„Traut euch und probiert aus“ – Autorengespräch mit Tabea Steiner

Tabea Steiner hat an den Solothurner Literaturtagen ihr Erstlingswerk „Balg“ gelesen. In den vergangenen Jahren hat sie selbst viele Literaturfestivals organisiert und sogar initiiert. Am heissen Sonntagnachmittag hat sie sich viel Zeit für meine Fragen genommen. 

Du warst das erste Mal als Autorin am Literaturfestival dabei, vorher hast du Festivals organisiert und initiiert. Wie war der Perspektivenwechsel für dich?

Sehr schön. Als Organisatorin stehe ich stetig unter Strom, was hier zwar auch der Fall ist, aber die Verantwortung ist nicht so gross. Als Organisatorin nehme ich jede Kritik und jeden Zwischenfall sofort wahr und auf. Dadurch, dass ich beide Seiten kenne, schätze ich die Arbeit der Organisatoren und Organisatorinnen hier sehr und weiss die kleinen Details zu schätzen. Das Publikum in Solothurn ist sehr wohlwollend, das ist unglaublich schön.

Wir, die hier am Blog arbeiten, studieren alle Germanistik. Ich wage zu behaupten, dass alle Germanistikstudentinnen und -studenten irgendwie den Wunsch hegen, ein eigenes Buch zu veröffentlichen. Hattest du diesen Wunsch schon immer, ein eigenes Buch zu schreiben?

Der Wunsch war schon immer da. Es war sogar der Grund, weshalb ich Germanistik studieren wollte. Ich wollte mehr wissen, mich auskennen und austauschen. Ich habe dann im Studium schnell gemerkt, dass Germanistik und literarisches Schreiben nicht viel miteinander zu tun haben. Das Studium hat mir dennoch viel gebracht und mein analytisches Denken weiterentwickelt. Kurz nach Beginn meines Studiums wurde das Literaturinstitut in Biel eröffnet. Ich habe kurz überlegt, mich dort zu bewerben, habe mich aber schlussendlich dagegen entschieden und mein Germanistikstudium beendet. Darüber bin ich im Nachhinein auch froh. Ich glaube aber, dass die Leute, die am Literaturinstitut waren, es einfacher haben, ein Selbstverständnis als Autor oder Autorin zu entwickeln. Das Aufnahmeverfahren mit einzuschickenden Texten legitimiert die Bewerberinnen und Bewerber bereits. Ansonsten muss man sich gewissermassen selber dazu befähigen oder ernennen. Ich habe früher immer gesagt, dass ich schreibe, also: dass ich Autorin bin. Seit ich das Buch zum ersten Mal in den Händen hatte, sage ich, dass ich Schriftstellerin bin. Ich finde, dass das ein schöner Begriff ist. Dazu beigetragen hat sicher, dass ich ein Stipendium am LCB bekommen habe, was für mich extrem wichtig war.

Du hast von dem Moment gesprochen, in dem du das Buch das erste Mal in den Händen hattest. Wie lange hat der Prozess gedauert, bis du das Buch das erste Mal in den Händen hattest?

Ziemlich genau sechs Jahre.

War es eine bewusste Entscheidung, in deinem Roman keine Kapiteleinteilungen zu machen, sondern nur Absätze als Marker für Fokalisierungswechsel?

Die Entscheidung fiel, als Timon (Anm.d.Red.: der Protagonist des Textes) dazugekommen ist. Da verspürte ich den Wunsch, alle zur Sprache kommen und ihre eigene Perspektive erläutern zu lassen. So hat sich die Frage nach den Kapiteln eigentlich erledigt. Nicht zuletzt konnte ich damit Timons Entwicklung aufzeigen. Kapitel wären unnötige Brüche gewesen. Es gibt ja immer noch die Absätze. Anfangs wollte ich nach jedem Absatz eine neue Seite beginnen, aber so konnte ich die unterschiedliche Perspektivierung auf das gleiche Geschehen besser darstellen. Ich habe mich da sehr am Film orientiert.

