Wortmüll entsorgen

Bei diesem grauslichen Wetter wird man von der feucht-warmen Restaurant-Luft im Karl wie von einer kuschligen Decke empfangen. In dieser gemütlichen Atmosphäre hat Dirk Hülstrunk sein Büro aufgebaut. Ein einfacher Pult, bestehend aus zwei Restaurant-Tischen, bestückt mit einer roten Lampe und einer kärglichen Zimmerpflanze. Dahinter zwei Stellwände, an denen mehrere Kärtchen mit rot durchstrichenen Worten prangen.

Dirk Hülstrunk befreit uns von «überflüssigen Worten». Bei ihm können wir unseren «persönlichen Wortmüll» entsorgen. Und wie man sieht, machen  Besucher*innen von Zürich liest fleissig Gebrauch von dieser Möglichkeit: Hass – durchgestrichen, einige – durchgestrichen, Tussi – durchgestrichen,  nämlich – durchgestrichen.

Mit dem Wort prüfungsrelevant beteilige ich mich am gemeinsamen Worte-Entsorgen. Mit Unterschrift und Stempel bestätige ich meinen Beitrag. Endlich bin ich von den nervenden Nachfragen «Ist das prüfungsrelevant?» zahlreicher Kommiliton*innen, die scheinbar ihr gesamtes Interesse am Stoff nach der Antwort auf diese Frage richten, erlöst. Ein befreiendes Gefühl. Zum Austausch bekomme ich gratis ein Wort als Ersatz zurück. Ganz frisch und unverbraucht lacht mir das Kunstwort Felifädön von der ausgeteilten Karteikarte entgegen. Was ich damit anstelle, steht mir frei.

Hülstrunks «Büro für überflüssige Worte» regt zum Nachdenken an. Können wir uns zusammen mit dem Wortmüll auch von unliebsamen Tatsachen verabschieden? Wäre die Welt besser dran ohne gewisse Worte? Gibt es überhaupt überflüssige Worte? All diese Fragen lassen uns über Sprache diskutieren und regen dazu an, das eigene Reden zu überdenken. In unserem von Informationen überfluteten Alltag und in der oft bürokratisch durchorganisierten Schweiz keine schlechte Idee.

 

Vom Word-Dokument zum Buch oder Aus dem Leben eines Zwiebelfisches

Im schönsten Saal vom Karl wollen wir innert zwei Stunden herausfinden, wie ein Buch entsteht. Dass das ein unmögliches Unterfangen ist, machen uns Ulrike Groeger und Patrizia Grab, Herstellerinnen im Rotpunktverlag, schon zu Beginn klar. Trotzdem erhaschen wir einen flüchtigen Einblick in die Welt der Buchherstellung.

Groeger und Grab sind wahre Multi-Talente. Als Herstellerinnen müssen sie nicht nur organisatorische und kaufmännische sondern auch technische und gestalterische Fähigkeiten aufweisen. Eingebunden in das Verlagsteam stehen sie in Kontakt mit externen Partnern wie Autoren, Lithografen oder Druckereien. Sie holen Angebote ein, kalkulieren und versuchen die Ideen umzusetzen, die sie sich leisten können.

Anhand des Beispiels «Wandern in der Stadt Zürich» wird uns nähergebracht, wie ein Buch hergestellt wird. Man beginnt mit dem, was potenzielle Leser*innen als erstes wahrnehmen: dem Umschlag. Dieser birgt oft grosses Diskussionspotenzial, nicht nur an den Verlegerkonferenzen sondern auch in Absprache mit den Autor*innen. Nach dem Erstellen von Musterkapiteln werden Offerten von Druckereien eingeholt. Der Text, noch immer als Word-Dokument, wird formatiert und mit den Bildern abgestimmt. Diese Arbeit kann viel Zeit in Anspruch nehmen, weshalb mögliche Terminverschiebungen rechtzeitig kommuniziert werden müssen. Dann geht’s ans mühselige Überprüfen, Korrigieren, Abstimmen und Revidieren, bis schliesslich die Daten als PDF an die Druckerei gelangen. Anhand des «Gut zum Druck» werden die letzten Feinheiten überprüft. Läuft hier etwas schief, wird aus einem Kriminalroman schnell einmal ein Kriminaloman. Nach dem Druck gelangt das Buch in die Läden und so im besten Fall in viele Leser*innen-Hände.

