Von Zement-Sternen und Waffen aus Brotteig und Bohnen

Yordanka, Martin und Camilo Jaschke präsentierten am Sonntag Nachmittag im Les Halles zusammen mit der Autorin und Bloggerin Nadja Zimmermann und Katrin Sutter, der Verlegerin des Aris-Verlages, das Buch «Mama kann nicht kochen», die 2018 erschienenen Liebeserklärungen an perfekt unperfekte Mütter. Diese setzen sich aus Vor- und Nachwort und aus Erzählungen, von Martin und Camilo über die Kochunfälle ihrer Mutter Yordanka, den Liebeserklärungen von 10 Müttern, wie jene von Susanne Kunz oder Nathalie Sassine-Hauptmann, sowie einem Statement von Yordanka zusammen.

Humorvoll und spritzig eröffnen Martin und Camilo mit den selbst vorgetragenen Auszügen aus ihrem Buch den Nachmittag und lockern damit die Mundwinkel der Zuhörenden. Spontan beginnt darauf das Gespräch über das Muttersein und die Kochkünste von Yordanka, die von sich selbst sagt, dass sie nicht unbedingt schlecht koche, aber die kulinarische Muse nicht immer dabei sei, wenn sie in die Küche eintrete. Perfektion und Fehlerlosigkeit, wie sie in Fachbüchern und auf Social Media oft präsentiert werden, so ist sich die Gesprächsrunde einig, seien keine Anforderungen an eine gute Mutter. Authentisch zu sein, sei viel wichtiger und Defizite hätten wir ja schliesslich alle, ergänzte Zimmermann.

Mit «Mama kann nicht kochen» ist die längst überfällige und ungeschönte Wahrheit über das Muttersein sowie ein geistreiches und humorvolles Plädoyer gegen den Druck der Perfektion endlich in Buchform erschienen.

Lieber Martin, Lieber Camilo: Gerne würde ich mehr über «Papa, den Schirmherrn der Frische» oder darüber, «wie Mama Sandwiches macht», lesen – vielleicht in einem zweiten Band?

Die Novelle – ungefährlicher als ein Roman

In der Buchhandlung Bodmer stellt Hansjörg Schertenleib sein neues Buch vor – die Novelle Die Fliegengöttin. Nachdem er sich dafür bedankt hat, dass zur Abwechslung «ein richtiges Buch» vorgelesen werden darf, beginnt Schertenleib mit dem Anfang seiner Geschichte. Die Hauptfiguren Willem und Eilis sind seit über 50 Jahren verheiratet. Seit ihrer Alzheimer-Diagnose vor zwei Jahren kümmert sich Willem aufopferungsvoll um seine Frau. Die Geschichte erzählt von einer grossen Liebe zwischen zwei Menschen, die beide ihre Fehler gemacht haben und trotzdem immer füreinander da waren. Über dem einen Tag, der erzählt wird, schwebt das Versprechen, sich gegenseitig zu erlösen, falls einer von beiden ein Pflegefall wird. Dabei ist es zentral, dass die Geschichte in Irland spielt. In der Schweiz beispielsweise würde Willem diese Verantwortung von Exit abgenommen werden und somit die Spannung entfallen.

Den ersten Seiten der Novelle folgt ein Gespräch zwischen Schertenleib und seinem neuen Verleger Daniel Kampa, der zusammen mit der Lektorin ebenfalls anwesend ist und ihm immer noch erlaubt, seine Geschichten mit vielen Naturbeschreibungen anzureichern. Die Gattungsfrage macht den Anfang. Der sonst so freiheitsliebende Schertenleib sei froh über die Gattung als Leitplanke, denn allen Einschränkungen zum Trotz biete sie auch viele Freiheiten. Ausserdem sei ein dünnes Buch wie Die Fliegengöttin im Vergleich zu einem dicken Roman weniger schmerzhaft, sollte es bei der abendlichen Lektüre im Bett wieder einmal auf der Nase landen. Mit dieser Aussage trifft er auf grosse Zustimmung beim Publikum.

