Ein Dorf auf dem Seziertisch

Balg. Ein Wort, eine Silbe nur, ist Titel von Tabea Steiners Debütroman, aus dem die junge Autorin heute in Solothurn gelesen hat. Gleich zu Beginn der Lesung darf Steiner Vorschusslorbeeren ernten: Als herausragenden Erstling preist Moderatorin Gabrielle Alioth Steiners ersten Roman an.

Steiner stellt zunächst die wichtigsten Figuren in wenigen Worten vor und steigt dann direkt in den Text ein. Sie liest konzentriert, bedacht. Weit weg ist alles Gekünstelte; Steiner trägt ihren Text vor, als würde sie auf der Wohnzimmercouch von Freund*innen lesen und nicht im gut gefüllten Solothurener Stadttheater. Ihre luzide, schnörkellose Sprache steht dabei in einem Kontrast zur schweren, klassischen Ausstattung des Theatersaals.

Steiner bietet keine aufregende Performance, lässt ihrem Text aber genau dadurch Raum zur Entfaltung. Sie liest einen Ausschnitt, der zu Beginn des Romans angesiedelt ist: Langsam entspinnt sich Unmut zwischen Antonia und Chris, die vor Kurzem erst zurück in Antonias Heimatsdorf gezogen sind. Beide sind sie überfordert mit ihrer Rolle als Eltern eines kleinen Bubs; beide kämpfen sie für sich. Das Teamhafte kommt dem Paar abhanden. Daneben schwelen alte Konflikte unter der heilen Oberfläche des Dorfgefüges und tragen zu einer gedrückten Stimmung bei. Es wird viel geredet, nur richtig miteinander sprechen, das tun die Figuren in Steiners Roman nicht. „Schweigen halte ich eigentlich für strukturelle Gewalt“, hält Steiner dann auch im Gespräch mit Gabrielle Alioth fest.

Steiner, das wird deutlich, versteht sich nicht nur Autorin, sondern auch als aufmerksame Beobachterin sozialer Gefüge. In Balg leuchtet sie die zugleich offensichtlichen und tabuisierten Missstände einer dörflichen Gesellschaft so gnadenlos aus, dass einen beim Lesen bisweilen ein Gefühl voyeuristischer Scham befällt. Ausserdem ist da diese Fassungslosigkeit: Immer wieder fragt man sich, wieso die Figuren in ihren festgefahrenen Mustern ausharren – wieso sie sich in die Rollen fügen, die an sie herangetragen werden.

Sobald die letzten Worte Steiners im Theatersaal verklungen sind, hat man den Impuls laut aufzuatmen, um das Gefühl der Beklemmung loszuwerden. Lesung und Lektüre von Steiners Balg sind alles andere als ein Spass. Zurecht wurde der Roman der jungen Ostschweizerin aber als beeindruckendes Debüt gelobt: Steiner hat einen wachen Blick und eine scharfe Feder; ihr Erstling ist auf leise Weise genauso erschreckend wie überzeugend.

Schwindelnde Leitern und knisternde Gletscher

Der Landhaussaal ist gut gefüllt, leises Schwatzen lässt sich vernehmen; vor dem Fenster rauscht die Aare in der Mittagssonne. Auf der Bühne hat der Walliser Schriftsteller Rolf Hermann bereits Platz genommen. Eine Frage scheint im Raum zu stehen: Wie kann man an diesem – beinahe aufdringlich lieblichen – Sommertag ein abgelegenes Walliser Bergdorf ins belebte Solothurn bringen?

Das erste Wort hat Moderator Pablo Haller. Pointiert fasst er zusammen, was Rolf Hermanns Texte ausmacht: „Das nebensächlich Erlebte erweist sich als das Wesentliche“. Dann ist Hermann selbst an der Reihe, er macht den Einstieg mit einem Gedicht aus seinem ersten Spoken-Script-Band Das Leben ist ein Steilhang. Sofort gelingt es ihm, das Publikum in den Bann seiner Sprache zu ziehen. Dies ist einerseits der Lautlichkeit des breiten Walliserdialekts geschuldet, in dem Hermann den Text vorträgt, andererseits aber auch Hermanns Präsenz. Für Hermann, der auch Teil einer Mundart-Combo ist, findet Literatur nicht nur im stillen Kämmerchen statt. Seine Worte entfalten ihre ganze Wirkung gerade auf einer Bühne.

Darauf trägt Hermann seinen Lieblingstext aus dem Prosaband Flüchtiges Zuhause vor. In Flüchtiges Zuhause versammelt Hermann Erzählungen rund um das Aufwachsen in einem entlegenen Walliser Dorf. Hermann und der Text sind während der Lesung ganz eins; sie scheinen sich in- und auswendig zu kennen ohne dabei voneinander gelangweilt zu sein. Hermann nimmt sich Zeit für jede Silbe. Mit feiner Selbstironie schildert er den Stolz nachdem Überwinden der eigenen Höhenangst beim steilen Aufstieg über die Albinen-Leitern. Aus dem Publikum lässt sich immer wieder leises Lachen, fast eher ein hörbar gewordenes Schmunzeln, vernehmen.

Bereitswillig gibt Hermann darauf Auskunft auf einige Zwischenfragen Hallers. Er bestätigt den autobiographischen Einfluss auf die Erzählungen in Flüchtiges Zuhause, hebt aber auch das immer vorhandene „Moment der Fiktion“ hervor. Frei erzählt Hermann schliesslich von seinen Erfahrungen als Schafhirt auf der Alm und schöpft dabei aus dem Vollen. Während Flüchtiges Zuhause vor allem auch vom Rhythmus der Sprache und dem Klang der Worte lebt, tritt dieser Aspekt beim freien Erzählen selbstredend zurück. Dies vermag Hermann aber durch seinen geschärften aber liebevollen Blick auf die menschlichen Schwächen und die Skurrilitäten des Alltags wettzumachen.

Nach einer weiteren Kostprobe aus seinem Prosadebüt wird die Lesung mit nachdrücklichem Applaus aus dem Publikum abgerundet. Vor der Bühne bildet sich eine Traube an Zuhörer*innen, die noch einige Worte mit dem Autor wechseln wollen; draussen rauscht die Aare. Deutlich wird: Hermann ist es spielend leicht gelungen, das entlegene Walliser Dorf nach Solothurn zu verfrachten; das Auftauchen aus dieser Bergwelt gestaltet sich auf jeden Fall als schwieriger als das Versinken darin.