Deutliche Stimmen im Sprachengewirr

Das zwölfköpfige Autorinnen und Musikerkollektiv «Bern ist überall» macht schon länger von sich reden. Dieses Jahr haben die Mitglieder sich Unterstützung aus dem Kosovo geschnappt und kurzerhand eine Tournee organisiert – durch den Kosovo und die Schweiz, CD-Produktion inklusive. Am frühen Samstagabend sind Blerina Rogova Gaxha, Antoine JaccoudShpëtim Selmani und Ariane von Graffenried, musikalisch unterstützt durch Adi Blum am Akkordeon zu Gast im sogar theater und performen zusammen.

Vielsprachigkeit und Vielstimmigkeit. Ganz im Zeichen davon steht die gut einstündige Performance der Fünfertruppe. Das Schöne daran: Jede und jeder von ihnen hat eigene Beiträge – und immer wieder spannen mehrere von ihnen zusammen, um gewisse Stücke gemeinsam vorzutragen. Dabei stellen sie unter Beweis: Das Ganze ist weit mehr als die Summe der Einzelteile. Wie wichtig diese Einzelteile indes sind, zeigt sich schon bald.

Ganz links auf der Bühne steht Antoine Jaccoud. Seine Texte, mehrheitlich englisch oder französisch, trägt er mit leiser Stimme und einem leisen Schmunzeln im Gesicht vor. Er ist der fein lakonische Polemiker des Abends: «We got to heaven, but there were no virgins there. Not a single one. We waited for a while, maybe they were late, but they didn’t come.»

Rechts neben ihm Blerina Rogova Gaxha. Auch sie mit feiner Stimme, aber mit viel persönlicher anmutenden Texten. Mal über ein «Ich», mal über andere Menschen: «Lieber Gott, vergib mir. Ich will sterben zwischen ihren Beinen. – Ali sang über die Liebe».

Ariane von Graffenried, rechts von ihr, deckt mit ihren Texten ein breites Spektrum an Themen ab. Ihr «unique selling point» ist ganz klar die Vielsprachigkeit: «I mim Gring dräit aus im Chreis, à la télé louft Kosova RTK eis».

Shpëtim Selmani ist – zumindest nach seinen Texten zu Urteilen – der politischste der vier. Mit wilder Frisur und Brille redet er über die kosovarische Regierung, über das Heilige – über das, was ihm daran lieb und fremd ist. Sein vielleicht schönstes Bild des Abends: «Kosovo ist ein Holzapfel, der im geröteten Hals eines Deutschen feststeckt.»

Ein Abend der deutlichen Stimmen und der vielen Sprachen also, bei dem die Sprachbarriere zuweilen sogar bereichernd wirkt. Blerina Gaxha und Shpëtim Selmani tragen ihre Texte auf Albanisch vor. Zwar gibt es Übertitel, die das Verständnis erleichtern, doch es gibt noch einen anderen Effekt: Bei einer Sprache, deren Wörter man nicht versteht, achtet man sich beim Zuhören gezwungenermassen viel mehr auf Rhythmen, Reime und die Melodie.

Von der Hochhausspringerin bis zum Eidechsenkind

In der Kunsthalle wurde am Samstagabend die Shortlist des diesjährigen Schweizer Buchpreises diskutiert. Christoph Steier, Philipp Theisohn, Selina Widmer und Shantala Hummler vom Schweizer Buchjahr sitzen bereit, um jedes nominierte Buch zu bewerten und ihre Gedanken dazu zu äußern.

Das Debüt „Die Hochhausspringerin“ der Schriftstellerin Julia von Lucadou wird als erstes betrachtet. Selina Widmer findet das Buch lesenswert, da man in der Geschichte der Hochleistungssportlerin Riva auf viele aktuelle Entwicklungen hingewiesen wird. Außerdem gelinge es dem Text, starke Bilder beim Leser auszulösen, welche zum Weiterlesen antreiben. Doch Christoph Steier fragt sich, wie weit ist Riva von unserer Welt entfernt? Handelt es sich dabei nicht um eine Dystopie? Philipp Theisohn sieht in dem Buch vieles, was schon gewesen ist. In Deutschland wurde das Buch gefeiert. In der Schweiz wurde es bis zu seiner Nominierung nicht wirklich wahrgenommen. Er betont, dass es viele vorherigen Bücher gäbe, welche sich mit der Selbstoptimierung, wie bei Riva, und der allumfassenden Transparenz, auseinandergesetzt haben. Shantala greift auf, dass „Die Hochhausspringerin“ viele sprachliche Innovationen beinhaltet. Es gebe viele Details, welche das Buch lesenswert machen.