Nachdem Schertenleib eine weitere Stelle vorgelesen hat, folgt eine Fragerunde. Auch seine neue Heimat in Maine kommt zur Sprache. Dort schätzt Schertenleib besonders die unverbaute und weite Landschaft – das berühmte amerikanische Freiheitsgefühl -, die ihm in der Schweiz fehlt. Ausserdem ist er begeistert von den vielen Buchhandlungen. «Begegnungsorte wie die Buchhandlung Bodmer», die in jedem noch so kleinen Ort zu finden sind – eine Tatsache, die den Zuschauern ein hoffnungsvolles Lächeln oder wehmütiges «Ohh» entlockt. Neben einigen politischen Abschweifungen: «Jetzt ereifert er sich wieder, der Schertenleib», kommt er auch auf zukünftige Projekte zu sprechen. Seine Leser dürfen sich als nächstes – zur Überraschung aller – auf einen Krimi freuen; Schertenleib bekennt in dem Zusammenhang, selbst sehr gerne Krimis – besonders von Simenon, der ebenfalls seit neuestem im Kampa Verlag erscheint – und Thriller zu lesen. Während diesbezüglich der Schreibprozess bereits beendet ist, steht ein weiteres Projekt erst in den Kinderschuhen. Unter dem Arbeitstitel Ein Plädoyer für die Faulheit soll ein Buch entstehen, das dazu ermutigen soll, auch einmal unproduktiv zu sein und sich dem Hamsterrad zu entziehen. Mit folgenden Worten wird die Lesung schliesslich beendet: «Wer bereits heute damit anfangen möchte und sich zuhause mit einem guten Buch ins Bett legen will, hat die Möglichkeit Die Fliegengöttin zu erwerben und signieren zu lassen».

«educated guess» – Zürcher Geschichte in Romanform

Die freischaffende Richterswiler Historikerin Dr. Nicole Billeter präsentiert im Rahmen von «Zürich liest» in der Buchhandlung Bodmer am Donnerstag ihren neuen Roman «Wenn dein starker Arm es will».

In einer kurzen Einführung klärt die Autorin die Zuhörenden über ihre Schreibmotivation und die Quellenlage auf. Diese sei nicht umfangreich und basiere vor allem aus Zeitungen und Briefen, so Billeter, die von sich selbst als einer «puritanischen Historikerin» spricht. Sie fügt hinzu, dass es kaum möglich gewesen wäre ein reines Sachbuch über das Alltagsleben von Personen der «working class» zu schreiben und dass ihr Verlag ausserdem der Auffassung war, dass ein Sachbuch zu wenig gelesen würde. Die Romanform aber hätte ihr die Freiheit geboten, recherchierte Fakten in eine Form zu packen, die wenig theoretisch ist und dem Leser trotzdem einen Einblick in die Geschichte rund um den Landesgeneralstreik im Jahre 1918 am linken Zürichseeufer gibt. «Educated guess» nannte Billeter das Prinzip, nach dem ihr Roman aufgebaut ist.

Nach der Einführung lässt die Historikerin den Zuhörer mit der Lesung von fünf Textpassagen in zwei entgegengesetzte Welten eintauchen, die im Sommer und Herbst 1918 aneinandergeraten: Jene von Lina Reichmuth, einem Dienstmädchen, welche durch den befreundeten Fabrikarbeiter Jean über den Misstand der Arbeiterschicht aufgeklärt wird, und jene von Eduard Stucki, einem Fabrikpatron. Lina steht auf der Seite der hart arbeitenden und streikenden Unterschicht, oder wie es Billeter immer wieder ausdrückte, auf der Seite der «Sozis», während Eduard auf der Seite der bürgerlichen und wohlbegüterten Wirtschaftselite anzusiedeln ist. Mit einer überlegten Auswahl der Textpassagen führt Billeter ihre Hauptprotagonisten Lina und Eduard sowie die Nebenrolle des Fabrikarbeiters Jean, genannt «Schang», ein und gewährt damit einen kurzen Einblick in die enorme soziale Unrast, die zum Landesgeneralstreik führten.

Auch wenn Billeter mit ihrem Werk Zürcher Geschichte in Romanform präsentiert und wohl eher Unterhaltung als reine Wissensvermittlung anstrebt, konnte sie deutlich wahrnehmbar nicht ganz aus ihrer Rolle als Wissenschaftlerin heraustreten. Somit blieben die Eckpunkte der Handlungen im Roman «Wenn dein starker Arm es will» dann doch meistens mehr «educated» als «guess».

