Mondschein am Nachmittag

Das ist also mein erster Spoken Word-Vortrag. Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt und man vernimmt wildes Gemurmel. Als sich dann Andri Beyeler, Sebastian Krähenbühl und Matto Kämpf auf die Bühne begeben, wird es plötzlich still. Alle sind gespannt, so auch ich. Das erste Wort hat Kämpf, der erklärt, dass es sich bei Andri Beyelers Buch Mondscheiner um drei innere Monologe dreier Figuren handelt. Die Figuren heissen «er», «der Andere» und «die Eine». Bereits hier geht das erste Gelächter los. Nach dem kurzen Einstieg verlässt Kämpf die Bühne und sogleich erklingt eine akustische Gitarre. Beim Lied handelt es sich um ein Cover von Bob Dylans Moonshiner. Nun wird auch klar, woher Beyelers Buchtitel herrührt.

Nach dem Lied geht es endlich los. Vorgetragen werden die drei Monologe vom Schauspieler Sebastian Krähenbühl. Andri Beyeler sitzt währenddessen stillschweigend an seiner rechten Seite und stellt jeweils eine selbstgezeichnete Karikatur auf den Tisch, damit die Zuschauer erkennen, um wessen inneren Monolog es sich gerade handelt.

Der erste Monolog beginnt damit, dass eine Figur beim Verlassen eines Zuges unglücklich hinfällt, sich wieder aufrafft und sich in eine Bar begibt, in welcher mit der Zeit alle drei Figuren landen. Die Gedanken der Figuren springen von der Strasse, zur Bäckerei, zu einem Plakat bis hin zu den Personen in der Bar. Gelegentlich streitet die eine oder andere Figur mit sich selbst, beschimpft sich und nimmt den Zuhörer auf absurde Gedankengänge mit, die abrupt enden, hin- und herspringen und sich wiederholen können. «Was wäre wenn»-Fragen werden völlig zer- und überdacht. Es wird sogar über das Denken nachgedacht, wenn sich eine Figur zum Beispiel fragt was wohl die anderen denken, was man selbst denkt. Ebenso verzwickt wird es, wenn eine Figur vom Willen gewollt zu werden spricht. Solcher Ketten mit mehreren Metaebenen bedient sich Beyeler gerne, weshalb es nicht immer einfach ist, dem Vortrag zu folgen. Zudem unterscheiden sich die Figuren vom Sprachstil kaum voneinander. Das ist aber nicht weiter schlimm, schliesslich gibt es – Gott sei Dank – die Karikaturen. Krähenbühl liest das Ganze zwar grandios vor und weiss mit seiner Stimme die Zuschauerinnen und Zuschauer zu fesseln, jedoch hat er an manchen Stellen einen solchen Affenzahn drauf, dass ich nach dem lediglich 30-minütigen Vortrag erschöpft den Saal verlasse.

Ich hätte nie gedacht, dass mein erster Spoken Word-Vortrag so viel Konzentrationsfähigkeit von mir abverlangen wird. Laut vorgelesen klingen die Gedankenströme teilweise wie die Worte eines Wahnsinnigen, der eingewiesen gehört und trotzdem muss ich gestehen, dass ich mich an mehr Stellen ertappt gefühlt habe, als mir lieb ist. Der Vortrag hat mich zur Selbstreflexion angeregt und ich kann ihn jedem ans Herz legen. Entspannen wird man sich während dieser Achterbahnfahrt allerdings nicht können.

NINIB HANNO

Wellenschlag im Wasserglas

Die Ersten im Raum sind Faktoten des Literaturbetriebs. Man trifft sie an jeder Lesung, ob in einer schrulligen Buchhandlung oder dem Landhaussaal hier in Solothurn. Leer stehen sie auf dem Tisch, die gefüllte Karaffe daneben. Dann setzen sich auch Moderator Lucas Marco Gisi und die Autorin an den Tisch. Das Tischtuch hängt gelangweilt weiss. Als Erstes greift sich Julia von Lucadou die Karaffe und platziert sie direkt neben sich in Reichweite. Nach einer kurzen Einführung soll die Autorin einen Ausschnitt aus Die Hochhausspringerin vorlesen. Es ist der Prolog. Sie nimmt den ersten Schluck. Man weiss, was jetzt kommt.

