«Die menschliche Phantasie ist armselig»

Die erste Lesung des Tages beginnt mit einem Verlust: Judith Schalansky beteuert, um diese Tageszeit hätte sie unter normalen Umständen sicher schon den fünften Kaffee getrunken. Doch dafür liest sie für uns heute im gut besetzten Landhaussaal aus ihrem neuen Verzeichnis einiger Verluste. Das Sammelsurium verschiedener Texte handelt nämlich vom Verschwinden – genauer gesagt, von Tieren, Orten, Legenden oder sonstigen Dingen, die irgendwann einmal vom Erdboden verschluckt worden sind. Wie Schalansky selber formuliert, holen ihre Texte diese Dinge narrativ wieder in die Gegenwart zurück, machen das Abwesende im Text wieder anwesend.

Ein lustiger Zufall ist es daher, dass die Kurzgeschichte, die sie uns vorliest, im Prinzip auch das Verzeichnis literarischen Verlustes ist: Sie handelt von einer Schriftstellerin, die sich in eine Hütte ins Wallis zurückzieht, um dort ein Monsterverzeichnis anzufertigen. Schalansky erzählt damit von ihrem eigenen, gescheiterten Schreibprojekt. Ja, sie hält sich wirklich an ihr Programm. Ihr Schreibprozess illustriert genau das, was ihre Texte inhaltlich tun: Sie machen Vergangenes, Verschwundenes wieder präsent. Doch wie kam sie ursprünglich auf die Idee, ein Monsterverzeichnis zu schreiben? Schalansky ist vom «bürokratischen» Schreibstil fasziniert. Genauso auch von der Idee des Archivs. Das fange schon bei einfachen To-do-Listen im Alltag an: Man schreibe doch etwas auf, archiviere es also, um es nicht zu vergessen. Doch wenn man sich das genauer überlege, sei es doch gerade andersherum: Man schreibe etwas auf, damit man es vergessen könne. Und diese entstandene Leerstelle gelte es dann später wieder poetisch zu füllen. «Die Liste ist eigentlich der Beginn von Poesie.» Ein interessanter und durchaus provokanter Standpunkt, finde ich, in Anbetracht all der Schreiberlinge, die um mich herum im Publikum sitzen.

Man merkt: Auf gewisse Weise ist Judith Schalansky auch Naturwissenschaftlerin. Dazu passt, dass sie alle Illustrationen und vor allem die Karten in ihren Büchern selber katalogisiert und zeichnet. Auch hat sie selber eine sehr genaue Deutung ihrer Texte im Kopf. Bei ihren anfänglichen Recherchen zum Monsterverzeichnis sei sie zudem zur Erkenntnis gelangt, dass die Evolutionsgeschichte viel reichhaltiger sei als die menschliche Phantasie. Wer schliesslich ein Einhorn als «übersetztes Rhinozeros» abzustempeln versucht, kann ja nicht viel Phantasie haben.

Das findet Anstoss, im Publikum gibt es einige Lacher. Judith Schalansky jedenfalls findet ihre poetische Inspiration in ebendieser Evolution.

Von Einhörnern und Verzeichnissen

Obwohl es die erste Lesung des Tages ist, ist der Saal gut gefüllt. Nachdem Lucas Marco Gisi Judith Schalansky und ihr Werk vorgestellt hat, beginnt die Autorin mit der Lesung eines Kapitels aus ihrem Verzeichnis einiger Verluste – es spielt in den Walliser Alpen und besitzt durchaus autobiografische, autopoietische Züge. Beim Lesen spielt sie deutlich vernehmbar mit dem Rhythmus der Worte und der Geschwindigkeit des Vortrags.

Sie erzählt, dass sie zuerst einen Naturführer über Monster habe schreiben wollen, doch das Vorhaben sei gescheitert. Glücklicherweise habe sie das Projekt dann doch noch in einen Text einfliessen lassen können. Dieser handle nicht nur von der wunderbaren Landschaft in der Schweiz, sondern auch von Ängsten. Das Vakuum sei das Schlimmste überhaupt, da sei es besser, man stelle sich Monster vor. Das sei schliesslich besser als nichts, so Schalansky. Doch auch der Erzählerin will es nicht gelingen, über Monster zu schreiben.

Judith Schalansky fragt das Publikum und Lucas Marco Gisi, ob sie zu rätselhaft schreibe? Mit einem Lachen fügt sie hinzu: «Das ist der zweitschwierigste Text im Buch.» Daraufhin fragt sie: «Haben Sie gelesen, dass die Frau in der Erzählung schwanger werden wollte?» Lucas Marco Gisi verneint, worauf die Autorin schmunzelt. Er habe die Menstruationsblutungs-Stelle eher als ein Naturerlebnis gelesen, fügt Gisi hinzu. Schalansky erzählt, dass die Übersetzerinnen – abgesehen von der schwedischen und norwegischen – dies auch nicht herausgelesen hätten. Das liege vielleicht an der Nähe zu ihrer Heimat; sie sei nämlich in Greifswald aufgewachsen, im Norden von Deutschland. Das Publikum lacht mit ihr und sie fügt hinzu, dass jede Lesart ihrer Texte die richtige sei.

Und was habe es mit den Einhörnern auf sich? Sie finde Einhörner dämlich, aber musste sie trotzdem irgendwie in ihren Text einbauen. Wie sie das gemacht habe? Das Einhorn sei als eine Tätowierung auf der Hand einer Supermarktkassierer wiederzufinden. Sie betont, das sei das Schöne an der Literatur. Auch als sie nicht wusste, wie sie in einem Verzeichnis eine Mondlandung einbauen sollte. Es musste schliesslich eine besondere Mondlandung her. Wie sie das gelöst habe? Sie erzählt lachelnd, sie habe einfach einen Absatz gemacht und weiter geschrieben. Das sei eben Literatur – sie lasse spielerischen Freiraum.

Was sie vermisse, seien Verzeichnisse über Verluste von Dingen. Die Literatur sei wie eine Wunderkammer und ihre Recherchen seien immer wie eine Art Privatforschung. Sie stöbere gerne in Kartenabteilungen, um sich Anregungen für ihre Werke zu holen.

Was sie noch über ihr Buch zu sagen habe? Sie zeigt die schwarzen Seiten, welche die Verzeichnisse einteilen. Auf den Seiten sind schiefergraue Skizzen abgebildet, welche jeweils für das folgende Verzeichnis stehen. Und sie erzählt schmunzelnd, dass man normalerweise erst sterben müsse, um eine Fadenbindung zu erhalten. Doch sie habe dies für ihr Buch beim Suhrkamp-Verlag durchgesetzt.

Nachdem sie zum Schluss eine kompliziertere Stelle vorgelesen hat, nennt sie den Text eine Zumutung. Eine schöne Zumutung aber, fügt sie mit einem Lächeln an. Es gäbe auch niederschwellige Texte in ihrem Buch. Sie würde ja weiter lesen, aber sie habe nur 45 Minuten Zeit bekommen.

Für mich vergingen die Minuten wie im Flug und es steht ausser Frage: Wer so ernst und geschickt schreibt und dabei trotzdem so lustig über seine Texte redet, den muss man einfach mögen!