Übersetzen – Drahtseilakt zwischen Bewusstsein und Intuition

Meine Reise zum Travel Book Shop war kurz und kalt – die Reise, auf die mich die Übersetzerin Viktoria Dimitrova Popova mitnimmt, ist lang und warm. Sie liest aus dem Buch «Elada Pinjo und die Zeit».

Die Reise führt uns nach Bulgarien, wo anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts ein Mädchen – Pinjo – von seiner Mutter auf der Flucht im Wald zurückgelassen wird. Eine Hirschkuh kümmert sich um sie, bald darauf wird sie von einer jungen griechischen Nomadin entdeckt, die sie in ihre Gemeinschaft aufnimmt. Am Schwarzen Meer angekommen, findet Pinjo ihre Mutter wieder und verliebt sich in einen stummen jungen Mann.

 

Viktoria Dimitrova Popova liest uns verschiedene Passagen vor, auf Bulgarisch und Deutsch. Immer wieder gefragt, ob sie nicht ein bisschen langsamer und lauter sprechen könne, sagt Popova, dass sich ihre Zunge verdrehe beim Wechseln zwischen der bulgarischen und der deutschen Sprache. Wir bekämen jetzt performativ mit, was dieser Wechsel bedeute. Auch in den vorgelesenen Passagen geht es immer wieder um Sprache, um die Fähigkeit des Erinnerns der Muttersprache und um das Sprechen anderer Sprachen – um Mehrsprachigkeit.

Was für sie die grösste Herausforderung beim Übersetzen sei, fragt Susanne Schenzle, die Verlegerin des Buches, die das Gespräch moderiert. Für sie als mehrsprachige Person stelle das Übersetzen an sich keine Herausforderung dar, antwortet Popova. Sie habe, obwohl der magisch-realistische Stil des Buches in unserer Zeit etwas eigenartig anmute, sofort eine Verbindung zu diesem Text gefühlt. Gewisse Herausforderungen stelle speziell dieser Text, da er sehr viele Ebenen aufweise, die alle übersetzt werden möchten und müssen. Die Herausforderung dabei sei, für alle diese Ebenen eine mögliche Übertragung zu finden, die oft nicht direkt erfolge. So sei zum Beispiel das Buch in einem bulgarischen Dialekt geschrieben, sie habe sich für eine Übersetzung ohne Dialekt entschieden und musste also eine andere Art finden, den Aspekt zu übertragen. Hier habe sie es durch eine sehr direkte Sprache gelöst. Sie erzählt, wie das Übersetzen ein Drahtseilakt zwischen Bewusstsein und Intuition ist und die Herausforderung schlussendlich darin bestünde, «ich zu sein», in ihrer Mehrsprachigkeit.

Die traditionelle Sicht, Übersetzer müssten von ihrer Zweitsprache in ihre Erstsprache übersetzen, nimmt sie als eindeutig überholt war. Sie übersetzt in ihre sogenannte Zweitsprache, die sie perfekt beherrscht und mit der sie seit ihrer Kindheit vertraut ist. Die Tatsache, dass über dreissig Prozent der Menschen hier in Zürich und in anderen Städten mit mehreren Sprachen aufwachsen, übersehe die traditionelle Einteilung vollkommen.

Jeder, der da war und sie lesen gehört hat, würde unterschreiben, dass sie genau die richtige Übersetzerin für das Buch ist und dass die traditionelle Übersetzungspraktik in Frage gestellt werden sollte.

Tante Leguan geht ab

«Zehn, neun, acht, sieben, sechs und so weiter», zählt Matto Kämpf den Countdown zu seiner eigenen Show, während neben ihm die grossartige Sibylle Aeberli an der Gitarre abrockt. Drei, zwei, eins und los geht die Lesung. Es ist wirklich eine Lesung, denn heute geht’s im Helsinki nicht nur um Gitarreschrammeln, sondern auch um Kämpfs neustes Buch. «Tante Leguan» heisst das Oeuvre und handelt von den Leiden drei junger Kulturjournalisten, die für den «Idiot» die Feder schwingen. Oder eben auch nicht. Denn mit 35 sind die Journis zwar tatsächlich noch jung, doch fühlen sie sich alt und verbraucht (was in Anbetracht ihres Alkoholkonsums nicht erstaunt) und das locker flockige Schreiben von einst ist auch eher stockend und harzig.