Valentin ist der Postbote im Dorf. Postboten bringen normalerweise eine Botschaft. Welche Botschaft übermittelt Valentin?

Das ist eine spannende Frage. Ich glaube, seine Botschaft bestünde in der Bereitschaft, Haltungen zu überdenken, sie sogar zu ändern. Für mich ist er als Briefträger (und auch als Lehrer) vor allem wichtig, da er extrem viel weiss, alle kennt, die Mechanismen versteht und gleichzeitig ein Aussenseiter ist.

Dein erstes Buch ist jetzt abgeschlossen. Hast du schon neue Projekte geplant, von denen du erzählen kannst?

Ich habe bereits vor etwas mehr als einem Jahr mit einem neuen Projekt begonnen. Die Idee hatte ich schon länger und ich arbeite momentan vor allem daran. Ich freue mich besonders auf diesen Sommer, wo ich im Rahmen eines Stipendiums für drei Monate am LCB schreiben darf und mich ganz auf dieses Projekt konzentrieren kann. Gerade um Figuren entwickeln zu können, tut mir so eine intensive Schreibphase sehr gut. Das Thema des neuen Projektes hat sehr viel mit meiner eigenen Biografie zu tun, das ist schwierig. Zunächst habe ich begonnen, über eine Figur in der dritten Person zu schreiben. Das hat sich aber noch zu sehr nach mir selbst angefühlt. Dann habe ich es mit der Ich-Perspektive versucht. So konnte ich mich in eine Figur versetzen, die ich mir ausgedacht habe, die aber nicht mehr ich bin. Viele Charakterzüge der Figur kenne ich, dennoch bin ich es nicht. Das war für mich ein sehr spannender Effekt.

Merkst du eine Veränderung deines Stils bei verschiedenen Projekten?

Ich denke ja, ich hoffe es jedenfalls. Die Figuren sind völlig verschieden mit unterschiedlichen Geschichten. Das sollte sich meiner Meinung nach auch in der Sprache niederschlagen. Ich denke, dass Themen sich ihre Formen nehmen. In meinem neuen Projekt gibt es nur einen Perspektivenwechsel. Der Rest wird aus der Perspektive einer Figur erzählt, in einem Schwall sozusagen. Aber es ist ähnlich szenisch aufgebaut. Schon bei Balg hatte ich je nach Perspektive andere Schreibstile. Grundsätzlich habe ich meinen Stil, der sich zwar stetig weiterentwickelt, sich aber nie völlig verändert.

Philipp Theisohn meinte, ich muss dich unbedingt nach Erika Burkart fragen…

(Lacht) Aha. Also, Erika wurde 1922 geboren und ist 2006 gestorben. Sie würde also bald 100 Jahre alt werden. Sie war Lyrikerin und hat sich stark mit der Natur befasst, hat aber auch Romane geschrieben. Ich finde, dass sie eine sehr spannende Position hat. Zudem wurde mit ihr etwas ganz Seltsames gemacht. Sie hatte lange, blonde Locken, später lange, weisse Locken, sah immer etwas unterdrückt aus. Sie war damit das Bild der Lyrikerin, was sich auch sehr stark auf ihre Rezeption niedergeschlagen hat. Jetzt ist sie in Vergessenheit geraten. Mein Text von gestern Abend (a.d.R. Tabea Steiner las am Samstag Abend im Rahmen des Festivals einen Text zum Thema „Alte Meisterinnen“) sagt eigentlich aus, dass man sie wieder mehr beachten sollte, ihre Texte hervornehmen und genau anschauen. Sie war für mich immer die Lyrikerin der Schweiz. Ich habe sie einmal zum Literaturfestival in Thun eingeladen, da war sie aber leider krank und eingeschneit. Sie wird oft als Mythische, sehr esoterisch beschrieben, schrieb viel Übersinnliches und nahm dies auch sehr ernst, war aber eine unglaublich wache, klare Zeitgenossin mit klaren politischen Zügen. Sie geht zum einen vergessen, wird aber auch extrem verniedlicht. Ich finde, Philipp Theisohn sollte zu ihr ein Symposium an der Uni Zürich veranstalten.

