Das Eidechsenkind / l’enfant lézard

Marie Fleury Wullschleger führt durch die Lesung und das Gespräch mit Autor Vincenzo Todisco und Übersetzer Benjamin Pécoud.

Todisco und Pécoud berichten über ihre Zusammenarbeit bei der Übersetzung von Todiscos Roman Die Echsenkinder. Todisco war überrascht, dass Pécoud konsequent jedes Wort vom Deutschen ins Französische übersetzt hat, wo es bei Übersetzungen oft üblich sei, einige Wörter in der Originalsprache zu belassen. Pécoud begründet dies damit, dass er einer Erzählung, die bereits bilingual sei, nicht noch eine dritte Sprache zumuten wolle. Todisco selbst hat sein Buch danach ins Italienische Übersetzt dabei Pécouds Arbeit oft als Stütze gebraucht. 

Danach führt Fleury zur Lesung einer ersten Passage über. Die Passage befindet sich ganz am Anfang des Buches. An dieser Stelle weist Fleury noch auf die Chatfunktion hin und fordert das Publikum auf, Fragen zu stellen. Dann liest Todisco zuerst die deutsche Passage vor und daraufhin Pécoud dieselbe auf Französisch. 

Auf die Frage, wieso sie genau diese Stelle zur Besprechung gewählt hätten, antwortet Todisco, dass man an dieser Stelle gut sehe, wie schwierig es sein könne aus einer germanische Sprache in eine lateinische Sprache zu übersetzen. Im Buch gehe es ja darum, dass das Kind sich verstecke und Todisco wollte dies sprachlich darstellen. Dazu biete sich das Neutrum gut an, denn der Erzähler müsse nicht klarstellen, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen sei, es werde schlicht «das Kind» genannt. Dadurch entsteht eine gewisse Distanz zum Kind, welche sich in der italienischen Übersetzung nicht übernehmen lässt. Mit dem Wort «il bambino» wird sofort verraten, dass es sich um einen Jungen handelt. Das verändert gleich die ganze Erzählweise des Buches. 

Dieselbe Frage stellt sich auf Französisch. Denn obwohl man mit «l’enfant» diese Distanz beibehalten kann, wird gleich im nächsten Satz durch das Pronomen «il» verraten, dass es sich um einen Jungen handelt. 

Bei der Lesung des nächsten Absatzes kommt bereits eine andere Schwierigkeit zum Vorschein. Die Übersetzbarkeit oder eben Unübersetzbarkeit des Wortes «horchen». 

Das Verb «horchen» impliziert eine gewisse Präzision, man hört aktiv zu, man sucht ein Geräusch oder einen Ton. Im Italienischen hat man «ascoltare» (zuhören) oder «sentire» (hören), aber sei eben nicht dieses horchen. Schlussendlich entschied sich Todisco für «tendere l’orecchio» (das Ohr richten). Diese Konstruktion verlange aber noch eine Präzision: man müsse sagen, wohin man das Ohr richtet, womit die ursprüngliche Knappheit verloren geht.

Pécoud stimmt dem zu. Im Französischen biete sich« écouter attentivement» an, was laut dem Übersetzer ein Problem mit der Eleganz darstellt. Es sei nicht so konzise wie «horchen». «Horchen» habe auch etwas Animalisches, was zur Geschichte gut passe, da das Kind als Eidechse beschrieben wird: Es findet eine Metamorphose vom Kind zur Eidechse statt.

In der folgenden Passage geht es darum zu zeigen, wie die Perspektive konstruiert ist.  

Die Geschichte funktioniert nur, wenn es gelingt, die Perspektive des Kindes beizubehalten. Todisco zieht bei dieser Szene den Vergleich zu Matrjoschka Püppchen. Das Kind ist in einem Schrank, welcher sich in einer Wohnung befindet, diese wiederum befindet sich in einer Stadt in einem fremden Land. Das Kind sieht nur, was man durch den Spalt dieses Schrankes sehen kann. Doch als die Beamten die Wohnung verlassen, droht die Kindsperspektive verloren zu gehen. Todisco löst dieses Problem damit, das Kind die Schritte zählen zu lassen. Hierbei verschiebt sich die Perspektive von der visuellen auf die akustische Ebene, bleibt aber stets die des Kindes. Pécoud fügt an, dass die Perspektive zwar die des Kindes sei, das Kind sei aber nicht der Erzähler. Daher müsse man ein Sprachniveau finden, das weder zu kindlich, noch zu gehoben sei. 