Die Lesung ist nun schon in vollem Gange, Kämpf und Aeberli wechseln sich im Vortragen ab, in bestem Schweizerhochdeutsch, und entführen das Publikum in die triste Welt des Grossraumbüros.

Die drei Journis langweilen sich gehörig. Erst als eines Tages ein Brief mit der CD der chinesischen Punkband «Tante Leguan» in die Redaktion flattert, machen sich die drei auf die Spuren dieser ominösen Tante. Sie reisen nach China, spesengedeckt und unter dem Vorwand, eine Sommerreihe zum tiefgründigen Titel «Peking – Einst und Jetzt» herauszugeben. Die Reportagen dazu sind, nach Eigeneinschätzung «unter aller Sau», doch dem Chef ist’s egal und weitere Trips nach Neapel und Lyon werden den «Reiseverführern» finanziert.

Die Journis dinieren, philosophieren und fabulieren. Letzteres mit auffälliger Häufigkeit über Musik. Diese Musik kommt dann auch im Helsinki live zum Zuge. Meisterhaft authentisch wird der im Buch beschriebene schräge und oftmals einfach nur schlechte Sound live vertont, wobei sich Kämpf wie ein Quasimodo über sein Keyboard beugt und Aeberli an der Gitarre abgeht wie ein grosser Rockstar.

Ein Highlight ist dann auch, wo die beiden «80er Jahre spielen», mit den einfachen, doch grandiosen Requisiten von zwei Militärtaschenlampen, mit grünem und rotem Filter.
Das Publikum johlt – je länger die Show dauert, desto mehr – und die Bar wird rege besucht, wobei ein Zusammenhang vermutet wird. Mit einer Witzdichte von ca. 30 Lachern pro Minute ist dann auch die Schenkelklopfer-Falle unbestreitbar da, doch das ist dem Publikum egal. Soll sie doch zuschnappen, sind sich die Zuschauer einig, wir lassen uns gerne fangen. Die Stimmung ist nämlich prima und die Lesung ein voller Erfolg. Prost auf dich, liebe Tante Leguan!

Zwei Heimkinder, 600 Mails, ein Buch

Der stuckverzierte Raum des Schweizerischen Sozialarchivs ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das Publikum wartet gespannt auf den Beginn der Lesung. Im Mittelpunkt des Interesses stehen drei Personen: Diana Bach und Robi Minder, die in den 50er-Jahren in einem Kinderheim lebten, und Lisbeth Herger, die die bewegende Geschichte der beiden Heimkinder in einem Buch festhielt. Lebenslänglich. Briefwechsel zweier Heimkinder ist bereits Hergers drittes Buch im Verlag HIER UND JETZT. Das Werk ist ein Zeugnis der Schweizer Heimgeschichte. Es enthält Porträts von Bach und Minder, Tagebuch- und Quelleneinträge von damals sowie Ausschnitte aus den über 600 Mails, die die zwei in den letzten Jahren austauschten. „Eines Tages standen die beiden bei mir im Büro“, erzählt Herger.

Es folgen unzählige Stunden im Archiv, auf der Suche nach Zeitzeugnissen und zumindest ein bisschen Aufarbeitung. Die ist Bach und Minder nämlich sehr zu wünschen; auch sechzig Jahre später noch leiden sie an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die gefühlskalte, streng religiöse Führung des Heims weckte Ängste in den Kindern, die sie ein Leben lang verfolgten und ihnen einen normalen Alltag unmöglich machten. Bach, Minder und ihre Heimgenossen litten unter willkürlichen, ungerechtfertigten, teilweise auch grausamen Strafen. „Die Heimleiterin sieht alles – und noch viel mehr.“ Die kleine Diana entwickelte eine quälende Neurodermitis, doch anstelle einer Behandlung wurden ihre Arme in Kartonröhren gesteckt, um sie am Jucken zu hindern. Robi meinte überall Gespenster zu sehen; wo psychologische Hilfe, menschliche Wärme und Verständnis angebracht gewesen wären, gab es nur Schläge und harsche Worte.