Auch unsere Hände werden nach so viel Theorie endlich beschäftigt. Anhand von zahlreichen Anschauungsexemplaren realisieren wir, wie vielfältig die Gestaltungsmöglichkeiten von Typographie, Papier, Bindung und Umschlägen sind. Zum Beispiel das Buch, das in Schleifpapier eingebunden ist, der Gletscherführer mit der SAC-Hüttendecke als Umschlag oder das in der Nacht leuchtende Werk über die Atomenergie.

Zum Schluss erfahren wir endlich, was es mit dem provokativen Veranstaltungstitel «Von Hurenkindern und Umbrüchen» auf sich hat. Dabei geht es nämlich um typographische Gestaltungsfehler, die mit abschreckenden Namen versehen wurden. Neben dem Hurenkind (die letzte Zeile eines Absatzes ist die erste Zeile der neuen Seite) oder dem Deppen-Apostroph treffen wir hier auch auf den Zwiebelfisch. Dieser unsympathische Zeitgenosse hat sich auch in unseren Text eingeschlichen. Findest du ihn?

Um 16.00 Uhr wäre der Workshop eigentlich vorbei. Das Thema ist es aber noch lange nicht. Die hohe Teilnehmerzahl zeigt, wie gross das Interesse am Gegenstand Buch noch immer ist. Das gedruckte Werk ist trotz E-Book nicht tot zu kriegen. Hoffen wir, dass es so bleibt.

Von Fabienne Suter und Olivia Meier

Nächster Halt Mord

Zürich, Extrafahrten-Haltestelle am Bellevue. Direkt gegenüber das Opernhaus, das in den wolkenverhangenen Himmel ragt. Es ist Schauplatz des ersten Tatorts in Severin Schwendeners neuem Buch Schatten und Spiel, dem dritten Teil seiner Zürcher-Krimi-Trilogie. Es wirkt fast inszeniert, als neben uns ein Auto hält mit – wirklich wahr! – einem angeschnallten Skelett auf der Rückbank. Nun sind wir bereit für Schwendeners Mörder-Tram. Wir fahren los, ohne wirkliches Ziel. Abgesehen von Schwendeners selbsterklärter Hoffnung, dass irgendein Fahrgast am Ende sein Buch kaufen wird.

Als Einstieg wird die Hauptfigur des Krimis vorgestellt: Thomas K. Hilvert, Kommandant der Stadtpolizei Zürich. Ihm zur Seite steht sein Assistent Jaun – ein klassisches Ermittlerduo, das Zürich vom zurückgekehrten Serienmörder befreien soll. Die Figuren bleiben also grösstenteils die gleichen, wie in den vorangegangen Bänden der Trilogie. Genauso nahtlos reiht sich Schwendeners Buch in die Krimi-Tradition ein und bedient sich deren Schemata.

Während der Fahrt räumt Schwendener auf mit der romantischen Vorstellung des Autorendaseins. Er schreibt eben nicht von der Muse geküsst im Lehnstuhl bei Kerzenlicht, sondern bedient sich systematischer Vorgehensweisen, die er sich beim Biologiestudium an der ETH aneignete. Auch inhaltlich greift Schwendener auf seine Arbeitserfahrungen bei der Zürcher Biosicherheit zurück, wenn er zum Beispiel den Mörder Drohbriefe mit ominösem weissen Pulver verschicken lässt. Früher verhasste Mindmaps werden nun zum unausweichlichen Arbeitsinstrument. Daraus entsteht eine von A bis Z durchgeplante Handlung, aus der wir einen weiteren Ausschnitt zu hören bekommen.

Nun liest der Autor aus Sicht des Mörders, auch dies ein altbekanntes Mittel zur Spannungssteigerung. Während das Tram langsam den Escher-Wyss-Platz überquert, werden uns die ersten beiden weiblichen Figuren der heutigen Lesung vorgestellt: Oberstaatsanwältin Greta Hertig, die offenbar den falschen Typen geheiratet hat und Reporterin Céline Allensbach, die mit ihrer journalistischen Spürnase Geheimnisse aufdeckt. Eine Frau, die mit dem Dasein im Schatten ihres reichen Mannes zu kämpfen hat und eine aufgeweckte Journalistin – auch das, zumindest auf den ersten Blick, eher eindimensionale Figurenzeichnungen.

Nächster Halt, Endstation Bellevue. Unsere Krimifahrt ist zu Ende. Schwendeners Krimi zeichnet sich aus durch gut durchdachte Handlungsstränge und braucht sich in der zurzeit blühenden Schweizer Krimilandschaft nicht zu verstecken. Zwar hat er den Krimi nicht neu erfunden, sein Lesepublikum wird er aber mit dem dritten Teil seiner Trilogie bestimmt nicht enttäuschen.