An dieser Stelle nutze ich die Möglichkeit, im Chat eine Frage an den Autor zu stellen:

Lieber Vincenzo, hast du durch die italienische Übersetzung einen näheren Bezug zur Hauptfigur gespürt, da das ja die Muttersprache des Kindes ist?

Todisco bejaht dies. Die italienische Sprache zwinge ihn, näher zum Kind zu gehen, da es die Sprache sei, die das Kind selbst spricht. Die Schwierigkeit bestehe darin, trotzdem die zuvor erwähnte Distanz beizubehalten, die das Kind als animalisch und fremd erscheinen lässt. Obwohl die italienische Sprache die Fremdheit der Familie in der Schweiz besser darstelle, schaffe sie zugleich einen näheren Bezug zur Familie selbst.

In der letzten Passage dieser Lesung geht es darum, wie in den Übersetzungen mit Eigen- und Übernamen umgegangen wird. 

In dieser Passage geht es um die Nachbarn der Familie und deren Hund. Der Erzähler schildert wie Alfons, der Besitzer des Hundes, ihn stets «Kuschdohärä» nennt, obwohl sein Name eigentlich Blacky ist. 

Todisco hat in der italienischen Übersetzung diesen Übernamen beibehalten, weil er ihn als etwas sehr Persönliches empfand, was wiederum auf den Charakter des Nachbarn schliessen lässt.

Pécourd wiederum hat diesen Übernamen jedoch ins Französische übersetzt: «Blakretour» heisst er hier. Er begründet dies damit, dass er den Lesenden den Ursprung des Übernamens nahebringen wolle.

An dieser Stelle ergreift Fleury erneut das Wort, um die Lesung doch recht hastig zu beenden. Die Veranstaltung empfand ich als sehr gelungen. Die Auswahl der Passagen gibt einen guten Einblick in das Geschehen und den Aufbau der Erzählung. Zusätzlich ermöglicht die bilinguale Lesung der Passagen Einsicht in die Arbeit des Übersetzens und die damit verbundenen Schwierigkeiten.

Podium: Wohin führt der Identitätsdiskurs?

Fast genau ein Jahr, nachdem in den USA die Black Lives Matter Proteste infolge des Todes von George Floyd durch Polizeigewalt losgegangen sind, sprechen in diesem Podium drei Autorinnen verschiedenen Hintergrunds über die Identitätspolitik in der Schweiz und in Europa allgemein.

Moderator Martin Dean, selbst Schweizer Schriftsteller und Sohn eines aus Trinidad stammenden Arztes indischer Herkunft sowie einer Schweizerin, erwähnt eingängig, wie die BLM Bewegung auch hierzulande Fuss gefasst habe. Endlich würden auch hier Minderheiten Sichtbar, mehr Programme zur Diversität seien gefragt und in den Verlagen erschienen mehr und mehr POC (People of Colour) als AutorInnen, die auch von einer weissen Leserschaft gelesen würden. Laut Daniel Graf von der Republik geht das Erregungslevel in Sachen Identitätsdiskurs steil nach oben. Entwickelt sich dieser Diskurs in Richtung moralischer Meinungsdiktatur oder sind wir unterwegs zu mehr Sichtbarkeit von Minderheiten und Dekolonisierung der Sprache? Mit dieser Frage eröffnet Dean die Runde und stellt seine Gäste vor.

Als erstes übergibt Dean das Wort an Mithu Sanyal, deutsche Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Schriftstellerin. Sanyal ist ihrerseits Tochter einer Polin und eines Inders. Sie liest eine Passage aus ihrem Roman Identitti vor. Im Buch geht es um eine Düsseldorfer Professorin der Postcolonial Studies, die sich Saraswati nennt, sich die Haut verdunkeln liess und sich als Inderin ausgibt, in Wahrheit aber eine weisse Deutsche ist, die Vera Thielmann heisst und aus Karlsruhe stammt. Im Buch beschreibt Sanyal die Nachwehen des Skandals, als diese Tatsache ans Licht kommt und die Diskussionen, die die Hauptfigur Nivedita mit ihrer Professorin daraufhin führen.