Sie hebt mit summendem Bass an. Plötzlich streckt ein Saal die Rücken. Wir zoomen auf die Welt des Romans zu. Ein Planet, eine glänzende Stadt, glänzende Hochhausketten. Von Lucadou zieht das gesamte Publikum eine 1000 Meter tiefe Fassade aus Stahl und Glas hoch. Am Hausvorsprung steht die Protagonistin Riva. Eine schöne Protagonistin. Mehr als schön sogar, bereits die Perfektion in allen Fasern. Alle sehen sie im FlysuitTM ihre Glieder spannen. Mit Riva schnellt auch die Stimme der Autorin gekonnt nach oben, beide zischen nach unten, prallen aber nicht auf den Grund, sondern schnellen elegant und leicht wieder hoch. Erleichtert sind auch alle andern im Raum. Dieselbe Kamerafahrt wieder rückwärts. Riva, Stadt, Planet. Von Lucadou blickt vom Buch auf und gönnt sich einen Schluck Wasser. Alle brauchen ein paar Sekunden länger, um wieder zurück zu kommen; auch der Moderator. Dann Applaus. Das ist keine fade Wasserglaslesung.

Die junge Gewinnerin des Schweizer Literaturpreises hat schon als Fernsehredakteurin und Simulationspatientin gearbeitet. Woher sie es auch hat, sie liest die drei Ausschnitte, wie sie gelesen werden sollten. Zum Beispiel als einlullende Mantras der zweiten Protagonistin, der Psychologin Hitomi, die vor auferlegtem Leistungsdruck ihre strikt diktierten Schlaf- und Meditationszeiten nicht einhalten kann. Wenn sie einen Mutterbot anruft, der sie tröstend beruhigen soll, weil Beziehungen zu Biomüttern in dieser Welt nicht mehr verfügbar sind, dann erwärmt von Lucadou erschreckend vertraut den Ton. Im nächsten Moment klingt sie dann spöttisch und angeekelt, als irgendwo am Horizont der Stadt die staubigen Peripherien erscheinen. In diesen haust, wessen Performance nicht den nötigen Anforderungen entspricht. Das droht auch Riva, die plötzlich nur noch dumm in ihrer Designerwohung in der Innenstadt rumsitzt. Die Spitzensportlerin hat genug vom „Highrise Diving“ und Hitomi soll sie wieder auf Trab bringen. Dazu observiert sie 24/7 per versteckter Sicherheitskameras jede Bewegung, therapiert hinter Bildschirm und Tastatur hervor.

Zwischen den eindrücklichen Lesepassagen beantwortet von Lucadou die Fragen von Lucas Marco Gisi. Im Gegensatz zur Riva traut der sich aber nicht wirklich abzuheben. Die Fragen verhaften auf bekanntem Boden und die Antworten tun es ihnen gleich. Die Linien des dystopischen Gesellschaftsentwurf werden auf aktuelle Tendenzen zurückgeführt, vor allem auf „enorme[n] Leistungsdruck im Namen der Produktivität “ und die „Invasion der Privatsphäre“. Beides Gegenwartserfahrungen, die von Lucadou ohne Frage literarisch raffiniert weiterspinnt. Man plaudert über die auftretenden Technologien und ihre realen Pendants. Ist ja alles interessant, aber was ein Raum für kritische Konfrontation hätte sein können, bleibt löbliches Gerede über den Roman. Und das hat das Buch nicht nötig.

Was bleibt, ist die herausragende Leseperformance der Autorin und die Stärke des Textes. Dazwischen fallen einem immer wieder die Wassergläser auf.

Forces centrifuge et centripète

Un festival de littérature n’est-il pas toujours un achoppement du souffle ? Ballotés au fil d’un programme chargé, victimes consentantes d’une force centrifuge qui constamment nous jette hors de nous-mêmes dans une succession folle de rencontres et de découvertes, on est en même temps conduits à reconsidérer notre intimité et notre rapport au monde dans un mouvement centripète : car le festival est littéraire, et ménage donc des lectures, des partages.

Arrivé ce matin à Soleure, et découvrant avec plaisir que les distances, à taille humaine, vont nous aider à nous mouvoir dans ce rythme étrange auquel il va falloir nous habituer rapidement, j’assiste à mes deux premiers évènements : Baptiste Gaillard d’abord qui nous lit avec une grande précaution quelques pages de son Bonsaï, puis Odile Cornuz, avec laquelle je passerai une heure à discuter de sa dernière publication : Ma ralentie.

