Zwei Heimkinder, 600 Mails, ein Buch

Der stuckverzierte Raum des Schweizerischen Sozialarchivs ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das Publikum wartet gespannt auf den Beginn der Lesung. Im Mittelpunkt des Interesses stehen drei Personen: Diana Bach und Robi Minder, die in den 50er-Jahren in einem Kinderheim lebten, und Lisbeth Herger, die die bewegende Geschichte der beiden Heimkinder in einem Buch festhielt. Lebenslänglich. Briefwechsel zweier Heimkinder ist bereits Hergers drittes Buch im Verlag HIER UND JETZT. Das Werk ist ein Zeugnis der Schweizer Heimgeschichte. Es enthält Porträts von Bach und Minder, Tagebuch- und Quelleneinträge von damals sowie Ausschnitte aus den über 600 Mails, die die zwei in den letzten Jahren austauschten. „Eines Tages standen die beiden bei mir im Büro“, erzählt Herger.

Es folgen unzählige Stunden im Archiv, auf der Suche nach Zeitzeugnissen und zumindest ein bisschen Aufarbeitung. Die ist Bach und Minder nämlich sehr zu wünschen; auch sechzig Jahre später noch leiden sie an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die gefühlskalte, streng religiöse Führung des Heims weckte Ängste in den Kindern, die sie ein Leben lang verfolgten und ihnen einen normalen Alltag unmöglich machten. Bach, Minder und ihre Heimgenossen litten unter willkürlichen, ungerechtfertigten, teilweise auch grausamen Strafen. „Die Heimleiterin sieht alles – und noch viel mehr.“ Die kleine Diana entwickelte eine quälende Neurodermitis, doch anstelle einer Behandlung wurden ihre Arme in Kartonröhren gesteckt, um sie am Jucken zu hindern. Robi meinte überall Gespenster zu sehen; wo psychologische Hilfe, menschliche Wärme und Verständnis angebracht gewesen wären, gab es nur Schläge und harsche Worte.

Atemlos lauscht das Publikum den Zeugnissen dieses Schreckens. Herger ist es gelungen, die Erlebnisse der ehemaligen Heimkinder respektvoll und eindrücklich zu verewigen. Man kommt nicht umhin, Bach und Minder aufrichtige Bewunderung entgegenzubringen für ihren offenen Umgang mit den belastenden Ereignissen, die ihr ganzes Leben geprägt haben. „Es sind keine schönen Geschichten, aber sie müssen erzählt werden“, sagt Herger mit Nachdruck. Wie recht sie hat.

Nachts, da tanzen die Schatten

Eisige Winde pfeifen um die Türme des Grossmünsters, als wir kurz vor zehn Uhr abends frierend in die Krypta der Kirche herabsteigen. Eine steinerne Statue von Karl dem Grossen ziert den ansonsten kargen Raum. Fast meine ich, seinen Blick im Nacken zu spüren, als ich auf einem der etwas wackeligen Holzstühle Platz nehme. Zahlreiche Kerzen flackern im Gewölbe. Die Atmosphäre könnte nicht passender sein für die bevorstehende Veranstaltung; der Berliner Lyriker Norbert Hummelt wird nämlich aus seinem Gedichtband Fegefeuer lesen. Durch eine amüsante Anekdote in der Einführung erfahren wir, dass sich gleich nebenan der Putzraum befindet. Wie passend, schliesslich ist das Purgatorium ein Ort der Reinigung.

Die Lesung beginnt mit einem dumpfen Paukenschlag, ausgelöst vom Perkussionisten Lucas Niggli. Das Geräusch hallt durch die Krypta und lässt auch die letzten geflüsterten Unterhaltungen im Publikum verstummen. Nigglis Klangspiele werden sich im Laufe der folgenden Stunde mit Hummelts Gedichten abwechseln und eine einzigartige Stimmung erzeugen. Schlagzeug, Pauke, Stöcke – Niggli hat eine grosse Auswahl an verschiedenen Perkussionsinstrumenten dabei und vermag ihnen düstere, geisterhafte Töne zu entlocken. Mal erinnern sie an die stürmische See, mal an Gewitter und Peitschenhiebe; immer wieder meint man, gequälte Schreie zu vernehmen. Das Kerzenlicht malt flackernde Schatten an die Wand; unweigerlich muss ich an die Folterknechte der Hölle denken.

Hummelts sonore Stimme wird durch die Bauweise der Krypta zusätzlich verstärkt. Seine Gedichte begleiten den Erzähler durch die oft schmerzhaften Erinnerungen an dessen sich dem Ende neigenden Leben. Er sinnt verlorenem Glück und seiner Jugend nach. Fegefeuer ist eine Sammlung kleiner Qualen; trotzdem wirkt der Erzähler nicht verbittert und die Gedichte friedlich. In Hummelts Werk steckt viel Melancholie, und sie nachzuvollziehen ist ein Leichtes. Der Rhythmus der beiden Darbietungen erzeugt gemeinsam eine Klanggewalt, die das Publikum in ihren Bann zieht und nach der viel zu kurzen Stunde mit begeistertem Applaus quittiert wird. Die Fragerunde fällt aus; niemand scheint sich zu trauen, die ungewöhnliche Stimmung im Raum mit einer profanen Frage zu zerstören. Also geht es zurück in die eisige Nachtluft, um eine wunderbar unheimliche Erfahrung reicher.

Für uns bei «Zürich liest»:
Valentina Berchtold

Bisher vor allem in der zweisprachigen Stadt Fribourg und der Reizüberflutung Londons unterwegs, erkundet Valentina Berchtold nun die ihr unbekannten Literatur-Gewässer von Zürich. Nebenbei studiert sie Germanistik und Anglistik und verbringt einen Grossteil ihrer Freizeit beim Buchhändler.

Ihre ersten Blogging-Erfahrungen machte sie 2008 mit einem nur mässig erfolgreichen Bastel-Blog; später schrieb sie regelmässig für die Studentenzeitschrift der Uni Fribourg. Nun freut sie sich darauf, bei «Zürich liest» in die düstere Krypta des Grossmünsters hinabsteigen zu dürfen, wenn Lyrik bei Kerzenschein zum Leben erwacht. Ausserdem wird sie mehr über die tragische Vergangenheit zweier ehemaliger Heimkinder erfahren.