Danach übergibt Dean das Wort an Léonora Miano, eine in Frankreich lebende kamerunische Schriftstellerin. Miano spricht über die Situation in Frankreich, die grassierende Polizeigewalt gegenüber POC und die Tatsache, dass Frankreich diesen Identitätsdiskurs ihrer Meinung nach weniger ignorieren kann als die Schweiz.

Zuletzt übernimmt die Schweizer Schriftstellerin Dorothee Elmiger das Wort. Sie spricht die Tatsache an, dass wir in der Schweiz diese Polizeigewalt zwar weniger kennen, das Racial Profiling aber ein grosses Problem darstelle. Elmiger setzt sich mit der bis anhin wenig behandelten Kolonialgeschichte der Schweiz auseinander. Sie merkt an, dass es keine neuen Fragen sind, die im Zuge der BLM Bewegung gestellt würden, sondern sie sind nun einfach prominenter und auch durch Social Media mehr in öffentliche Bewusstsein rückten. Auf die Frage, ob man sich denn mit diesen Themen schon vor 2020 in der Schweiz auseinandergesetzt habe, antwortet Elmiger bejahend, sie seien jedoch eher in Nischen diskutiert worden und verweist auf die Ausschaffungspolitik. Zuletzt liest Elmiger noch auch ihrem Buch Aus der Zuckerfabrik vor, das von Cultural Appropriation handelt und in dem es um den ersten Schweizer Lottomillionär geht, der sich eine Reise in die Karibik gönnt und von da zwei weibliche Holzfiguren mitnimmt. 

Nach dieser ersten Gesprächsrunde ergreift Dean wieder das Wort und stellt die Frage in den Raum, ob sich POC heute ausschliesslich als solche bezeichnen dürften, oder ob andere Begriffe wie zum Beispiel «dunkelhäutig» noch akzeptabel seien. Sanyal wirft ein, dass die Frage nach Selbstbezeichnung immer sehr schwierig sei. Sie selbst bezeichnete sich als Kind oft als Ausländerin, obwohl sie in Deutschland geboren worden sei. Es sei aber wichtig, dass Begriffe immer auf die Diskriminierungsgeschichte hinwiesen, zugleich aber auch einen Bezug zur Zukunft hätten. Das perfekte Wort werde es wohl nie geben, aber Sanyal findet es gerade auch schön, immer wieder neue Worte zu finden. Das Problem hierbei sei bloss, dass die Leute oft Angst haben, einen Fehler zu begehen und daraufhin vom Diskurs ausgeschlossen zu werden. 

Dean geht dann wieder zu Miano über und spricht das von ihr oft verwendete Wort «afropéen» an. Miano merkt an, dass dieses Wort oft in der Musikbranche Gebrauch findet, wie zum Beispiel im Album From an Afropean perspective der Rapgruppe Cash Crew. Miano hat diesen Begriff dann übernommen und schlägt vor, diesen für die afrikanisch-stämmige Bevölkerung in Europa zu verwenden, die bis anhin noch keinen eigenen Begriff für sich hätten. Ihrer Meinung nach gehe das daraufhin zurück, dass die Bevölkerung Europas im Vergleich zum amerikanischen Kontinent eine bloss weisse Geschichte erzählen könne, wenn sie das wollte, weil die Präsenz von Afroeuropäer*innen in der Gesamtheit der europäischen Geschichte weniger weit zurückgehe und auch zahlenmässig kleiner sei. Sanyal stimmt hier zu, dass Namen für diese hybriden Existenzen extrem wichtig seien. 

Abschliessend stellt Dean nun die Frage nach diesen Neubenennungen und was passiert, wenn sie umgangssprachlich werden. Führt diese Betonung von Minderheiten zu einer neuen Verhärtung von Identität? Ist diese Bewegung ein Echo einer vollkommen zersplitterten Öffentlichkeit, wie wir sie in den Medien erfahren? Sanyal sieht die Debattenkultur sehr wohl als gefährdet an und appelliert an eine Rhetorik des Zusammenhalts. Was es brauche, sei die Bereitschaft einander zuzuhören, was andere zu sagen hätten, darüber zu reflektieren und manchmal eben auch unangenehme Sachen zu hören. Nur dadurch könne der Identitätsdiskurs weniger aggressiv geführt werden.