S’arracher de soi et se porter vers l’extérieur, exercer minutieusement son regard sur le dehorsen tentant de ne jamais perdre les surfaces, les matières : Baptiste Gaillard semble se situer du côté du mouvement centrifuge. Voulant faire proliférer l’« impermanence des fixations », il redéploye constamment son regard, jusqu’à ce que cette effusion descriptive s’essouffle et qu’il lui faille couper court : alors il rompt le texte, le coupe, laisse des blancs. Ces blancs qui devraient marquer une « réticence », un retour vers soi ?

Odile Cornuz, quant à elle, par son travail sur la langue s’efforce activement à combattre l’hyperactivité à laquelle le Monde semble nous contraindre, Monde qui nous entraînerait paradoxalement à une certaine passivité, à un certain aveuglement. Elle se concentre alors sur les affects qui la pénètrent et remettent en question la frontière entre le dedans et le dehors, sur les traces de Michaux.

Forces centrifuge et centripète : trouver la juste intensité entre ces deux forces, entre la description objective de Gaillard et les résonances intérieures de Cornuz, voici à quoi m’invitent ces journées littéraires. Rien, au fond, de bien extraordinaire, que cette constante négociation.

Schwindelnde Leitern und knisternde Gletscher

Der Landhaussaal ist gut gefüllt, leises Schwatzen lässt sich vernehmen; vor dem Fenster rauscht die Aare in der Mittagssonne. Auf der Bühne hat der Walliser Schriftsteller Rolf Hermann bereits Platz genommen. Eine Frage scheint im Raum zu stehen: Wie kann man an diesem – beinahe aufdringlich lieblichen – Sommertag ein abgelegenes Walliser Bergdorf ins belebte Solothurn bringen?

Das erste Wort hat Moderator Pablo Haller. Pointiert fasst er zusammen, was Rolf Hermanns Texte ausmacht: „Das nebensächlich Erlebte erweist sich als das Wesentliche“. Dann ist Hermann selbst an der Reihe, er macht den Einstieg mit einem Gedicht aus seinem ersten Spoken-Script-Band Das Leben ist ein Steilhang. Sofort gelingt es ihm, das Publikum in den Bann seiner Sprache zu ziehen. Dies ist einerseits der Lautlichkeit des breiten Walliserdialekts geschuldet, in dem Hermann den Text vorträgt, andererseits aber auch Hermanns Präsenz. Für Hermann, der auch Teil einer Mundart-Combo ist, findet Literatur nicht nur im stillen Kämmerchen statt. Seine Worte entfalten ihre ganze Wirkung gerade auf einer Bühne.

Darauf trägt Hermann seinen Lieblingstext aus dem Prosaband Flüchtiges Zuhause vor. In Flüchtiges Zuhause versammelt Hermann Erzählungen rund um das Aufwachsen in einem entlegenen Walliser Dorf. Hermann und der Text sind während der Lesung ganz eins; sie scheinen sich in- und auswendig zu kennen ohne dabei voneinander gelangweilt zu sein. Hermann nimmt sich Zeit für jede Silbe. Mit feiner Selbstironie schildert er den Stolz nachdem Überwinden der eigenen Höhenangst beim steilen Aufstieg über die Albinen-Leitern. Aus dem Publikum lässt sich immer wieder leises Lachen, fast eher ein hörbar gewordenes Schmunzeln, vernehmen.

Bereitswillig gibt Hermann darauf Auskunft auf einige Zwischenfragen Hallers. Er bestätigt den autobiographischen Einfluss auf die Erzählungen in Flüchtiges Zuhause, hebt aber auch das immer vorhandene „Moment der Fiktion“ hervor. Frei erzählt Hermann schliesslich von seinen Erfahrungen als Schafhirt auf der Alm und schöpft dabei aus dem Vollen. Während Flüchtiges Zuhause vor allem auch vom Rhythmus der Sprache und dem Klang der Worte lebt, tritt dieser Aspekt beim freien Erzählen selbstredend zurück. Dies vermag Hermann aber durch seinen geschärften aber liebevollen Blick auf die menschlichen Schwächen und die Skurrilitäten des Alltags wettzumachen.

Nach einer weiteren Kostprobe aus seinem Prosadebüt wird die Lesung mit nachdrücklichem Applaus aus dem Publikum abgerundet. Vor der Bühne bildet sich eine Traube an Zuhörer*innen, die noch einige Worte mit dem Autor wechseln wollen; draussen rauscht die Aare. Deutlich wird: Hermann ist es spielend leicht gelungen, das entlegene Walliser Dorf nach Solothurn zu verfrachten; das Auftauchen aus dieser Bergwelt gestaltet sich auf jeden Fall als schwieriger als das Versinken darin.