Polnisches Intermezzo

Lwiw, Lwow, Lwów, oder Lemberg. Die heute in der Ukraine liegende Stadt hat unzählige Male zwischen polnischer, österreichisch-ungarischer, sowjetischer und ukrainischer Herrschaft gewechselt. Hier spielt sich eine typische sowjetische Familiengeschichte ab: Die Frauen haben mit dem täglichen Leben zu kämpfen, die Männer sind abwesend – weil entweder gestorben, dauernd beschäftigt, Alkoholiker oder in Resignation versunken. In Żanna Słoniowskas polnischem Debütroman haben wir es mit vier Frauen aus vier Generationen zu tun. Diese leben zusammen in einem Haus – wohntechnisch hatte man in der Sowjetunion keine grosse Wahl, erklärt Słoniowska. Auf der einen Seite sei dieser Alltag von einer allgegenwärtigen Nähe und gleichzeitig von einem Unbehagen durchzogen.

Die Geschichte sei im engen Dialog mit polnischen Menschen entstanden. Es ging ihr darum, sie schreibend verstehen zu lernen. Sich selbst habe sie die Frage nach ihrer nationalen Identität erst nach dem Auszug aus Lemberg, der multikulturellen Stadt, gestellt. Auf die Frage von Moderatorin Monika Schäfer, was es denn mit den Wunden der verschiedenen Frauenfiguren auf sich habe, erwidert Słoniowska, dass es sich nicht um Wunden handle, sondern viel eher um Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden – und um den Kampf ums Künstlerdasein.

Auf den in polnischer Sprache vorgelesenen Textausschnitt folgt ein Raunen des Publikums. Verstehen tun’s zwar die wenigsten, aber dem Klang zu lauschen ist auch ein Erlebnis. Später bekommen wir noch eine Passage von Schauspieler Marco Michel gelesen, der sich darum bemüht, Schäfers Hustenanfall mit eiskaltem Weiterlesen zu überbrücken. Dass die Zeit dann schon um ist und wir nichts mehr von der Autorin selbst hören, ist schade. Aber eigentlich ist es ja schön, wenn die Lesung aufhört, wenn man noch mehr hören möchte.

Für uns bei «Zürich liest»:
Selina Widmer

Selina freut sich darüber, dass Zürich wieder mal liest und liest mit Vergnügen mit. Der Stapel mit den fünf für den Schweizer Buchpreis nominierten Büchern ist durchforstet, die Spannung darauf, wie die Autoren in Zürich auftreten werden, gross.

Neben diesen Kandidaten möchte sie Żanna Słoniowska bei der Lesung ihres Debüts «Das Licht der Frauen» zuhören und mehr über die in Lemberg lebenden Frauen aus vier Generationen erfahren, von denen sie im Buch erzählt.

Den kulturellen und sprachlichen Grenzen auf der Spur wird sie auch dem Travel Book Shop einen Besuch abstatten und bei der Veranstaltung «Ein Mädchen zwischen den Sprachen» der Bedeutung der Mehrsprachigkeit und des Übersetzens auf den Zahn fühlen. Was die literarische Reise durch Zürich noch so bringt, wird sich zeigen.

Selina studiert Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich und ist zum zweiten Mal Teil des Buchjahr-Bloggerteams.