Im Gegensatz zu dem Roman von Julia von Lucadou ist „Die Überwindung der Schwerkraft“ von Heinz Helle, eher ein technikfernes Buch. Steier beschreibt es als Überlebensbuch mit wunderbarer Hypotaxe. Auch Selina fand Helles Buch überzeugend. Es zieht einen in einen Strom, welcher einen tatsächlich nahe geht. Derselben Meinung ist auch Shantala, sie findet, dass die Themen berühren und dem Leser gut nahe gebracht werden. Doch sie fragt sich, ob der Protagonist an persönlichen oder doch etwa an politischen und sozialen Problemen scheitert. Philipp Theisohn findet Helles Etwicklung stark. Es beschäftigt sich mit dem deutschen Diskurs und handelt um Schuld und Verantwortung.

Ein weiteres Debüt auf der Liste des Schweizer Buchpreises ist „Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari. Shantala beschreibt den starken Minimalismus des Buches. Theisohn ordnet den Text als abstrakten Text ein, wahrscheinlich der abstrakteste auf der Liste der nominierten Bücher. Es handelt sich dabei um literarische Imagination. Shantala erläutert, dass das Buch viele existenzielle Fragen stellt, doch keine Antworten gibt.

Es macht die Imagination stark. Wie auch Philipp Theisohn betont, alles was geschieht, geschieht potenziell.

 

Anders ist das in „Das Eidechsenkind“ von Vincenzo Todisco. Es ist sein erster deutschsprachiger Roman und handelt von einem Kind, welches aus Ripa in die Schweiz umzieht. Doch dies geschieht unangemeldet. Das Kind darf sich nicht bemerkbar machen und entwickelt besondere Fähigkeiten. Das Erlernen und der Alltag des Kindes werden neutral erzählt. Theisohn findet, dass es kaum emphatische Elemente gibt. Der Text sei ein überraschender Text mit einem schönen Erzählkosmos. Hinzufügt er, dass der Text bei weitem das Thema der Schweizer Sozialgeschichte überschreitet. Es beinhaltet alles, aber doch irgendwie mehr. Auch Steier sieht „Das Eidechsenkind“ als Überraschung der Liste. Es weist eine große poetische Qualität auf. Shantala unterstreicht die Aussagen, denn sie findet den Text sehr berührend.

Das letzte Buch auf der Liste ist „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ von Peter Stamm. Der Roman knüpft an seinen ersten Roman an und ist, wie Theisohn findet, schlank geschrieben. Er betont, dass Stamm sich etwas traut und mit der Autofiktion spielt. Christoph Steier sieht Stamms Text wie alle anderen Texte von Stamm. Selina denkt auch, der Text sei nichts Neues. Trotzdem wollte sie den Roman zu Ende lesen. Dabei stört sie sich aber vor allem an den Frauenfiguren. Auch die anderen sind sich einig, die Umsetzung der Frauenfiguren sei langweilig. Hinsichtlich möglicher fehlender Kandidatinnen und Kandidaten sind sich einig: Die Liste sei gut so, wie sie ist. Für die Kritiker des Schweizer Buchpreises 2018 spezial sind die Bücher von Todisco und Helle literarisch gesehen die Favoriten. Aber auch Stamm werde wohl ins nähere Rennen kommen.

Meze mit Herz

Eine Kochbuchpräsentation in der Buchhandlung Mille et deux feuilles

Vom Libanon in die Türkei, nach Griechenland, Kreta und Zypern – Gabi Kopp reist auf den Spuren von Meze-Kulturen von Küche zu Küche, besucht Köche und Köchinnen und sammelt Rezepte. Sie ist Kochbuchautorin und Illustratorin und verbindet in ihrem neuen Buch beide Leidenschaften. In einer Fotopräsentation nimmt sie uns mit in Meze-Welten und lässt uns so an den Etappen ihrer Reise teilhaben. Meze sind in kleinen Portionen und mehreren Gängen servierte, kalte oder warme Gerichte. Der Titel des Buches, Meze ohne Grenzen, bezieht sich einerseits auf die Vielzahl der Rezepte, andererseits auf die Koch-Inspirationen aus unterschiedlichen Ländern. Zu den bekannteren Speisen gehören etwa Hummus, Baba Ganoush, gefüllte Weinblätter und Tartar.