Möchtest du zum Abschluss noch etwas erzählen oder sagen?

Ja, du hast ja gesagt, dass es viele Germanistikstudentinnen und -studenten gibt, die schreiben möchten. Die will ich ermuntern. Denkt euch weg vom Studium und probiert es aus. Die Theorie aus dem Studium könnt ihr dann beim Überarbeiten wieder nutzen. Der Schreibprozess dauert, sechs Jahre in meinem Fall sind lang, aber davon darf man sich nicht entmutigen lassen. Ich würde mich freuen, in einigen Jahren Bücher von euch zu lesen.

F wie Familie

Die ersten Tage im Kindergarten überstehen, sich nach der Schule mit Freunden verabreden, der Fragerei der Verwandten beim jährlichen Treffen mit diplomatischen Fragen ausweichen – Aufwachsen ist nicht leicht.

Im Literaturgespräch von Tabea Steiner und Rolf Hermann dreht sich alles ums Thema Familie, Erziehung und Erwachsen werden. Dazu haben die beiden Autoren reichlich zu sagen – hoffentlich auch, wo sich die Romane der beiden, Balg beziehungsweise Flüchtiges Zuhause, mit eben dieser Thematik auseinandersetzen.

„Die Menge macht´s nicht aus, sondern, dass es schön wird“, meint der Moderator am späten Sonntagnachmittag in die schmale Runde, die sich in der Säulenhalle zusammengefunden hat.

Schnell kristallisiert sich die leitende Frage der Diskussion heraus. Wie definiert sich Familie? Die verschiedensten Theorien werden daraufhin angerissen: Blutsverwandtschaft, gemeinsame Erlebnisse, Familienmythen und Geheimnisse, Rituale. Und wie konzipiert sich eine literarische Familie?

Als Grundlage dient je eine Passage aus den Texten von Tabea Steiner und Rolf Hermann. Während die fiktive Familie in Steiners Roman durch Zerrüttung strukturiert ist und den spärlichen Zusammenhalt in ebendieser Zerrüttung findet, basiert Hermanns Roman auf Anekdoten der eigenen liebevollen Familiengeschichte. Leider misslingt es dem Gespräch, eine gemeinsame Basis für eine interessante Diskussion zu finden und die 45 Minuten enden ohne eine Verknüpfung von Fiktion und Realität.

Dennoch zeigt sich das Publikum äusserst zufrieden und lobt in der anschliessenden Fragerunde den Einblick in die Werke.

Zwiegespräch: zwiegespalten.

Unter Literatur lässt sich so einiges fassen. Eine weites Feld, sozusagen. Da haben Witze, wie dieser eben, ihren Platz, ohne andere Bereiche einzuengen. Natürlich überlagern sich Bezirke an Schnittstellen. Plötzlich erweckt vergeblich unterdrückte Lacher, was andernorts die Empfindsamkeit rührt. Anderes mischt sich weniger gut, aber im Grunde ist doch alles Literatur, was im Solothurner Programm steht. Hinter allen Texten sitzen doch Schreiberlinge, die dasselbe machen. Tastatur oder Stift; einerlei. Genügend Gemeinsamkeit für einen Dialog. So würde man meinen.

„Häsch öppis vu dere glese?“
„Der Kampf sagt mir nix.“
„Was schriiebt denn die eso?“

Die Säulenhalle im Landhaus füllt sich mit zwei Lagern. Die einen lesen Milena Moser, die anderen Matto Kämpf. Kaum Doppelagentinnen, sicher keine Überläufer. Der Blumenstrauss ist derselbe wie bei den anderen Veranstaltungen. Wir sind noch am gemeinsamen Festival.