Atemlos lauscht das Publikum den Zeugnissen dieses Schreckens. Herger ist es gelungen, die Erlebnisse der ehemaligen Heimkinder respektvoll und eindrücklich zu verewigen. Man kommt nicht umhin, Bach und Minder aufrichtige Bewunderung entgegenzubringen für ihren offenen Umgang mit den belastenden Ereignissen, die ihr ganzes Leben geprägt haben. „Es sind keine schönen Geschichten, aber sie müssen erzählt werden“, sagt Herger mit Nachdruck. Wie recht sie hat.

Ein Abend im Zeichen der Seelenpflege

Als ich mich auf den Weg zum Kulturstudio Felix Wicki begebe, weiss ich noch nicht, was mich an diesem Abend erwarten wird, doch als ich die versteckte Eingangstüre öffne, zeigt sich mir eine kleine Welt wie aus einer anderen Zeit.

In einem liebevoll eingerichteten Café erwarten mich zwei bezaubernde Damen, die mich herzlich willkommen heissen. Neben meiner nostalgischen Eintrittskarte erhalte ich eine kleine Kreidetafel, auf die ich meinen Namen schreibe, um damit meinen Platz im Theater im Untergeschosses zu reservieren – obwohl dies bei 7 Gästen auf 24 Plätze eigentlich nicht nötig wäre. Eingedeckt mit einem feinen Züriträumli (Zürcher Mandelgebäck) warte ich bei einem guten Gespräch, bis die Vorstellung beginnt.

Die etwas kuriose Situation, als wir alle unsere Plätze eingenommen haben und auf die Vorstellung von Felix Wicki warten, spitzt sich noch dadurch zu, dass in der grosse Stille, an die man sich heutzutage gar nicht mehr gewohnt ist, sogar das Knurren der Mägen zu hören ist. Schliesslich geht das Licht an und der reformierte Pfarrer Felix Wicki, der das Kulturstudio selbst aufgebaut hat und mit seinen Schätzen – der Ertrag von jahrzehntelanger Sammlertätigkeit – eingerichtet hat, beginnt seine Vorstellung. Die «inwendig gelernten» Gedichte, die er «auswendig» vorträgt, werden dabei immer wieder durch Spieldosen-Melodien unterbrochen. Gemeinsam begeben wir uns auf eine lyrische Reise von Erich Kästner, über Hermann Hesse zu Joseph von Eichendorff. Zwischen den einzelnen Gedichten erzählt uns Wicki in ebenfalls lyrischer Sprache von seinem Verhältnis zur Lyrik und wie er dank den Gedichten in seinem Gedächtnis seine Zeit in der Armee überlebt hat: «Die Lyrik hilft das Leben zu meistern – sie verheisst, dass in den tiefen Schichten des Lebens etwas schlummert». Auch ein Limerick aus Wickis eigener Feder bekommen wir, wie vor einigen Jahren die Zuhörer des Radio SRF, zu hören und mit dem Abendlied von Matthias Claudius entlässt er uns nach einer guten Stunde in die Nacht, denn «der Mond ist aufgegangen»…

Mit einem wohligen Gefühl im Bauch und nachdem sich Wicki persönlich bei jedem Gast bedankt und verabschiedet hat, gehe ich wieder in die Nacht hinaus. Nun ist mir auch bewusst, wieso das Kulturstudio eine handyfreie Zone ist, denn die einzigartige Atmosphäre ist sowieso nicht medial zu erfassen.

Die bösen Geister des Bündnerlandes

Am Freitagabend liest Anita Hansemann, die im Prättigau aufwuchs, in der Helferei aus ihrem Debütroman «Widerschein» vor. Die Lesung wird durch die Musikerin Elisabeth Sulser, welche ebenfalls in Graubünden aufgewachsen ist, mit verschiedenen Mittelalter- und Barockinstrumenten untermalt. Sulsers „Gämshorn“, welches eigentlich aus Kuhhorn hergestellt wird, passt zu  Hansemanns Roman – eine blumige Erzählung über Hansemanns Heimat, die innige Beziehung zwischen der rebellischen Mia und dem jenischen Jungen Viid sowie einer weissen Gämse, die die drei Zeitebenen des Romans verbindet.