Von Fabienne Suter, Laura Barberio und Olivia Meier.

Lesen mit allen Sinnen

Dem verheissungsvollen Ruf „Starke Bücher für schwache Augen“ folgend, mache ich mich auf zur Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte (SBS). Mit meiner Kurzsichtigkeit bin ich zwar nicht ganz direkte Zielgruppe der Bibliothek, zur Führung, die im Rahmen von „Zürich liest“ angeboten wird, werde ich aber trotzdem freundlich begrüsst. Nach und nach trudeln die übrigen Interessierten ein. Ein bunt durchmischtes Grüppchen tummelt sich bald im kleinen Eingangsbereich.

Eine Bibliothek ohne Leser*innen?

Unser Rundgang startet im Herzstück, der Bibliothek. Doch irgendwas fehlt. Die Bücher? Nein, die sind – wenn auch in etwas ungewohnter Form – vorhanden. Was fehlt, sind die in Bücher schmökernden Bibliotheksbesucher*innen. „Die SBS ist eine Versandbibliothek“, klärt Henrike Strehler, die uns begleitet, auf. Die Bücher gelangen per Blindenpost zu den Kunden. Die Kunden, das sind Menschen mit einer Sehbehinderung oder ganz einfach alle, denen der Lesegenuss durch gesundheitliche Einschränkungen verwehrt bleibt. Warum die SBS als Versandbibliothek organisiert ist, wird schnell veranschaulicht. Milena Mosers „Hinter diesen blauen Bergen“ liegt drei Mal vor uns auf dem Tisch. Als Original – ein schmales Buch, das in jede Handtasche passt. Im Grossdruck-Format, für das man wohl eher einen geräumigen Rucksack braucht. Und schliesslich in drei dicken Bänden, voll mit Braille-Schrift bedruckten Seiten, die wohl niemand hin und her schleppen will.

Ich höre, also lese ich

Nach diesem aufschlussreichen Einstieg wandern wir einen Stock höher ins Hörbuch-Studio. Die SDS bietet nämlich nicht nur Bücher und Musiknoten in Braille-Schrift, Grossdruckbücher, Spiele und E-Books an, sondern produziert auch eigene Hörbücher. Sechs Aufnahmeleiter kümmern sich um rund 100 Sprecher*innen, die das geschriebene Wort vertonen. Einige von ihnen können wir live bei ihrer Arbeit beobachten. In kleinen Studios sitzen sie hinter ihren Mikrofonen und lesen fleissig vor. Die kurzen Hörproben, die wir erhaschen, klingen vielversprechend.

Braille für Dummies

Als Abschluss dürfen wir einen Blick in die hausinterne Druckerei werfen. Wir erfahren, wie die Braille-Schrift funktioniert, sehen, wie man eine geografische Karte für Blinde lesbar machen kann und betrachten Beispiele, wie mit passendem Material Blinde und Sehende gemeinsam lesen können. Wir schauen einer Braille-Druckmaschine bei der Arbeit zu und dürfen schliesslich selbst in die Tasten hauen und unseren Namen in der berühmten Punkte-Schrift auf Papier verewigen.

Mit einem Goodie-Bag der SBS ausgerüstet und voll von neuen Eindrücken aus einer mir sonst fernen Welt gehts zurück in die Innenstadt. Zürich wird sicher bis Sonntag und (hoffentlich) noch lange Zeit lesen. Dass man dies nicht nur mit den Augen tun kann, hat der heutige Nachmittag eindrucksvoll bewiesen.

 

 

Für uns bei «Zürich liest»:
Olivia Meier

Zürich liest und Olivia versucht mitzulesen, ohne zu sehen. Beim Rundgang in der Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte erfährt sie hoffentlich, wie das geht. Ausserdem begibt sie sich im Krimitram mit Hauptmann Hilvert auf Mördersuche und lernt vom Rotpunktverlag, wie sich ein Word-Dokument in ein Buch verwandelt.

Stürzt sie sich nicht gerade ins abwechslungsreiche Programm von «Zürich liest», studiert Olivia Germanistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften im Master an der Uni Zürich. Ausserdem arbeitet sie als wissenschaftliche Assistentin an der ZHAW Winterthur und betreut den Blog von «reatch – research and technology in switzerland».