Literatur als Erkältungsbad

Literatur ist eine einsame Angelegenheit, für den Schreibenden wie für den Lesenden. Dennoch weist sie eine soziale Komponente auf, die ebenso wesentlich ist: das Sprechen über sie, das die Leseerfahrung vertieft und – Stichwort Mundpropaganda – ihren Wirkungskreis erweitert. Dieser charmante Vorsatz motiviert am frühen Samstagabend das Blogteam des Schweizer Buchjahrs zur Frage: Wer sitzt da eigentlich auf der Shortlist des Buchpreises? Die Diskussion, geführt von den Studentinnen Selina Widmer und Shantala Hummler, begleitet und eingehegt vom bewährten Kritiker-Duo Steisohn, findet im weiträumigen Ambiente der Kunsthalle statt. «Die Hochhausspringerin», das Debüt der promovierten Filmwissenschaftlerin Julia von Lucadou, spaltet die Runde gleich zu Beginn: Sieht Selina Widmer in der üppigen Metaphorik eine Stärke des Romans, die allerdings auch den Suspense der Geschichte blockiert, und hebt Shantala Hummler die Triftigkeit mancher Details hervor, hält Theisohn dagegen: Zwar sei der Topos der Transparenz eine literarische Mode und der Roman eine Art Schössling von Dave Eggers «The Circle», gleichwohl findet er: «Transparenz macht nur Sinn, wenn es auch etwas zu zeigen gibt.»

Der zweite besprochene Roman, «Die Überwindung der Schwerkraft», Heinz Helles Drittling, ruft dagegen nur wenig Einwände hervor. Zwar erweist sich Hummler als kenntnisreiche Cover-Kritikerin (die Gestaltung des Helle-Romans gelinge mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms «in ein paar Minuten») – inhaltlich und sprachlich ist die Runde durchweg angetan. Theisohn etabliert ein Drei-Stufen-Modell für Helles bisheriges Werk: Erstling «missraten», Nachfolger «solide», vom dritten nun ist er endlich «überzeugt». Steier erläutert die Parallele zu Bärfuss: Der abwesende Koala ist hier der tote Bruder des Erzählers und repräsentiert die Epoche vor den digital natives, stirbt ohne Smartphone, iPad usw: «Das ist noch alte Schule», bilanziert er. Der Roman, finden alle Anwesenden, sei zwar kein «Stream of Consciousness», aber durchgeplaudert, ein Suff-Talk jammernder Männer über die Schrecken des 20. Jahrhunderts («Das 21. Jahrhundert hat ihn nicht so fertiggemacht»).

Auch das dritte besprochene Buch ist ein Debüt-Roman: «Hier ist noch alles möglich», von Gianna Molinari. Hummler stellt den Roman um eine junge Frau und einen Wolf sehr detailliert vor, der in der Tendenz eine eher positive Resonanz erfährt. Durchweg Anerkennung findet Vincenzo Todiscos Roman «Das Eidechsenkind». Todisco, der bislang nur auf Italienisch publiziert hat, schreibt hier erstmals in deutscher Sprache eine, wenn man so will, Secondo-Geschichte. Theisohn beweist seine Marvelisierung, indem er zum «Eidechsenkind» flugs Spiderman assoziiert, Shantala Hummler wiederum erkennt eine vor allem poetologische Nähe Melinda Nadj Abonjis «Schildkrötensoldat». In Verbindung mit Molinaris «Wolf» macht die Vokabel der «Animalisierung» der Schweizer Literatur die Runde, die Theisohn, der sich zu diesem Thema selbst zitiert, mit einem Selbstkommentar beschliesst: «Isso.»

Zuletzt knöpfen sich die Fantastic Four auf der Bühne Peter Stamms neuen Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» vor. «Endlich traut er sich mal was», wird würdigend anerkannt, dennoch mündet das Gespräch in ein ernüchtertes Urteil: «Ein typischer Stamm.» Steier erkennt ein «Stimmungssfumato», «von Stamm durch die Fischerorgel gedreht», und Selina Widmer fragt vorsichtig, aber bestimmt: «Ich weiss nicht, wie es euch mit den Frauen ging, aber …» Ihr stossen die idolisierten Frauenfiguren Stamms auf. Die Runde nickt beifällig: Nach Theisohn fehle noch immer «die vulgäre, schlagkräftige Barfrau». Dennoch, lesen könne man das, schliesst Steier, das sei «Literatur als Erkältungsbad».

Fünf Bücher, vier Kritiker – das Missverhältnis erklärt sich durch den kurzfristigen Ausfall Tom Kummers, der der Gruppe, die sich in der Gemeinschaft vom Leiden an schlechter Literatur therapierte, sicher gut getan hätte. Es wurde ein Format, das trotz aller Freiheiten leider in erster Linie für Soliloquys genutzt wurde. Steier, der Barracuda im Aquarium des Schweizer Literaturbetriebs, der nie Luft zu holen scheint, münzte die eigene Lust am Parlieren elegant und selbstkritisch um in eine Deskription von Helles Roman («ein Redestrom wie jetzt meiner»), gelegentlich zärtlich unterbrochen von Philipp Theisohn («Ich will ja nicht stören, aber ..»). Ausgesprochen unterhaltsam, etwas mehr scripted reality käme der Veranstaltung aber doch zugute. Literatur muss nicht zwangsläufig in Einsamkeit münden, jedenfalls nicht für die Lesenden: Gegen Ende drängt Steier zur Bar, das Publikum beugt sich seiner auctoritas.

