Von Einhörnern und Verzeichnissen

Obwohl es die erste Lesung des Tages ist, ist der Saal gut gefüllt. Nachdem Lucas Marco Gisi Judith Schalansky und ihr Werk vorgestellt hat, beginnt die Autorin mit der Lesung eines Kapitels aus ihrem Verzeichnis einiger Verluste – es spielt in den Walliser Alpen und besitzt durchaus autobiografische, autopoietische Züge. Beim Lesen spielt sie deutlich vernehmbar mit dem Rhythmus der Worte und der Geschwindigkeit des Vortrags.

Sie erzählt, dass sie zuerst einen Naturführer über Monster habe schreiben wollen, doch das Vorhaben sei gescheitert. Glücklicherweise habe sie das Projekt dann doch noch in einen Text einfliessen lassen können. Dieser handle nicht nur von der wunderbaren Landschaft in der Schweiz, sondern auch von Ängsten. Das Vakuum sei das Schlimmste überhaupt, da sei es besser, man stelle sich Monster vor. Das sei schliesslich besser als nichts, so Schalansky. Doch auch der Erzählerin will es nicht gelingen, über Monster zu schreiben.

Judith Schalansky fragt das Publikum und Lucas Marco Gisi, ob sie zu rätselhaft schreibe? Mit einem Lachen fügt sie hinzu: «Das ist der zweitschwierigste Text im Buch.» Daraufhin fragt sie: «Haben Sie gelesen, dass die Frau in der Erzählung schwanger werden wollte?» Lucas Marco Gisi verneint, worauf die Autorin schmunzelt. Er habe die Menstruationsblutungs-Stelle eher als ein Naturerlebnis gelesen, fügt Gisi hinzu. Schalansky erzählt, dass die Übersetzerinnen – abgesehen von der schwedischen und norwegischen – dies auch nicht herausgelesen hätten. Das liege vielleicht an der Nähe zu ihrer Heimat; sie sei nämlich in Greifswald aufgewachsen, im Norden von Deutschland. Das Publikum lacht mit ihr und sie fügt hinzu, dass jede Lesart ihrer Texte die richtige sei.

Und was habe es mit den Einhörnern auf sich? Sie finde Einhörner dämlich, aber musste sie trotzdem irgendwie in ihren Text einbauen. Wie sie das gemacht habe? Das Einhorn sei als eine Tätowierung auf der Hand einer Supermarktkassierer wiederzufinden. Sie betont, das sei das Schöne an der Literatur. Auch als sie nicht wusste, wie sie in einem Verzeichnis eine Mondlandung einbauen sollte. Es musste schliesslich eine besondere Mondlandung her. Wie sie das gelöst habe? Sie erzählt lachelnd, sie habe einfach einen Absatz gemacht und weiter geschrieben. Das sei eben Literatur – sie lasse spielerischen Freiraum.

Was sie vermisse, seien Verzeichnisse über Verluste von Dingen. Die Literatur sei wie eine Wunderkammer und ihre Recherchen seien immer wie eine Art Privatforschung. Sie stöbere gerne in Kartenabteilungen, um sich Anregungen für ihre Werke zu holen.

Was sie noch über ihr Buch zu sagen habe? Sie zeigt die schwarzen Seiten, welche die Verzeichnisse einteilen. Auf den Seiten sind schiefergraue Skizzen abgebildet, welche jeweils für das folgende Verzeichnis stehen. Und sie erzählt schmunzelnd, dass man normalerweise erst sterben müsse, um eine Fadenbindung zu erhalten. Doch sie habe dies für ihr Buch beim Suhrkamp-Verlag durchgesetzt.

Nachdem sie zum Schluss eine kompliziertere Stelle vorgelesen hat, nennt sie den Text eine Zumutung. Eine schöne Zumutung aber, fügt sie mit einem Lächeln an. Es gäbe auch niederschwellige Texte in ihrem Buch. Sie würde ja weiter lesen, aber sie habe nur 45 Minuten Zeit bekommen.

Für mich vergingen die Minuten wie im Flug und es steht ausser Frage: Wer so ernst und geschickt schreibt und dabei trotzdem so lustig über seine Texte redet, den muss man einfach mögen!

 

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