Hansemanns Roman entführt die Zuhörenden mit Naturbeschreibungen, Detailreichtum und dialektalen Einflüssen in eine Welt, in welcher tote Raubvögel am Gartenzaun gegen böse Geister helfen, die Sagenwelt und Legenden der Alpen omnipräsent sind und die Bewohner den Launen der Natur – weissen Riesen und Gämsen – ausgeliefert sind.

Zwischen den längeren Lesungen versuchte die Moderatorin Gina Bucher jeweils mit ihren allerdings recht unspezifisch gehaltenen Fragen den etwas langatmigen Vortragsabend aufzulockern. Diese wurden jedoch nur oberflächlich beantwortet, weshalb die vorgelesenen Textpassagen mit ihrer verwirrenden Fülle von handelnden Personen und direkten Reden zusammenhangslos und schlecht gewählt wirkten. Statt sich über Hansemanns bildgewaltiges Schreiben und die gelungene und abwechslungsreiche musikalische Darbietung von Elisabeth Sulser zu unterhalten, blieben beim Verlassen der Helferei nur zwei Gesprächsthemen: Die vermutlich inzestuös bedingten Erkrankungen und Liebesgeschichten der Dorfbewohner im Prättigau und die Gemeinsamkeiten der weissen Gämse mit der alten Ziege von Mias krankem Bruder. Die Lesung bleibt uns damit leider nur als Widerschein* eines eigentlich empfehlenswerten und mitreissenden Debütromans in Erinnerung.

*Widerschein: Helligkeit, die durch reflektiertes Licht (z.B. vom Mond) entstanden ist, auch Abglanz

Von Jolanda Brennwald und Andrina Zumbühl 

Viel Freude mit Harry

Frühstückslesung im Odeon. Ein Protokoll:

8:30 Uhr: Zeitumstellung vergessen. Schockmoment.

10 Uhr: Wir sind eine halbe Stunde zu früh (siehe oben). Am Platz erwartet uns bereits ein Glas Orangensaft. Draussen Kälte und Regen. Immer wieder wollen Unwissende das Odeon betreten, doch nur wer reserviert hat, darf rein.

10:45 Uhr: Das Frühstück (reichhaltig, auch wenn wir zunächst ein Gipfeli zu wenig hatten) wird aufgetragen, die Stimmung unter den Anwesenden hebt sich sogleich.

11 Uhr: Jens Wawrczeck erzählt über das Buch. «Immer Ärger mir Harry» ist ein Roman von Jack Trevor Story, der eigentlich nur aufgrund seiner Verfilmung durch Alfred Hitchcock bekannt wurde. Alle kennen die Story, doch kaum jemand hat das Buch gelesen; in der englischen Originalsprache war es nur noch antiquarisch erhältlich, eine deutsche Übersetzung gab es nicht. Darum hat Wawrczeck seine Schulfreundin Miriam Mandelkow angeregt, eine solche anzufertigen, und hat selbst sogleich eine Hörbuchfassung davon produziert. Nun erscheint der Text auf Deutsch auch in Buchform beim Dörlemann Verlag.

11:15 Uhr: Wawrczeck liest vielstimmig und sehr unterhaltsam aus seiner Adaption vor. Wir hören die Story des mysteriösen Toten Harry, der eines Tages einfach im Wald auftaucht. In der Folge können sich die Bewohnerinnen und Bewohner des angrenzenden Orts kaum entscheiden, wer von ihnen Harry jetzt warum umgebracht hat. Es entspinnt sich ein komödiantischer Kriminalfall mit diversen Slapstickeinlagen und viel Kurzweil. Wir schmunzeln immer wieder.

11:45 Uhr: Das Esskoma macht sich bemerkbar. Noch eine Viertelstunde durchhalten.

12 Uhr: Zeit fürs Mittagessen. Auf geht’s.

Alexandra Wittmer und Simon Leuthold