Der Berner Oberländer und die Ausgewanderte (Santa Fe, New Mexico) lesen die ersten zwei Seiten aus dem Buch der jeweils anderen Person. Der berüchtigt Humorvolle liest etwas Neues aus Land der Söhne heraus. Witz, der für stumme Leserinnen unter dem Text liegen geblieben war. Moser tritt mit Gefühl an die Figuren aus Tante Leguan heran, findet die aber nicht – und platzt vor Lachen. Beide lesen gegen den Text, aber beide Texte wirken noch immer stark und kräftig. Sie halten es aus. Widerspenstig.

Dann müssen Kämpf und Moser die Bücher weglegen. Ohne Schild wirken sie ausgeliefert. Sich gegenseitig ausgeliefert und dem Schweigen. Unmoderiert. Anläufe starten beide. Gutmütige Versuche, das Gegenüber auf ein Gespräch mitzunehmen. Aber während Kämpf den kurzen Witz einschlägt, steht Moser mit Pathos bepackt daneben, bereit für Gratwanderungen durch menschliche Abgründe. Also stolpern beide über oberflächliche Gemeinsamkeiten irgendwohin, aber nicht auf einen common ground zu.

Kämpf: „Endlich mol es Thema! Het en Moment bruucht. Literatur isch immer im Weg.“1

Beide halten Katzen. Ausserdem haben beide Söhne, die Videospiele zocken. Dann sitzen sie wieder im betretenen Schweigen oder reden darüber hinweg.

Moser: „Wetsch du Kaffi bstelle?“

Kämpf: „Wie lang geit’s denn no?“

Das Festival hat die Kombo gewählt, ihnen das jeweils andere Buch zugeschickt. Auf dieser einen Bühne finden sich die zwei aber nicht, aller Anstrengung zum Trotz. Ein Experiment, das schiefging. Und das darf es auch. Das Publikum nimmt’s niemandem übel, wenigstens waren die beiden witzig. Man hätte über zwei verschiedene Blicke auf die Schweiz sprechen können. Auch über die Wichtigkeit der eigenen Sprache. Aber vielleicht hätte sich auch daraus nichts entsponnen.

Es sind zwei Sorten Literatur, die für sich funktionieren – aber nicht zusammen. Manchmal sind die Teile eben doch mehr als das Ganze.

 

1 Ich entschuldige mich für unauthentisch transkribiertes Bärndütsch und fehlerhafte Zürischnurre.

Worte wider die Vergänglichkeit

Im Gespräch mit dem Schweizer Buchjahr erzählt Schriftsteller Rolf Hermann von der produktiven Kraft seiner Todesphobie, dem zwiespältigen Begriff der Heimat und der fragilen Grenze zwischen Realität und Fiktion.

In Deinem Prosadebüt Flüchtiges Zuhause versammelst Du Erzählungen rund um das Aufwachsen im Wallis. Das Wallis erscheint dabei immer wieder als Fixpunkt, als das heimelig Vertraute. Ist Flüchtiges Zuhause etwa ein Heimatroman?

„Heimatroman“ ist ein schwieriger Begriff. Ich würde sagen, es ist ein Herkunftstext, oder vielmehr ein Band, der Erzählungen zu Dingen versammelt, die mir sehr vertraut sind. Das Konzept „Heimat“ ist politisch aufgeladen. Ich hoffe, den Begriff mit meinen Erzählungen aus der unschönen Ecke herausziehen zu können, die Heimat als etwas Ausgrenzendes konzipiert. Ich halte es für absurd, diesen Begriff als Argument für das Ziehen von Grenzen in der politischen Debatte anzuführen. Für mich steht Heimat für etwas Grenzüberschreitendes, Pluralistisches. Vielleicht wäre es ohnehin sinnvoll, den Begriff der „Heimat“ mit dem Plural „Heimaten“ zu ersetzen. Ich selber habe mehrere Heimaten und die sind alle offen und laden Menschen zum Verweilen ein.

Bereits der Titel Deines Erzählbandes verweist auf das Flüchtige, sich Auflösende. Welche Rolle spielt das Motiv der Vergänglichkeit für Dein literarisches Schaffen?

