht sie nach anderen Möglichkeiten, die zähe Konsistenz der Sprache zu erfassen.

Das Übersetzen sei immer ein Schreiben «sous contrainte», merkt Weber Henking an. Das zeigt uns von Dach auch an ihrer Übersetzung von Marius Daniel Popescus Les Couleurs de l’hirondelle – Die Farben der Schwalbe. Hier glänzt die sprachliche Goldschmiedekunst noch stärker durch den Text hindurch. Die Übersetzerin beachtet den ganzen semantischen Raum der Wörter sowie die rhythmischen Elemente und die Reime. Im Übersetzen befinde sie sich in einem Zwischenraum: Sie bewegt sich vom Text weg, trotzdem versucht sie, in den Bildern zu bleiben. Und auch das tut sie mit einer spielerischen Leichtigkeit.

Träume und andere alltägliche Dinge

Viele gutgelaunt glucksende Menschen sammeln sich im Kino im Uferbau, um Michelle Steinbecks Lesung aus ihrem Gedichtband Eingesperrte Vögel singen mehr zu lauschen. Ihre Verse haben eine «Treffsicherheit, die immer wieder sprachlos macht». Damit lässt Pablo Haller, der selber schreibend und performend tätig ist und hier durch das Gespräch führt, den Lockvogel gleich zu Beginn aus dem Käfig. Michelle Steinbeck meint, sie wäre wohl auch sprachlos, wenn sie jetzt nicht lesen würde. Sie schlägt eine Reise quer durchs Buch vor, und ich nehme die Einladung gerne an.

Sie beginnt zu lesen, von ihren Liebesgedichten, wie sie später durchblicken lässt. Ihre Gedichte haben etwas angenehm Unemotionales, Ungekünsteltes. Nach der Liebe kämen nun die Babies, meint sie. Es folgen traumartige Gedichte und Alltagsüberlegungen.

Sonntag

sie bringt das baby vorbei
es schreit krebsroter kopf
dann trinkt es – pappsatt
die zunge hängt ihm aus dem mund so satt

er surft im internet nach der fad und
er googelt sich selber und
er pult an seinem fusspilz

ich grüble an meiner hausaufgabe
kann man wissen was andere fühlen?

«Wollen wir mal ein bisschen reden?», fragt sie ihren Moderator nach einigen Gedichten freundlich – und stellt auf liebenswerte Art und Weise klar, wer hier durchs Gespräch führt. Also reden sie. Darüber, wie sie früher sicher war, dass sie keine Lyrik schreiben würde und sich nach dem ersten, in einem Weihnachtsband der Berner Kunsthochschule publizierten Gedicht geschworen habe, nie wieder ein Gedicht zu veröffentlichen. Darüber, wie sie es dann doch getan hat. Und darüber, wie sie über das Tagebuch- und Traumbuchschreiben zu ihren Gedichten kommt. Das Notieren der Träume sei aber auch mühsam. Manchmal passiere es, dass sie schon im Traum ans Aufschreiben denke und deshalb dann nicht mehr viel anderes träume.

Ihre Gedichte bleiben aber nicht im Traum stehen und sie selbst wirkt sehr wach und freudig angekommen im Gebiet der Lyrik, als sie bemerkt, dass die Form der Lyrik ihr die Freiheit gebe, ihr nahe stehende Dinge leichter zu verarbeiten. So kann sie auch mit Gefühlen arbeiten, ohne dass es je sentimental klingt. Sie verrät, warum sie dieses Jahr zu den Solothurner Literaturtagen eingeladen wurde: wegen einem ihrer Gedichte. Darin schreibt sie, dass sie die Solothurner Literaturtage hasse, weil sie sich die Birne verbrannt habe und weil sie nicht eingeladen sei, aber alle anderen schon. Et la voilà, hier ist sie also in Solothurn, an ihren verhassten Literaturtagen. Eine gute Entscheidung.

Die Poesiereise nimmt ihr Ende in italienisch angehauchten Fernbeziehungs-Gedichten, von denen eines nach einem italienischen Lied benannt ist: «Ich nehm ein Gelato mit deinem Geschmack». Auf Deutsch klinge das wirklich hässlich, meint sie. Und um den Hauch von Kitsch ein für allemal zu vertreiben, kommt sie auf die Tauben zu sprechen, die sie in Rom am Bahnhof beobachtet: «Am Boden immer so bemitleidenswert, sind sie dort oben ziemliche Player.»

Nach der Lesung schlägt mir das Licht, das die Aare vor dem Kino im Uferbau eifrig bescheint, ins Gesicht und holt mich noch stärker auf den Boden der Realität zurück. Das war eine Traum- und Alltagsreise der besonderen Art.

Ein Sprung ins kalte Wasser

In der brütenden Hitze vor der Aussenbühne hat sich eine beträchtliche Menschentraube gebildet. Julia von Lucadou liest aus ihrem Debütoman Die Hochhausspringerin, der für den Schweizer Literaturpreis nominiert war.

Sie würde uns, warnt Lucadou vor, nun einfach ins kalte Wasser werfen. Normalerweise lese sie immer die gleichen Stellen, die einen sanft ins Buch einsteigen liessen. Nicht heute. Kaltes Wasser ist gut, ich bin gespannt. Sie liest eine Szene, in der Hitomi, eine der beiden Hauptfiguren, mithilfe eines Apps zu meditieren versucht. Hitomis Gedanken schweifen aber immer ab, sie kann sich nicht konzentrieren. Sie macht sich Sorgen, dass ihr Date, das noch auf ihrer To-do Liste für den Abend steht, ihr den missglückten Meditationsversuch anmerken wird. Auch beim Date selber sind ihre Gedanken nicht im Moment, sondern sie wandern immer wieder in die Vergangenheit, zu Begegnungen mit ihrer „Biomutter“. In diesen Gedankenausflügen – die eher Fluchten aus der Oberfläche sind – blitzt die Essenz des Romans auf: die Sehnsucht nach wahrhaftiger zwischenmenschlicher Begegnung.

Nach den heissen zehn Minuten Dystopie wäre ein wirklicher Sprung ins kalte Wasser der Aare keine schlechte Idee.

Unser Team in Solothurn: Selina Widmer

Man hat nie ausgeschrieben. Selina freut sich, zum zweiten Mal mit der Buchjahr-Kritikerrunde in Solothurn zu sein. Dieses Jahr möchte sie den Tönen zwischen den Zeilen lauschen – beim Sprachkonzert des Duos «Loretta Shapiro» sowie bei Diskussionen übers Übersetzen zwischen Deutsch und Französisch. In englische Sprachtöne taucht sie bei der Lesung des US-amerikanischen Schriftstellers Joey Goebel ein, wo sie hören möchte, wie nicht-kitschige Happy Ends klingen. Um etwas von dem mitzubekommen, was die Autoren am Ende des Tages wirklich antreibt, wird sie beim literarischen Flanieren am Abend die Ohren offenhalten.