Von der Hochhausspringerin bis zum Eidechsenkind

In der Kunsthalle wurde am Samstagabend die Shortlist des diesjährigen Schweizer Buchpreises diskutiert. Christoph Steier, Philipp Theisohn, Selina Widmer und Shantala Hummler vom Schweizer Buchjahr sitzen bereit, um jedes nominierte Buch zu bewerten und ihre Gedanken dazu zu äußern.

Das Debüt „Die Hochhausspringerin“ der Schriftstellerin Julia von Lucadou wird als erstes betrachtet. Selina Widmer findet das Buch lesenswert, da man in der Geschichte der Hochleistungssportlerin Riva auf viele aktuelle Entwicklungen hingewiesen wird. Außerdem gelinge es dem Text, starke Bilder beim Leser auszulösen, welche zum Weiterlesen antreiben. Doch Christoph Steier fragt sich, wie weit ist Riva von unserer Welt entfernt? Handelt es sich dabei nicht um eine Dystopie? Philipp Theisohn sieht in dem Buch vieles, was schon gewesen ist. In Deutschland wurde das Buch gefeiert. In der Schweiz wurde es bis zu seiner Nominierung nicht wirklich wahrgenommen. Er betont, dass es viele vorherigen Bücher gäbe, welche sich mit der Selbstoptimierung, wie bei Riva, und der allumfassenden Transparenz, auseinandergesetzt haben. Shantala greift auf, dass „Die Hochhausspringerin“ viele sprachliche Innovationen beinhaltet. Es gebe viele Details, welche das Buch lesenswert machen.

Im Gegensatz zu dem Roman von Julia von Lucadou ist „Die Überwindung der Schwerkraft“ von Heinz Helle, eher ein technikfernes Buch. Steier beschreibt es als Überlebensbuch mit wunderbarer Hypotaxe. Auch Selina fand Helles Buch überzeugend. Es zieht einen in einen Strom, welcher einen tatsächlich nahe geht. Derselben Meinung ist auch Shantala, sie findet, dass die Themen berühren und dem Leser gut nahe gebracht werden. Doch sie fragt sich, ob der Protagonist an persönlichen oder doch etwa an politischen und sozialen Problemen scheitert. Philipp Theisohn findet Helles Etwicklung stark. Es beschäftigt sich mit dem deutschen Diskurs und handelt um Schuld und Verantwortung.

Ein weiteres Debüt auf der Liste des Schweizer Buchpreises ist „Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari. Shantala beschreibt den starken Minimalismus des Buches. Theisohn ordnet den Text als abstrakten Text ein, wahrscheinlich der abstrakteste auf der Liste der nominierten Bücher. Es handelt sich dabei um literarische Imagination. Shantala erläutert, dass das Buch viele existenzielle Fragen stellt, doch keine Antworten gibt.

Es macht die Imagination stark. Wie auch Philipp Theisohn betont, alles was geschieht, geschieht potenziell.

 

Anders ist das in „Das Eidechsenkind“ von Vincenzo Todisco. Es ist sein erster deutschsprachiger Roman und handelt von einem Kind, welches aus Ripa in die Schweiz umzieht. Doch dies geschieht unangemeldet. Das Kind darf sich nicht bemerkbar machen und entwickelt besondere Fähigkeiten. Das Erlernen und der Alltag des Kindes werden neutral erzählt. Theisohn findet, dass es kaum emphatische Elemente gibt. Der Text sei ein überraschender Text mit einem schönen Erzählkosmos. Hinzufügt er, dass der Text bei weitem das Thema der Schweizer Sozialgeschichte überschreitet. Es beinhaltet alles, aber doch irgendwie mehr. Auch Steier sieht „Das Eidechsenkind“ als Überraschung der Liste. Es weist eine große poetische Qualität auf. Shantala unterstreicht die Aussagen, denn sie findet den Text sehr berührend.

Das letzte Buch auf der Liste ist „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ von Peter Stamm. Der Roman knüpft an seinen ersten Roman an und ist, wie Theisohn findet, schlank geschrieben. Er betont, dass Stamm sich etwas traut und mit der Autofiktion spielt. Christoph Steier sieht Stamms Text wie alle anderen Texte von Stamm. Selina denkt auch, der Text sei nichts Neues. Trotzdem wollte sie den Roman zu Ende lesen. Dabei stört sie sich aber vor allem an den Frauenfiguren. Auch die anderen sind sich einig, die Umsetzung der Frauenfiguren sei langweilig. Hinsichtlich möglicher fehlender Kandidatinnen und Kandidaten sind sich einig: Die Liste sei gut so, wie sie ist. Für die Kritiker des Schweizer Buchpreises 2018 spezial sind die Bücher von Todisco und Helle literarisch gesehen die Favoriten. Aber auch Stamm werde wohl ins nähere Rennen kommen.