Neben den vertiefenden Einblicken in die Meze-Kulturen waren für Gabi Kopp auch die unterschiedlichen Begegnungen bereichernd. So beinhaltet ihr über dreihundertseitiges Buch nicht nur einen unglaublichen Rezeptereichtum sondern erzählt in kleinen Porträts auch von den Menschen und den Orten dahinter. Die Autorin spricht beispielsweise von Oum Ali, von ihrer besonderen Kebbeh-Zubereitungsart und wie sie diese verfeinert hat und davon wie die Köchin inzwischen ein eigenes Geschäft führt. Beeindruckend ist, wie der Pitabrotbäcker den Teig auswirft! Von dieser Technik ist die Autorin genauso begeistert wie das Publikum: sie zeigt uns die Bildabfolge des Wurfes gleich zwei Mal. Der Teig fliegt und nimmt beinahe die Grösse eines Lakens an. Was in allen Portraits aber gleichermassen spürbar ist, ist die Hingabe, die grosse Kunstfertigkeit der Köche und Köchinnen und die Liebe zum Kochen – die gleichzeitig wohl wichtigste Zutat.

Denn, so Gabi Kopp, Meze bedeute vor allem: zusammen sein. Teilen. Und für einen Augenblick alle Sorgen vergessen. Im Anschluss an die Präsentation dürfen wir von Gabi Kopps Entdeckungen probieren und teilen unter anderem Pitabrot, Randenhummus, ein libanesisches Hummus, Lammköfte und Teigtaschen mit Lauch-Karotten-Füllung.

«Rotwein steht für den Tod, Weisswein steht für das Leben»

Am Anfang und im Titel der Veranstaltung in der Bar des Hotels Greulich steht die Frage «Was soll das alles?». Zu Gast sind Vanessa Sonder und Patrizia Hausheer, zwei Philosophinnen, die miteinander viel getrunken und ein Buch über ihre Gespräche dabei geschrieben haben. Und tatsächlich wird sich die Frage danach, was das alles soll, an diesem Abend noch ein paarmal stellen. Doch der Reihe nach.

Nach eigener Angabe haben die Autorinnen sechs der sieben Kapitel des Buches in «höchstens leicht angetrunkenem Zustand» verfasst. Diese Kapitel drehen sich um Themen wie den Sinn des Lebens, Liebe, Tod, Sterben oder Selbstverwirklichung. Das siebte Kapitel trägt den Titel «Rausch».

Die Kapitel beginnen jeweils mit einem literarischen Teil, der auf das Gespräch zwischen den beiden Autorinnen hinführt. Das eigentliche Gespräch ist dann jeweils als Dialog konzipiert – und folgt damit einer uralten Tradition, mitsamt der damit verbundenen Probleme.

Obwohl die Dialoge eine mündliche Gesprächssituation simulieren wollen, merkt man ihnen ihre Schriftlichkeit stark an: Wer sagt mal eben im Café an der Ecke einen Satz, der so beginnt: «Wie der französische Philosoph Badiou sagt, und damit greift er eine Tradition auf, die seit Aristoteles besteht, …»? Und vor allem: Wenn zwei Philosophinnen auf Augenhöhe diskutieren, wo ist die Notwendigkeit, diese Tradition extra zu erläutern? Bargespräche in angeheitertem Zustand haben – wir alle wissen das – einen gewissen Zauber. Doch durch die starke Verschriftlichung, die wohl dem Publikum beim Verstehen helfen soll, scheint von diesem Zauber einiges verloren zu gehen. Die Distanz wird zu gross, die Unmittelbarkeit fehlt.

Zwischen den Leseblöcken diskutieren die Autorinnen mit der Moderatorin über die Entstehung und den Zweck ihres Buchs, und sie gehen auf einzelne Themenbereiche aus dem Buch noch zusätzlich ein. Sonder und Hausheer betonen wiederholt, dass ihnen Themen, die nah am Leben liegen, besonders wichtig gewesen seien; Themen, die auch abseits des Philosophiestudiums von Bedeutung sind. Darum eben Tod, Liebe, Leben und so weiter. Ihr Anspruch sei es aber gewesen, zu solchen Themen nicht einfach ein weiteres Ratgeberwerk zu produzieren, sondern ihr Publikum zum Weiterdenken anzuregen.