Die Vergänglichkeit ist für mich ein wichtiger Impetus fürs Schreiben. Mit den Worten, mit dem Schreiben versuche ich diesem unaufhaltsamen Prozess etwas entgegenzusetzen. In meinen Texten kommen immer wieder Figuren vor, die von Menschen inspiriert wurden, die mir nahestehen oder nahegestanden sind. Durch meine Texte kann ich diesen Menschen ein längeres Leben verleihen und ihnen in einer unglaublichen Intensität nahekommen – auch wenn sie bereits verschwunden sind.

Wird das Schreiben als Versuch, der Erosion durch die Zeit etwas entgegenzusetzen, in Deinem Erzählband nicht auch demontiert in der Figur der Grossmutter? Grossmutter hängt das Schreiben mit dem Alter schliesslich an den Nagel, weil sie ihre eigene zittrige Schrift nicht mehr lesen kann. Wie endet dieses Kräftemessen zwischen Zeit und Literatur?

Das Schöne ist ja, dass die bereits geschriebenen Gedichte der Grossmutter bleiben und dass so in ihnen auch die Stimme der Grossmutter weiterlebt. Der Schreibprozess kommt unweigerlich irgendwann zu einem Ende, das Geschriebene aber überdauert – so ist zumindest meine Hoffnung.

Zurück zur Flüchtigkeit: Wie kann Flüchtigkeit literarisch eingefangen werden?

Ich versuche die Flüchtigkeit in meiner Literatur nicht zu benenne, sondern heraufzubeschwören. Zum Beispiel, indem ich eine Autofahrt beschreibe, in der man Dinge vorbeiflackern sieht. Sie leuchten auf und verschwinden sogleich wieder. Ein anderes Instrument, das ich einsetze, sind Zeitsprünge, welche den Alterungsprozess der Figuren sichtbar machen. Du hast das Gefühl, gestern noch hättest du im Juniorenteam Fussball gespielt – dabei liegt das schon dreissig Jahre zurück. Seitdem ich Vater bin, ist auch die eigene Kindheit wieder präsenter geworden – manchmal sogar beinahe physisch fassbar. Diese Momente wollte ich festhalten und schauen, was das mit mir macht.

Also schreibst Du auch in erster Linie für Dich selbst und gar nicht unbedingt für ein Publikum?

Nein, ich schreibe immer mit dem Gedanken an ein Publikum. Ich will, dass die Leute meine Texte lesen und sich darin zum Teil wiedererkennen können. Literatur soll einen Moment des Berührtseins herstellen. Schreiben nur für mich, das scheint mir undenkbar. Dass ich aber Sätze bewusst umformuliere, um den Erwartungen des Publikums gerecht zu werden, kommt nicht vor. Vielmehr versuche ich der Geschichte, die erzählt werden will, gerecht zu werden.

Um noch einmal auf das zentrale Motiv der Vergänglichkeit zu sprechen zu kommen: Woher rührt Deine intensive Beschäftigung mit dem sich Verflüchtigenden?

Aufgrund eines Schreibstipendiums wohnte ich während drei Monaten auf dem Tübinger Stadtfriedhof, im ehemaligen Friedhofswärterhäuschen. Dort war ich quasi permanent von Toten umzingelt, was prägend war. Die Thematik der Vergänglichkeit beschäftigt mich aber bereits viel länger: Seit ich fünf oder sechs Jahre alt bin, habe ich eine Art Todesphobie. Die Einsicht, dass alle Dinge endlich sind, ist für mich manchmal kaum auszuhalten.

Trotz diesem düsteren Aspekt der Vergänglichkeit, wird in Flüchtiges Zuhause aber auch ein unglaublich idyllisches Familienleben geschildert. Soll das die Leser*innen gar etwas neidisch machen?

Nein, überhaupt nicht. Ich hatte einfach das Glück, inmitten einer lieben Familie aufzuwachsen. Trotzdem gibt es in den vorliegenden Erzählungen Stellen, die schwierige, ungerechte Dinge leise problematisieren – etwa die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Meine Grossmutter hat feministische Manifeste gelesen und über Jahre hinweg das Fehlen des Frauenstimmrechts angeprangert. Nicht plakativ, aber immer wieder möchte ich solche Momente in meinen Erzählungen spürbar machen.