Schade daran ist, dass ihre Reflexionen leider gar oft nach Gemeinplätzen tönen  («Das Leben ist ein stetes Abschiednehmen von sich selbst»), und dass auch die Diskussionsteile dazwischen zuweilen gar beliebig anmuten. So überrascht auch die Frage, die dem Publikum nach einer Stunde am meisten unter den Nägeln brennt, nicht mehr besonders: «Trinkt ihr lieber Rotwein oder Weisswein?». Die Frage, was das alles sollte, wird indes nicht wirklich beantwortet.

Alexandra Wittmer und Simon Leuthold

Wenn sich Lyrik und Essen vereinen

Wir treten ein. «Sie haben vegetarisch bestellt, oder?» Ja, wir sind im Restaurant. Ein viergängiges Menu erwartet uns, das mit fünf Lesungen von Liebesgedichten verflochten wird.

Der Abend findet im Zürcher Restaurant Münsterhof statt, mit dem Thema Liebe, Erotik, Genuss – und Essen. Die Gäste sitzen an zwei langen Tischen. Doch als man Platz nimmt, bemerkt man ihn, an einem kleinen mit Büchern gedeckten Tisch an einer Ecke: René Grüninger, der die Gedichte leidenschaftlich vorlesen wird. Ein Gemälde aus dem 14. Jahrhundert, das an der Wand des Restaurantsaals hängt und die Themen Essen und Erotik zusammenbringt, hat ihn auf die Idee des Abends gebracht.

Als die Lesung beginnt, herrscht die reinste Stille im Raum, alle hören aufmerksam zu. Durch den Abend nimmt uns René Grüninger auf eine literarische Reise mit, auf der man Else Lasker-Schüler, Bertolt Brecht, Jacques Prévert und vielen anderen begegnet. Die Gedichte folgen aufeinander, manchmal melancholisch, manchmal explizit erotisch. Während der Lesung ist die Stimmung intim, bei jedem evoziert das Vorgelesene etwas anderes. Hände berühren sich, Knie treffen sich, Augen schließen sich. Hinten in der Küche fällt ein Messer zu Boden, wie um wachzurufen, dass bald der nächste Gang folgt. Tatsächlich dauern diese Runden nur zehn bis fünfzehn Minuten. Um die literarischen Klammern zu schließen, äußert sich René Grüninger humorvoll über diese Abwechslung von literarischen Entremets und kulinarischen Gängen: «Und jetzt, sind Sie wieder hungrig? Klatschen wir, damit der nächste Gang kommt!» Jedoch bleibt René Grüninger auf der Insel der Literatur und isst nicht mit. Er erklärt lächelnd, dass er schon gegessen habe, und liest für sich, in Vorbereitung auf die nächste Lesung.

Nach den literarischen Entremets wird die Stimmung gesellig, man spricht miteinander. «Haben Sie sich den Namen des ersten Dichters notiert?», werde ich gefragt. Tatsächlich ist der schöne Moment der Lesung flüchtig: Die Namen der Gedichte werden nur mündlich genannt. Die Begeisterten probieren vor dem nächsten Gang, diese Flüchtigkeit in Namen und Worten festzuhalten.

So verläuft der Abend: Erich Fried, Kurt Tucholsky, Sappho und sogar die Bibel treffen sich mit Tartar, Selleriesuppe und Gemüsestrudel, und die Begegnung fruchtet: wir kehren erfreut nach Hause, mit beglücktem Magen und geschärften Sinnen.

Wortmüll entsorgen

Bei diesem grauslichen Wetter wird man von der feucht-warmen Restaurant-Luft im Karl wie von einer kuschligen Decke empfangen. In dieser gemütlichen Atmosphäre hat Dirk Hülstrunk sein Büro aufgebaut. Ein einfacher Pult, bestehend aus zwei Restaurant-Tischen, bestückt mit einer roten Lampe und einer kärglichen Zimmerpflanze. Dahinter zwei Stellwände, an denen mehrere Kärtchen mit rot durchstrichenen Worten prangen.

Dirk Hülstrunk befreit uns von «überflüssigen Worten». Bei ihm können wir unseren «persönlichen Wortmüll» entsorgen. Und wie man sieht, machen  Besucher*innen von Zürich liest fleissig Gebrauch von dieser Möglichkeit: Hass – durchgestrichen, einige – durchgestrichen, Tussi – durchgestrichen,  nämlich – durchgestrichen.