Die Grossmutter hat ja auch immer eine Sehnsucht nach der weiten Welt ausserhalb des Dorfes. Hat die Beschaulichkeit eines Bergdorfes bisweilen etwas Beengendes?

Für mich hatte sie das nicht, obwohl man im Wallis der 70er Jahre relativ abgeschlossen von der Aussenwelt war. Aber in diesem kleinen, von Bergen umschlossenen Raum war immer auch die Möglichkeit einer anderen Welt präsent: Ich bin direkt an der Sprachgrenze aufgewachsen. Nach einer Autofahrt von zehn Minuten haben die Leute französisch gesprochen und in diesen Stimmen rückte plötzlich sogar Paris ganz nahe.

Du selbst bist zum Studium nach Iowa gegangen, aber dann auch wieder zurückgekehrt – unter anderem sogar auf die Alm, um Schafe zu hüten.

Ja, das war ein völlig verrücktes Unterfangen damals, dieses Pendeln zwischen den Welten. Die Schafe waren wieder bei ihren Besitzern im Tal und zwei Tage später flog ich nach Iowa. Und dort wurde mir bewusst, dass einem eine Landschaft tatsächlich auch physisch fehlen kann. Iowa ist völlig flach. Diese Bewegung des steilen Hinauf- und Hinuntergehens, das ich als Schafhirt täglich stundenlang getan hatte, hat mir in Iowa gefehlt. Ich war glücklich, als ich dann etwas ausserhalb der Ortschaft, wo ich damals wohnte, einen kleinen Staudamm entdeckte, den ich von Zeit zu Zeit erklimmen konnte.

Der Erzählband macht ja auch das sinnlich Erfahrbare sehr stark: Als Leser*in sieht man etwa das Bergpanorama ganz plastisch vor sich.

Ja, diese visuelle Komponente ist mir wichtig. Ich versuche mit Worten einen Raum erfahrbar zu machen. Wenn meine Hörer*innen mich nach einer Lesung ansprechen und erzählen, dass sie das Gefühl hatten, direkt mit mir durch die Berge zu gehen, freut mich das enorm. Beim Schreiben versuche ich mich so genau zu erinnern, dass ich das Gefühl habe, ich könnte mich mit geschlossenen Augen durch die beschriebene Landschaft bewegen.

Du schreibst ja unter anderem auch Spoken Word Texte. Wie unterscheiden sich diese von Deinen Texten im vorliegenden Erzählband?

Der Unterschied liegt primär in der Länge. Ausserdem erscheinen meine Spoken Word Texte immer in einer zweisprachigen Fassung. Einerseits auf Walliserdeutsch, andererseits auf Hochdeutsch. Auch Leute, die das Walliserdeutsch nicht sprechen, sollen so einen Zugang dazu erhalten. Die Herausforderung ist aber unabhängig vom Genre immer dieselbe: Wie kann ich einen emotionalen Kurzschluss zwischen Text und Leser*innen herstellen?

Flüchtiges Zuhause enthält ja durchaus sehr autobiographische Einflüsse. Während der Lesung hier in Solothurn, im Landhaussaal, wurde das ja bereits angesprochen. Du hast aber auch betont, dass es immer ein fiktionales Element gebe. Wie spielt das ineinander hinein?

Man kann bei meinen Erzählungen nie genau sagen, was erfunden ist und was sich wirklich zugetragen hat. Ich habe beim Schreiben auch plötzlich gemerkt, dass das eigentlich gar keine Rolle spielt. Hin und wieder bin ich geliebten Menschen in der Fiktion näher gekommen, als es mir in der Realität möglich war. Das Schreiben bot mir auch die Möglichkeit, mich von Menschen, die ich geliebt habe und die bereits verschwunden sind, noch einmal zu verabschieden. So lande ich automatisch in der Fiktion. Und in dieser Fiktion entsteht für mich auch jene Nähe, die vielleicht unter die Haut geht.