Mit dem Wort prüfungsrelevant beteilige ich mich am gemeinsamen Worte-Entsorgen. Mit Unterschrift und Stempel bestätige ich meinen Beitrag. Endlich bin ich von den nervenden Nachfragen «Ist das prüfungsrelevant?» zahlreicher Kommiliton*innen, die scheinbar ihr gesamtes Interesse am Stoff nach der Antwort auf diese Frage richten, erlöst. Ein befreiendes Gefühl. Zum Austausch bekomme ich gratis ein Wort als Ersatz zurück. Ganz frisch und unverbraucht lacht mir das Kunstwort Felifädön von der ausgeteilten Karteikarte entgegen. Was ich damit anstelle, steht mir frei.

Hülstrunks «Büro für überflüssige Worte» regt zum Nachdenken an. Können wir uns zusammen mit dem Wortmüll auch von unliebsamen Tatsachen verabschieden? Wäre die Welt besser dran ohne gewisse Worte? Gibt es überhaupt überflüssige Worte? All diese Fragen lassen uns über Sprache diskutieren und regen dazu an, das eigene Reden zu überdenken. In unserem von Informationen überfluteten Alltag und in der oft bürokratisch durchorganisierten Schweiz keine schlechte Idee.

 

Unübersetzbar, sagen Sie?

Was heisst «croque-mitaine» ins Deutsche? Darf man Eigennamen übersetzen? Wie übersetzt man Geräusche und Rhythmus?
Dies sind einige der Fragen, die im Gespräch der zwei Übersetzerinnen Camille Luscher (Max Frisch, Arno Camenisch) und Lydia Dimitrow (Bruno Pellegrino, Isabelle Flükiger) am Freitag Abend im KOSMOS gestellt wurden. Konkrete Beispiele aus den Vorlagen ihrer eigenen Übersetzungen dienen als Basis für die Diskussion. Zusammen mit ihnen wird das Publikum eingeladen, konkrete Lösungen für angeblich «unübersetzbare» Wörter vorzuschlagen. Eine einzige Regel ist Camille Luscher bei dieser Aufgabe wichtig: «kein Dogmatismus». Und es geht los. Im Publikum schlägt jemand ein Wort vor, Lydia Dimitrow schreibt es auf und lächelt: «Vielleicht findet sich einer ihrer Vorschläge in meiner Übersetzung wieder».
Schnell stellt sich aber heraus, dass vieles hinter der Wahl eines bestimmten Wortes steckt. Was man im ersten Augenblick für eine angemessene wortwörtliche Übersetzung hielt, stellt sich als problematisch heraus, sobald man weitere Aspekte wie Klang, Konnotation oder noch Rhythmus berücksichtigt. Beeindruckend ist dabei vor allem, wie genau Camille Luscher und Lydia Dimitrow bei der Wahl eines Wortes vorgehen: Nichts scheint dabei dem Zufall überlassen zu sein.
Gleichzeitig wissen die zwei Übersetzerinnen zu überzeugen, dass Übersetzen ein Schöpfungsakt ist. Denn es heisst oft den Mut haben, eine gewagte Entscheidung zu treffen, indem man z.B. der wortnahen Übersetzung entgeht, um eine bestimmte Wirkung beim Zielpublikum zu erzeugen. Die zwei Übersetzerinnen gehören zu einer Generation, die sich nicht mehr scheut, ihre Autorschaft bei den eigenen Übersetzungen zu beanspruchen. Camille Luscher bringt es auf den Punkt: «Je gesuchter das Original ist, desto freier ist der Übersetzer». Sie fügt hinzu: «Ich übersetzte, um zu schreiben». Übersetzen bedeutet auf einmal kein blosses Transkribieren, sondern richtiges Schreiben.
Mit einem neu erworbenen Respekt für diese allzuoft unterschätzte Tätigkeit begibt man sich wieder nach Hause. Literarisches Übersetzen hat sicher viel mehr mit Literatur gemeinsam als mit google translate und ist auf jeden Fall ein Gewinn für das Original.

Polnisches Intermezzo

Lwiw, Lwow, Lwów, oder Lemberg. Die heute in der Ukraine liegende Stadt hat unzählige Male zwischen polnischer, österreichisch-ungarischer, sowjetischer und ukrainischer Herrschaft gewechselt. Hier spielt sich eine typische sowjetische Familiengeschichte ab: Die Frauen haben mit dem täglichen Leben zu kämpfen, die Männer sind abwesend – weil entweder gestorben, dauernd beschäftigt, Alkoholiker oder in Resignation versunken. In Żanna Słoniowskas polnischem Debütroman haben wir es mit vier Frauen aus vier Generationen zu tun. Diese leben zusammen in einem Haus – wohntechnisch hatte man in der Sowjetunion keine grosse Wahl, erklärt Słoniowska. Auf der einen Seite sei dieser Alltag von einer allgegenwärtigen Nähe und gleichzeitig von einem Unbehagen durchzogen.

Die Geschichte sei im engen Dialog mit polnischen Menschen entstanden. Es ging ihr darum, sie schreibend verstehen zu lernen. Sich selbst habe sie die Frage nach ihrer nationalen Identität erst nach dem Auszug aus Lemberg, der multikulturellen Stadt, gestellt. Auf die Frage von Moderatorin Monika Schäfer, was es denn mit den Wunden der verschiedenen Frauenfiguren auf sich habe, erwidert Słoniowska, dass es sich nicht um Wunden handle, sondern viel eher um Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden – und um den Kampf ums Künstlerdasein.

Auf den in polnischer Sprache vorgelesenen Textausschnitt folgt ein Raunen des Publikums. Verstehen tun’s zwar die wenigsten, aber dem Klang zu lauschen ist auch ein Erlebnis. Später bekommen wir noch eine Passage von Schauspieler Marco Michel gelesen, der sich darum bemüht, Schäfers Hustenanfall mit eiskaltem Weiterlesen zu überbrücken. Dass die Zeit dann schon um ist und wir nichts mehr von der Autorin selbst hören, ist schade. Aber eigentlich ist es ja schön, wenn die Lesung aufhört, wenn man noch mehr hören möchte.

Nachts, da tanzen die Schatten

Eisige Winde pfeifen um die Türme des Grossmünsters, als wir kurz vor zehn Uhr abends frierend in die Krypta der Kirche herabsteigen. Eine steinerne Statue von Karl dem Grossen ziert den ansonsten kargen Raum. Fast meine ich, seinen Blick im Nacken zu spüren, als ich auf einem der etwas wackeligen Holzstühle Platz nehme. Zahlreiche Kerzen flackern im Gewölbe. Die Atmosphäre könnte nicht passender sein für die bevorstehende Veranstaltung; der Berliner Lyriker Norbert Hummelt wird nämlich aus seinem Gedichtband Fegefeuer lesen. Durch eine amüsante Anekdote in der Einführung erfahren wir, dass sich gleich nebenan der Putzraum befindet. Wie passend, schliesslich ist das Purgatorium ein Ort der Reinigung.

Die Lesung beginnt mit einem dumpfen Paukenschlag, ausgelöst vom Perkussionisten Lucas Niggli. Das Geräusch hallt durch die Krypta und lässt auch die letzten geflüsterten Unterhaltungen im Publikum verstummen. Nigglis Klangspiele werden sich im Laufe der folgenden Stunde mit Hummelts Gedichten abwechseln und eine einzigartige Stimmung erzeugen. Schlagzeug, Pauke, Stöcke – Niggli hat eine grosse Auswahl an verschiedenen Perkussionsinstrumenten dabei und vermag ihnen düstere, geisterhafte Töne zu entlocken. Mal erinnern sie an die stürmische See, mal an Gewitter und Peitschenhiebe; immer wieder meint man, gequälte Schreie zu vernehmen. Das Kerzenlicht malt flackernde Schatten an die Wand; unweigerlich muss ich an die Folterknechte der Hölle denken.

Hummelts sonore Stimme wird durch die Bauweise der Krypta zusätzlich verstärkt. Seine Gedichte begleiten den Erzähler durch die oft schmerzhaften Erinnerungen an dessen sich dem Ende neigenden Leben. Er sinnt verlorenem Glück und seiner Jugend nach. Fegefeuer ist eine Sammlung kleiner Qualen; trotzdem wirkt der Erzähler nicht verbittert und die Gedichte friedlich. In Hummelts Werk steckt viel Melancholie, und sie nachzuvollziehen ist ein Leichtes. Der Rhythmus der beiden Darbietungen erzeugt gemeinsam eine Klanggewalt, die das Publikum in ihren Bann zieht und nach der viel zu kurzen Stunde mit begeistertem Applaus quittiert wird. Die Fragerunde fällt aus; niemand scheint sich zu trauen, die ungewöhnliche Stimmung im Raum mit einer profanen Frage zu zerstören. Also geht es zurück in die eisige Nachtluft, um eine wunderbar unheimliche Erfahrung reicher.